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Denaturierung der Parteien

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Jede Partei ist ein dynamisches Gebilde. Die Dynamik zeigt sich nicht allein in der kontinuierlichen Wandlung der organisatorischen Struktur, sondern mehr noch im Wechsel dessen, was man als „Parteigesinnung“ zu bezeichnen pflegt. Für die Parteien unseres Landes ist charakteristisch, daß sie sich — von der ferngelenkten KP abgesehen — in einem steigenden Umfang gegenüber jenen Ideen emanzipieren, die sie in ihren Ursprüngen bestimmt hatten. Der Prozeß dieser Emanzipation führt jedoch nicht zu neuen „Parteigesinnungen“, sondern zu einer „Entideologisierung“ der Parteien, zur Distanzierung von Ideen an sich. Die „Entideologisierung“ ist bei Regierungsparteien ungleich stärker als bei Parteien der Opposition, da sie oft und oft ihre Ideen gegenüber staatspolitischen Sachverhalten adaptieren müssen. Anders die Opposition. Sie vermag weithin noch den Status „kindlicher Unschuld“ zu bewahren, fern von den harten Wirklichkeiten des politischen Kompromisses, das Ideale und Illusionen bedroht. Eine Partei, die nicht in Verantwortung genommen ist, kann also ihr „Gesinnunsrsspiel“ in Reinheit betreiben und die Politik ils ein zuvorderst weltanschauliches Engagement betrachten.

Die Neigung der Parteien in Österreich, sich gegenüber den Ideen der ersten Stunde zu distanzieren — nennen wir diese Ideen „Christliche Demokratie“ und „Demokratischen Sozialismus“ —, zeigt sich in zweifacher Weise:

• einerseits als weltanschauliche „Öffnung“ nach fast allen Seiten. Dabei ergibt sich eine außerordentlich große Bandbreite an Gesinnungen innerhalb einer Partei, die als Ganzes eine Einheitsgesinnung, eine Gesinnung des „von —bis“, reduziert auf eine oft unverbindliche Formel, als uniforme Marke präsentieren muß.

So weiß man heute kaum zu sagen, welche weltanschauliche Gruppen die SPÖ nicht zu rezipieren und für sich zu reklamieren vermöchte. Die, „Gastlichkeit“ der SPÖ ist derart ostentativ geworden, daß sie bisweilen das Risiko eingeht, sogar auf Stammwähler verzichten zu müssen, um ja nicht den belastenden Schein der Orthodoxie — eine bisher unlöschbare Hypothek — zu erwecken. Der Arbeitnehmerflügel in der SPOe wird von Wahletappe zu Wahletappe schwächer und kann sich kaum mehr des bürgerlich-liberalen Flügels erwehren. Die klassischen Vorstellungen, die bisher hinsichtlich der Struktur einer sozialistischen Partei bestanden hatten, finden jedenfalls in der Parteiwirklichkeit der SPÖ von 1962 kaum mehr eine Deckung.

• Die weltanschauliche Denaturierung der Großparteien ist vor allem durch die Betonung und Überbetonung des Sachlichen, durch einen Pragmatismus im Vollzug der Parteitätigkeit, angezeigt. Fragen der europäischen Integration, der Änderung der Abgabenordnung und der Verstärkung der

Kapitalbasis haben in den parteiinternen Auseinandersetzungen mehr Gewicht als jene Thesen, die ehedem zum festen Katalog der weltanschaulichen Dispute von Sozialisten gehörten. Die Ausfälle von Spaak auf dem Kongreß der EWG-Gewerkschafter gegen die Assoziierungsversuche waren ausschließlich mit ökonomischen, ja

mit „kapitalistischen“ und imperialistischen Argumenten unterbaut, pro-tektionistisch, isolationistisch, alles, nur nicht vom Geist eines übernationalen Sozialismus bestimmt.

Die „Zukunft“ hat schon begonnen ...

In einem bemerkenswert offenen Artikel setzte sich jüngst einer der Theoretiker des Altsozialismus in Österreich, Jacques Hannak, im wissenschaftlichen Zentralorgan der SPÖ („Die Zukunft“ vom Dezember 1961J mit der Verkümmjrung des Glaubensgutes in seiner Partei auseinander. Im „Nichtberuf unserer Zeit für Ideologie“ sieht Hannak einen Index für die Hebung des allgemeinen „Lebensniveaus“. Das könnte — marxistisch interpretiert — zur Annahme verleiten, daß die Sozialisten in jenem Maß den Glauben an den Marxismus, an die Gültigkeit seiner Prophetie verlieren, in dem sich dieser im Rahmen der Realisierung seiner Postulate selbst liquidiert. Wozu Glaube an eine Verheißung, an ein „Endreich“, wenn die Dinge, die in diesem Endreich den Raum füllen sollen, schon in der Gegenwart verfügbar sind? Jedenfalls sieht Hannak im Sozialismus, wie er sich ihm in der SPÖ darbietet, eine „Frigidität“, eine Erstarrung der „Lust“ am Theoretisieren, das aber notwendig zu einer Weltanschauung gehört, die sich bisher als eine „wissenschaftliche“, als die einzigartige Interpretation des Wirklichen, als Weg zu seiner Beherrschung verstanden hat.

Wollen es die Wähler nicht anders?

Ähnliches wie Hannak in Freimut und ungehindert von Zensoren für die SPÖ feststellen kann, ist auch zu sehen, wenn man die ÖVP zum Gegenstand unvoreingenommener Betrachtung macht. Es gibt Situationen, in denen sich die ÖVP eindeutig nur als eine Kooperation von Bünden versteht. Nicht von Gesinnungsbünden, wohl aber von Interessentenbünden, die bemüht sind, für ihre Mitglieder zuvorderst eine Steigerung oder Sicherung von Einkommen zu erreichen. Am wenigsten gilt diese Feststellung für den ÖAAB, der noch wesentliche Merkmale der alten Christlichsozialen Partei an sich trägt. Im Sinn der Terminologie der politischen Soziologie ist jedenfalls die ÖVP eine „mittelbare Partei“, eine Föderation von je für sich relativ unabhängigen Wirtschaftsparteien, die lediglich durch bestimmte Grundvorstellungen über die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft auf eine abstrakte Einheitsformel eingeschworen sind.

Die Ursache für das, was wir „Entideologisierung“ der Parteien nennen, das Vorherrschen des Pragmatismus in der parteipolitischen Praxis, sind in der

Natur aller Parteien angelegt. Es ist ein unbilliges, wenn nicht utopisches Verlangen, wollte man eine Partei nur auf die Durchsetzung „reiner“ Ideen verpflichten, über deren Gestalt in der Realität des täglichen Lebens man ohnedies nur unzureichende Vorstellungen hat. Nie war eine Partei auf längere Dauer lediglich eine abstrakte Gesinnungsgemeinschaft, kaum im Untergrund, erzwungen in der Opposition, nie, wenn in staatspolitische Verantwortung genommen. Sollten sich Ideen und politische Praxis decken, mußten sich, so gut wie stets, die Ideen der Praxis weitgehend anpassen.

In Österreich geht freilich der jeweilige (nächste) Wahlkampf, auf den hin jede Parteiarbeit angelegt ist, nicht wie in den uns als „Vorbild“ hingestellten USA um die Erbeutung oder Sicherung des ganzen bürokratischen Apparates. Nach dem Spoil-System werden die Posten in der staatlichen Verwaltung der USA die Beute des Siegers. Anderseits werden aber Parteien nicht allein gewählt, weil man in ihnen die Chance sieht, Ideen im politisch-gesellschaftlichen Raum durchzusetzen, sondern auch, um mit ihrem

Einfluß auf das Ganze von Staat und Gesellschaft handfeste ökonomische und soziale Vorteile zu erzielen.

Für viele in allen Parteien ist heute eine Partei („ihre“ Partei) eine organisierte Vielfalt von Möglichkeiten, um höchst private Einkünfte zu erzielen oder um Prestigesehnsüchte befriedigen zu können. Wie nachdrücklich die

Befriedigung der Prestigemacht vor allem von den Damen so mancher Politiker begehrt wird, haben wir aus der Geschichte der „Gesellschaft“ der Zweiten Republik erfahren.

Soll man einer Partei zumuten, ein Verhalten zu zeigen, das sie etwa für jene, die über die Politik mehr Einkünfte erzielen wollen, nicht begehrenswert macht? Die Handlungen der Parteien sind nun einmal auf die Maximierung der Wählerstimmen abgestellt. In einem gewissen Sinn müssen also die Parteien die Wünsche ihrer Anhänger reflektieren. Insoweit sind sie Dienstleistungsunternehmen besonderer Art. Wenn es offenkundig ist, daß die Wähler so gut wie kein Interesse daran haben, wenn sich die Parteien allzusehr in Fragen der Weltanschauung engagieren, muß eine Partei diesem Verlangen irgendwie Rechnung tragen, wobei es freilich auf das „Irgendwie“ ankommt. Derzeit wird nun von den Parteien weder die „Prophetie“ des orthodoxen Marxismus noch der „Verweis auf die Offenbarungswahrheiten“ oder auf die „Nation“ allzusehr „gefragt“. Es ist daher unfair, alle Verantwortung für die „Entideologisierung“ der Parteien allein diesen anzulasten. Nicht so sehr die Parteien sind in der Gegenwart „materialistisch“, sondern ihre Wähler sind es, die aber in den Parteien die Vollzugsorgane ihrer nun einmal sehr weltlichen Wünsche sehen. Jedenfalls fällt es den Parteien auf die Dauer schwer, demonstrativ Ideen zu „verkaufen“, an deren Realisierung die Massen der Wähler (der „Käufer“) nicht allzuviel Interesse haben.

Die Feststellung dieses Sachverhaltes soll nicht seine Billigung bedeuten, aber anderseits einen Teil der Vorwürfe gegen die Parteien auf jene zurückgeben, die mit Nachdruck von den Parteien vor allem die Erfüllung sehr konkreter persönlicher und durchaus materieller Wünsche verlangen.

In einem gegenläufigen Prozeß werden nun die Anwälte von weltanschaulich fixierten Gruppen in den Führungsgremien der Parteien durch die Manager der Interessentenverbände abgelöst, wenn sie sich nicht selbst zu solchen wandeln. Die Parteien werden daher in einer augenfälligen Weise zu „Anwaltsparteien“, wobei die Anwälte einen Teil ihrer Arbeiten von Gruppen aufgetragen erhalten, die sich außerhalb der Parteien befinden. Wie immer nun diese Gruppen firmleren, welche „Ideen“ sie immer auf den Firmenschildern vor sich hertragen: Zuvorderst wollen sie, daß die ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder von der oder von den Parteien vertreten werden. Je dichter der Haufen der Interessenten sich in den Vorhöfen der Parteien sammelt, um so weniger sind diese Herr ihrer Entscheidungen und um so mehr sind sie, weil unter

Drohung und Druck handelnd, verpflichtet, auch auf jene zu hören, die mit drohend erhobenen Fäusten Erfüllung ihrer „weltlichen“ Wünsche verlangen.

Aus der besonderen Situation in Österreich hat sich außerdem eine Konvergenz, eine Annäherung der beiden Großparteien in Gesinnung und

Habitus, herausgebildet. Eine „Ver-nunftehe“ von 16 Jahren hat die Partner zu unterschiedlichen Anpassungen verpflichtet, zu Abstrichen von der jeweiligen Grundgesinnung. Um des lieben Friedens willen. Aber auch aus Einsicht. Der Koalitionspakt — wie jeder Ehekonsens — spricht den Partnern das Recht ab, allzuoft ein eigenes Gesicht zu zeigen. Die einen haben nun viel Wein in ihr Wasser und die anderen viel Wasser in ihren Wein gegossen. Auf diese Weise ist ein „Gesinnungsverschnitt“ entstanden, von dem aus man kaum mehr auf die ursprüngliche Qualität der „Ware“ schließen kann.

Die Folgen

des geschilderten Prozesses einer Verdünnung der Grundgesinnung der Parteien zeigt sich augenfällig in der Tatsache, daß die Parteien sich zu „Platt-

formparteien“ entwickeln. Darunter versteht man Parteien, die zwar an sich bestimmte Ideale haben, in der Praxis aber vor allem mit Nahzielen und mit konkreten Forderungen arbeiten, um auf diese Weise eme anziehende „Plattform“ für unterschiedliche IrAeressentengruppen zu bilden.

„Freund und Feind sagen das gleiche und unterscheiden sich nur durch die Lizitation der materiellen Belange.“ So Hannak. Auf den kostspieligen Luxus eines „ideologischen Überbaues“ wird verzichtet.

Das ist aber nicht durchweg so. In einzelnen Situationen, in denen sich

die Parteien noch den Prinzipien ihres Ursprungs verpflichtet fühhn, sind weltanschauliche Unterschiede wohl noch festzustellen. Als Beispiel für diese Behauptung mag auf die vor einiger Zeit abgeschlossenen Schulverhandlungen verwiesen werden. Die Art des Kompromisses könnte freilich auch vermuten lassen, daß sich die weltanschaulichen Gegensätze erheblich verringert haben. In welch anderer Atmosphäre hätten etwa Schulverhandlungen zwischen den Sozialisten stattgefunden,: die noch aus der Gesinnung der Männer des Hainburger Programms sich bestimmen ließen, und den Konservativen der k. u. k. Monarchie. Die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, noch in der Ersten Republik Gegenstand erregter und erregender Dispute im Hohen Haus, sind von den Parteien an den Rand verwiesen.

Öffnung oder Kapitulation

Anderseits ist unverkennbar, daß sich die Streitgespräche der Weltanschauungen nunmehr im politischen Vorfeld vollziehen. In der Bundesrepublik ist dies bereits merkbar. So hat sich dort beispielsweise ienseits der Parteien und quer durch diese ein „humanistischer Atheismus“ konstituiert, für den sich ex offo zu engagieren keine der Parteien große Lust zeigte. Der Atheismus neuer Form findet anderseits seine Vertreter sowohl in den liberalen Kreisen der CDU wie in der SPD und in der FDP, ja sogar wohlwollende Befürworter bei den links von den Sozialisten befindlichen „Ganz-links-Katholiken“, die freilich in der bundesdeutschen Ausgabe kaum mehr sind und sein wollen als eine intellektuelle Spielerei (siehe „Furche“ 1/1962). Wo es aber in der politischen Praxis noch um wesentliche weltanschauliche Fragen geht, sind die Parteien nicht selten geradezu demonstrativ gespalten, auch wenn sie nach außen hin das Einheitsgesicht zu wahren suchen. Wie erstaunt war die auf alte Vorstellungen eingeschworen gewesene große Öffentlichkeit, als vor einiger Zeit auf einem Parteitag der SPÖ der Katholik Tschadek und der Austroatheist Weikhart einander in einem Streitgespräch gegenübertraten. Wie weltanschaulich uniform waren dagegen die Dispute auf den Parteitagen der Sozialdemokraten vor 1918, wenn man sie in der fünfbändigen „Geschichte der öste-reichischen Sozialdemokratie“ von Brügel nachliest.

„Öffnungen“ zu Wahlzeiten

Der Wahlkampf 1962 wird die Parteien vorübergehend zwingen, sich wieder einmal deutlicher voneinander abzuheben. Keine Partei hat eine vorweg gesicherte Wählerschicht. Es gibt nicht mehr die gesellschaftliche Großgruppe

des „Proletariats“, deren Angehörige sich nur durch die Sozialdemokraten vertreten wußten. Auch das Bürgertum glaubt sich nicht mehr von jeder Form des Sozialismus bedroht. Die Parteien müssen daher in einem von Wahl zu Wahl steigenden Umfang ihre Wähler auf dem „freien Markt“ gewinnen. Die würdelose devote Verneigung der Großparteien vor den ehemaligen Nationalsozialisten hat die besten unter diesen kaum für sie geneigt gemacht, wohl aber die Form eines geradezu demonstrativen Abbaues jener Grundgesinnung angenommen, auf die nach den Wahlen stets eifrig und beschwichtigend hingewiesen wird. Zusammen mit der wahrscheinlich unvermeidbaren Ökonomisierung des Politischen kann das Feilbieten der Gesinnung gegenüber jenen Wählern, die man durch Öffnung nach rechts zu akquirieren sucht, zu einer völligen Verstümmelung der Parteien führen und diese auf den Rang von Wirtschaftsparteien reduzieren. Man wird dann diese oder jene Partei, lediglich vom nackten Interesse bestimmt, wählen. Oder die Parteien versuchen weiterhin, „allen alles“ zu sein. Dann aber werden sie unernst; sie zu wählen wird von Menschen, die gesinnungsmäßig bestimmt sind, kaum als Pflicht empfunden.

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