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Der „aufgewertete“ Vizepräsident

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Auch erweckt Johnson den Verdacht, in der Ausübung seiner Macht von sadistischen Anwandlungen nicht frei zu sein. Bis zum allerletzten Augenblick ließ er Hubert Humphrey in Angst und Bangen, ob er ihn zum Vizepräsidenten nominieren würde. Jedoch begegnet er der Kritik an seiner Behandlung Humphreys damit, daß er im Interesse der Einigkeit der Partei das Ausmaß etwaiger feindseliger Strömungen gegen Humphrey feststellen wollte. Diese kämen aber erst im letzten Moment an die Oberfläche.

Außerdem hätte er sichergehen wollen, daß er und Humphrey die gleiche Vorstellung von den Aufgaben des Vizepräsidenten hatten. Johnson möchte nämlich die von Eisenhower begonnene und von Kennedy verstärkte Aufwertung dieses früher unbedeutenden Amtes fortsetzen. Man kann sich schwer vorstellen, daß der ehrgeizige Humphrey damit nicht einverstanden gewesen wäre.

Da nun das amerikanische Volk eine Vaterfigur der eines großen Bruders vorzieht, liegt in Johnsons Eigenschaften eine Gefahr für seine Wiederwahl. Jedoch, ebenso wie ihm die Begeisterung, die Goldwater erweckt, versagt bleibt, wird ihm der Haß erspart, der dem letzteren entgegenschlägt.

Wenn man an Humphreys Vergangenheit haften bleibt, erscheint es merkwürdig, daß er zum Vize präsidenten ausersehen wurde. Gegenüber der die Bevölkerung spaltenden Wahlstrategie Goldwater projiziert Johnson Maßhalten, Versöhnung und Harmonie. Goldwater folgt Kennedy, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Johnson verharrt auf der traditionellen Politik des „consensus“ (die Übereinstimmung beider Parteien in prinzipiellen Fragen). In eine solche Strategie scheint der streitbare Humphrey, einer der Begründer der Americans for Democratic Action, einer Organisation, die die Reaktionäre ebenso verschreckt wie die John-Birch-Gesellschaft alle anderen, nicht hereinzupassen.

In seiner ersten Kandidatur für den Senat, 1948 — vorher war er für drei Amtsperioden Bürgermeister von Minneapolis gewesen —, trat er mit solcher Vehemenz für die Gleichberechtigung ein, daß er zur vorübergehenden Absplitterung der südlichen Demokraten beitrug. Nach seiner Wahl machte er sich bei seinen Kollegen unbeliebt, indem er die Regel, daß ein frischgebackener Senator gesehen, aber nicht gehört werden soll, verletzte. Er rannte solange mit dem Kopf gegen die konservative Mauer des Senates, bis er einsah, daß sie stärker war. Darauf wählte er Lyndon Johnson als Mentor und erlebte einen steilen Aufstieg. Er wurde zum Miturheber wichtiger Maßnahmen, nicht zuletzt solcher, die internationale Beziehungen betreffen.

Seitdem macht der jetzt 52jäh- rige Senator jenen geistigen Alterungsvorgang durch, der Weltverbesserer zu Anhängern des Status quo werden läßt. Sein neuer Leitsatz ist: „Ich bin kein Theologe, sondern ein Politiker.“ Der frühere Feind des Großkapitals schreibt in einem kürzlich herausgekommenen Buch: „Größtenteils sind die Groß- untemehmungen eine Quelle der Kraft und der wirtschaftlichen Vitalität.“

Humphrey bringt also Johnson den liberalen Firnis zu, den die Kennedy-Anhänger verlangen, ohne daß damit die mühsam erworbene Unterstützung der Geschäftsleute aufs Spiel gesetzt wird. Wie wichtig die letztere ist, geht daraus hervor, daß führende Unternehmer, die bisher Republikaner waren, ein Komitee für die Wahl Johnsons gegründet haben. Zu den fünfzig Gründern gehört ein ehemaliger Finanzminister Eisenhowers.

Johnson und Humphrey ähneln siah in ihrer unbändigen Energie, in ihrer Redseligkeit — Humphrey bringt es fertig, 250 Worte pro Minute herauszusprudeln — sowie darin, daß sie zum politischen Zentrum, wenn auch aus verschiedenen Richtungen, gefunden haben. Sie ähneln sich auch darin, daß John F. Kennedy ihren Ambitionen eine anscheinend unübersteigbare Grenze gesetzt hatte. In dem Rennen um die Präsidentschaft überrundete er Humphrey in den Vorwahlen, Johnson auf dem Parteikongreß. Beiden Männern wurden damals schwere Wunden geschlagen. Obwohl den pragmatischen amerikanischen Politikern der Begriff der Rache im allgemeinen fremd ist, ist es nicht unmöglich, daß bei Johnsons Behandlung Robert Kennedys ein Element der Rache mitspielt. Dagegen hält niemand Humphrey für rachsüchtig.

Ein vorsichtiges Programm

Dag vorsichtige, beinahe denaturierte demokratische Parteiprogramm ist ganz und gar auf die Herstellung des „consensus“ abgestimmt. Die „New York Times“ bedauerte es, daß das Programm den prinzipiellen Konflikt zwischen den Parteien verschleiert, statt ihn scharf herauszuarbeiten. Die Zeitung meint, die Demokraten versuchen, „zu versöhnen, statt zu überzeugen“. Sie hätten einen denkbar schlechten Zeitpunkt gewählt, „um Plattheiten leise zu murmeln“. Zweifellos hätte John F. Kennedy Goldwaters Fehdehandschuh gerne aufgegriffen, weil er eine Konfrontation zwischen Fortschritt und Rückschritt anstrebte. Überhaupt möchte man meinen, daß angesichts der Aggressivität der Gold- water-Bewegung die Offensive die beste Defensive sei. Anderseits spricht bei der Tendenz des Wählers, prinzipielle Streitfragen auf einen persönlichen Nenner zu bringen, sowie angesichts der konservativen Strömung unter den besser situierten Wählern auch manches für eine Verlagerung des Konflikts.

Übertriebener Optimismus

Nach dem Demokratischen Parteitag überschlagen sich die gewerbsmäßigen Demoskopen in den Voraussagen eines überwältigenden Sieges Johnsons. Angesichts der Gefährlichkeit übertriebener Wählerbefragungen für das Funktionieren der Demokratie wäre eine gehörige Blamage dieser Herren ein Pluspunkt eines Sieges Goldwaters.

Die Demokraten hören zwar gerne die frohe Botschaft, aber glauben sie nicht ganz. Der bekannte Journalist James Reston schreibt, noch nie habe eine Partei gleichzeitig so viele Anhänger und so viele Skeptiker gehabt wie die Demokratische Partei in diesem Augenblick. Die Gründe dafür sind mannigfach. John Kennedy ist ein Mahnmal für die Ungewißheit alles Planes. Die Gewerkschaften, deren Unterstützung so gewichtig war, solange sie arm waren, sind jetzt saturiert und gespalten. Die früher so mächtigen Parteiführer in den Großstädten haben einen Großteil ihrer Macht eingebüßt, und der einstmals solide demokratische Süden ist nicht mehr solide. Schließlich gibt es vom Gipfel nur einen Weg, hinunter.

In Hintergrund geistern nicht nur die, anscheinend unaufhörlichen, Rassenkrawalle, sondern auch Vietnam. Es sieht so aus, als ob sich die Regierung noch vor den Wahlen entscheiden muß, ob sie „die größte Niederlage der USA in diesem Jahrhundert“, als die sie der zwar gut unterrichtete, aber immer etwas schwarzseherische Joseph Alsop bezeichnet, hinnehmen oder einen unbegrenzten Krieg in Asien riskieren wird. Ironischerweise spricht manches dafür, daß, wenn Goldwater diese Wahl treffen müßte, er sich, trotz seiner Kraftmeierei, zurückzöge, während Johnson den Krieg riskieren wird. Dabei ist es hauptsächlich Schuld der Regierung, wenn der Wähler überhaupt auf einen Rückzug sauer reagiert — an und für sich ist ihm Vietnam ziemlich egal. Er wurde nämlich andauernd durch die bombastischen und leichtfertigen Siegesversprechungen irregeführt.

Korrektion des Überschwangs

Unter diesen Umständen verdient eine Analyse der Zeitschrift „Newsweek“, die versucht, den Überschwang der Demoskopen zu korrigieren, Beachtung. Ihre Untersuchung ist deshalb viel gründlicher als die der Meinungsforscher, weil sie nicht nur die gegenwärtige Stimmung im Volk berücksichtigt, sondern auch Imponderabilien, wie die Tradition der verschiedenen Staaten, die Stärke der beiderseitigen staatlichen Parteiorganisationen, die Registrierung von Neuwählern, das Gewicht örtlicher Fragen usw. Staat nach Staat wurde von „Newsweek“ mit politischer Akribie abgeklopft. Das Ergebnis? Ein knapper Sieg des Präsidenten.

Zwölf Staaten mit 147 Stimmen im Wahlkollegium werden ihm als sicher zuerkannt; 14 Staaten mit 165 Stimmen neigen in diesem Augenblick zu ihm. Das wären insgesamt 312 Stimmen oder 42 mehr als zum Sieg notwendig. Goldwater kann dagegen nur auf vier Staaten mit 33 Stimmen unbedingt zählen. Er wird in 18 Staaten mit 152 Stimmen begünstigt. Drei Staaten mit insgesamt 41 Stimmen sind für beide Konkurrenten völlig ungewiß.

Interessanterweise meinen Politiker beider Parteien, nicht Goldwaters reaktionäre Ideen, sondern der Eindruck, er sei ein Kriegstreiber, gebe den Ausschlag für seine Niederlage. Bei einer so knappen Niederlage hätte Goldwater sehr viel mehr erreicht als, mit Ausnahma Eisenhowers natürlich, ein liberaler Republikaner vor ihm. Damit wäre seine Herrschaft über die Republikanische Partei zementiert, und die Auswirkungen auf das öffentliche Leben der Vereinigten Staaten wären bedeutend.

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