6548491-1947_29_01.jpg
Digital In Arbeit

Demokratie im Putsdiklima

Werbung
Werbung
Werbung

Die Hitze des Sommers scheint im Verein mit der Hitze nationaler Leidenschaften und der schwülen Ausweglosigkeit internationaler Beziehungen ein Treibhausklima zu erzeugen, in dem die ungesundesten Pflanzen des politischen Lebens wachsen können. Putschzeit: 15. Juli 1927 Brand des Justizpalastes; 25. Juli 1934 Putsch der Wiener Nationalsozialisten zur Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß; 19. Juli 1936 Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges; 25. Juli 1943 Mussolini wird durch seine Prätorianer gestürzt; Juli 1947: Massenverhaftungen von „Oppositionellen“ in vielen Staaten Europas, ferngelenkte Bandenkämpfe in Nordgriechenland. Gleichzeitig Anzeichen einer beschleunigten Aufrüstung der Links- und Rechtsextremisten in Italien; auch in Frankreich rüsten sich dieselben Gruppen zu entscheidenden Waffengängen; aus Deutschland liegen Nachrichten über unterirdische Organisationen vor...

Jeder Putsch und jeder Bürgerkrieg versucht, sich mit schönklingenden, an die Herzen appellierenden Begründungen der Freiheit, Gerechtigkeit und „wahren“ Demokratie zu rechtfertigen. Ein Beispiel: Am 19. Juli 1936 telephonierte Martinez Barrio, Präsident des spanischen Parlaments und stellvertretender Staatschef der spanischen Republik, mit General Mola, dem geistigen und politischen Führer der francistischen Bewegung. Barrio fleht Mola an, von der militärischen Erhebung Abstand zu nehmen, er verspricht ihm, „Ruhe und Ordnung“ im Lande sicherzustellen und eine feste Haltung gegenüber der Putschdrohung der extremen Linken. Der Herr General lehnt ab: nur die Armee könne dem Lande den Frieden geben, die Regierung sei unfähig, die Revolution zu meistern. Barrio bittet nochmals: Mola möge die Folgen bedenken, den Widerstand der Arbeiterschaft, es werde einen langen blutigen Krieg geben, so weit dürfe es nicht kommen Aber der Bürgerkrieg bricht aus, er kostet Spanien zwei Millionen Tote und die Vernichtung seines nationalen Reichtums. Heute noch, ein Jahrzehnt später, eitert unter dem Druck gewaltsam aufgeklebter Preßpflaster das Land aus vielen Wunden.

Bis zu den Tagen Mussolinis, Hitlers und Francos gab es in Europa, von charakteristischen Randzonen abgesehen, keine „Pro-nunciamientos“. Ortega y Gasset hat diese in Ibero-Amerika zur ersten Ausbildung und Vollendung gelangte typisch hispanische Methode des Putsches klassisch geschildert. Eines Tages werden an den Litfaßsäulen Plakate affichiert, „Proklamationen“. Ein General, „ein Führer“, hat die Macht übernommen, natürlich im Namen des „Volkes“ — und nun wird solange geshossen, justifiziert, verhaftet und drangsaliert, bis eine „gereinigte“ Volksvertretung den willigen politischen Apparat beistellt. Seit etwa einem Vierteljahrhundert aber steht auch Europa im Zeichen dieser Pronuncia-mientos, dieser Putsche. Jede größere außen-und innenpolitische Schwierigkeit, jede Wirtschaftskrise, jeder Bankkrach oder Gesellschaftsskandal, jeder Großstreik, ja nahezu jede sommerliche Schwüle beschwört zuerst einen Regen von Gerüchten und dann nicht selten die- Gefahr eines Gewitters, eines Staatsstreiches, herauf. Wir sind in das Zeitalter der Putsche und der Putschisten getreten.

Das tausendjährige Abendland kannte Revolutionen: mächtige, gleichermaßen soziologische wie geistige Bewegungen, die oft jahrhundertelang im Strombett der Nation anschwollen, bis sie Größe, Macht und mitreißende Kraft der „Revolution“ entfalten konnten. Von der Art' dieser Revolution war einst in Deutschland das Jahrhundert der Reformation und der Bauernkriege, in Frankreich die Revolution von 1789, in Rußland die Vorbereitung der großen russischen Revolution im 19. Jahrhundert. Ganz anders das Putschwesen der letzten Jahrzehnte. Seine Struktur kann, wenn wir ein „Rechts“-Beispiel nehmen wollen, am Falle Hitler eingesehen werden. Die „nationale Revolution“ in Deutschland 1933/34 war — und diese Erkenntnis ist für die Beurteilung unserer Gegenwart wichtig — der Putsch einer kleinen Clique, der es allerdings meisterhaft gelang, mittels einer großen Claque ihr Werk als „Massenerhebung“ zu tarnen. Wie? Wer je die Massenkundgebungen im Berliner Sportpalast, in Nürnberg und München sah, konnte der noch zweifeln am Volkscharakter der „nationalen Revolution“? Verhängnisvolle Verwechslung eines Schaubildes mit der Realität des tatsächlichen Kampfes um die Macht. Dieser spielte sich allein in zähem erbittertem Ringen einiger nominell kleiner, im Hintergrund stehender Cliquen ab. Hitler hatte in den entscheidenden Stunden seines Machtkampfes nicht mit den großen deutschen Parteien zu ringen, sondern nur mit einigen ehrgeizigen und tief verblendeten Naturen. Mit Generalen wie Schleicher, mit Industriebaronen und politischen Glücksrittern wie Hugenberg und Papen, mit den Junkern, die sich hinter dem „alten Herrn“ Hinden-burg versteckten. Die deutsche Demokratie, die deutsche Republik hatte sich, lange vor Hitler, bereits selbst aufgegeben, als sie die führenden Stellen ihres Staates Männern anvertraute, welche sich leider oft nicht als Vertreter des Volkes, sondern als Spieler ihrer sehr eigenwilligen und meist auch sehr eigensüchtigen politischen Interessen ansahen. Hitler wußte, mit wem er um die wirkliche Macht zu kämpfen hatte. Mit einem alten Herrn, mit einigen sehr von sich selbst eingenommenen Köpfen, hier konnten ihm seine Massen nicht helfen; diese mochten gut genug sein, die weiten Leerräume zu besetzen, jene Positionen der Öffentlichkeit, welche fiktiv gehalten, beziehungsweise nur schwach verteidigt wurden von den führungslosen Massen seiner Gegner. Zur wirklichen Macht verhelfen konnten ihm nur seine Gegner selbst: Hindenburg, Hugenberg, Schleicher und Papen.

Blicken wir nun, bevor wir die Lehren aus diesen Erfahrungen jüngster Geschichte zu ziehen suchen, nochmals auf einige der bereits vorher erwähnten Exempel. Im Juli 1934 wäre der nationalsozialistische Putsch in Österreich beinahe geglückt. Nach Liquidierung des Dollfuß-Kabinetts wäre die Macht im Staat in die Hände einer kleinen Gruppe übergegangen, hinter der weder die Massen der Bauernschaft noch die Massen der Arbeiterschaft gestanden wären... Im Juli 1936 begann der francistische Aufstand zu glücken, weil die Männer um Barrio — im Grunde nackte Einzelgänger der Demokratie — zu schwach waren, durch freundliche Reden die dynamitwerfenden asturischen Bergarbeiter und durch Telephongespräche die gegenrevolutionären Generale zu beschwichtigen.

Heute, 1947, herrscht in ganz Europa Putschklima, weil in manchen Staaten, mehr oder minder verdeckt oder offen, ein Abgrund klafft zwischen den offiziellen und nominellen Trägern der Staatsmacht und den breiten Massen des Volkes. Dort sind die Träger der demokratischen Regierungsgewalt heute wieder meist durchaus ehrenwerte, teilweise sehr edle und kluge Männer. Sie halten treffliche Reden im Parlament und Rundfunk, verhandeln mit aus- und inwärtigen Mächten, erscheinen in der Wochenschau und vielleicht auch auf Schallplatten, im Grunde aber agieren sie in einem luftleeren Raum. Höfliche Spieler am grünen Tisch, wissen sie nie, wann, wie und unter welchen Umständejj ihre Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen die Wirklichkeit, das Leben der breiten Massen, erreichen. Jedes öffentliche Amt wirkt an sich distanzierend, die Bürokratie isolierend vom Leben des Volkes. Dergestalt erscheinen die Amtsträger oft wie unter einem Glassturz mit der unsichtbaren Aufschrift „Nicht stürzen, nicht beunruhigen, nicht bei der Arbeit stören!“. Dieser Glassturz und sein Vakuum, das sie einwcVlbt, eilt nun gerade jenes fatale Fakttim dar, welches von allen Seiten magischmagnetisch die Trommler des Abgrundes anzieht. Diese Links- und Rechtsextremisten nahen sich zuerst als drohend-lockende Hornissen, welche schmeichelnd-dröhnend ihre Mithilfe bei der Erstellung von „Ruhe und Ordnung“ verheißen und um etwas Honig aus der Staatsschale werben — hinter ihnen aber schwirrt die Luft schon von den Bombengeschwadern ihrer zweiten Garnitur — den echten Putschisten und Bürgerkriegsmännern.

Wie kann die Demokratie sich gegen solch Putschgefahren wehren? Nur dadurch, daß sie selbst zur echten Demokratie wird. Das Schicksal Österreichs von 1933 und 1938, von Deutschland 1933, von Spanien 1936 und von so vielen Staaten der Gegenwart beweist nicht die „Schwäche“ der Demokratie, sondern vielmehr die Tatsache, daß es in allen diesen Ländern keine wirkliche Demokratie gegeben hat, beziehungsweise gibt. Bei einer echten, tiefen, inneren Bindung zwischen Volk, Staat und Staatsführung bleibt kein Spielraum, kein Leerraum frei für die Spieler des Abgrunds. Demokratie bedeutet ein im letzten intimbrüderliches Verhältnis zwischen den Männern der Staatsführung und dem Volke. Um nicht mißverstanden zu werden: dieses soll keineswegs durch äußere Demonstrationen der „Volksverbundenheit“ zum Ausdruck gebracht werden, ganz im Gegenteil, die grausame Jovialität Hitlers und Mussolinis — sie hat Ernst Jünger im Förster seiner „M a r m o r k 1 i p p e n“ unnachahmlich klar herausgestellt — ist nichts anderes als die ewigböse Biedermaske des Diktators, des „Volksfreundes“, der das Volk den Tribunalen seiner Henkerhorden überantwortet. Wohl aber' besagt es etwas anderes: echte Demokratisierung der großen Parteien! Wo die Wählermassen ihre Interessen durch eine scharf-umrissene klare und öffentlich einsichtige Politik ihrer Partei und ihrer Parteiführer vertreten sehen, dort werden sie auch personal und kollektiv-persönlich und geschlossen für diese eintreten. Wo die Parteiführungen sich jedoch auf eine Arkanpolitik verlegen, auf das Cliquenwesen kleiner und kleinster Führungsgruppen, wo sie dergestalt selbst ihre Anhängerschaft in eine unwissende Claque verwandeln, welche gut genug ist, im Vordergrund für ihre Politik des Hintergrunds kämpfen zu dürfen, dort dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie eines Tages allein stehen und im entscheidenden Endkampf um die Macht, von den offenen Gegnern der Demokratie — ihrer „Demokratie“ — überwältigt und übermachtet werden! Die Scheindemokratie der letzM ten zwanzig Jahre, in vielen Ländern aus vielen verschiedenen Wurzeln erwachsen, ist der Nährboden aller Putsche, Staatsstreiche und Unruhen, welche Europa nicht zur Ruhe kommen lassen! Diese Scheindemokratie hat eine echte - Bindung zwischen Staatsführung und Volk und damit die Konstituierung einer neuen staatstragenden Gesellschaft verhindert, sie hat durch innere Unsicherheit und Schwäche wohl die Positionen der alten staatstragenden Schichten, des Bürger-, Beamten- und Bauerntums erschüttert, sich aber außerstande gezeigt, selbst aus den Massen der Gegenwart soziologisch und geistig, politisch und kulturell eine neue Gesellschaft ein neues Staatsvolk zu formen. „Westliche“ Demokratie? „östliche“ Demokratie? Nur jene Form wahrhaft erneuerter Demokratie kann und wird das weltgeschichtliche Rennen gewinnen, welche eine neue Gesellschaft, eine echte innere Bindung zwischen Staat, Staatsführung und Volk auf durchaus neuer Grundlage erstellen wird.' Erst der Aufgang dieser Demokratie wird das endgültige Ende .des Putschzeitalters bringen.

Und Österreich? Mitten hineingestellt in den großen Gärungsprozeß Europas, hat es seine Aufgabe zu erfüllen, seinen Beitrag zu leisten: in zäher Arbeit die Demokratie aufzubauen, die Volk und Staatsführung innerlich verbindet und zu großen Leistungen befähigt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung