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Der Bär kann gefahrlich werden

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Im Vorfeld der russischen Parlamentswahl am 17. Dezember wettern Kommunisten gegen den Westen. Wird Moskau wieder für uns bedrohlich?

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Im Vorfeld der russischen Parlamentswahl am 17. Dezember wettern Kommunisten gegen den Westen. Wird Moskau wieder für uns bedrohlich?

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Witalij Sewastjanow, kommunistischer Abgeordneter im russischen Parlament, ist Patriot. Und als ehemaliger Kosmonaut hat er einen Blick fürs Globale. Deshalb sieht er auch genau, wer der Hauptfeind seines Landes ist. Die NATO nämlich, die Bußland durch ihre geplante Osterweiterung heute mehr denn je bedrohe, tönte der hochdekorierte „Held der Sowjetunion" kürzlich bei einer Bußland-Enquete des Wiener Renner-Instituts (dazu siehe Interview Seite 9). Die Außenpolitik der derzeitigen russischen Führung verrate die Lebensinterres-sen Rußlands und müsse daher radikal geändert werden. Die von Präsident Boris Jelzin und Außenminister Andrej Kosyrew betriebene Zusammenarbeit mit dem Westen sei zu beenden. Vielmehr solle Rußland versuchen, einen Block mit China und Indien zu bilden, erklärte Sewastjanow gegenüber der FURCHE. Solche Aussagen haben derzeit in Rußland Konjunktur. Die Kommunistische Partei Rußlands, deren Führung Sewastjanow angehört, hat gute' Chancen, bei den Wahlen am 17. Dezember stärkste Fraktion in der Duma, dem russischen Parlament zu werden.

Auch ein möglicher Koalitionspartner ist bereits in Sicht: Der „Kongreß russischer Gemeinden". Seine führenden Politiker sind der Rüstungsmanager und ehemalige Jelzin-Mitarbeiter Jurij Skokow sowie der Ex-Befehlshaber der russischen Truppen in Moldawien. General Alexander Lebed. Letzterer hatte im April einiges Aufsehen erregt. Wenn die NATO sich nach Osten ausdehne, werde das den Dritten Weltkrieg zur Folge haben, schwadronierte der populäre Offizier damals. Mit dem Westen zusammenzuarbeiten, gilt für Lebed ebenso wie für den als künftiger Ministerpräsident gehandelten Skokow geradezu als Pakt mit dem Teufel.

Der Wiener Politikwissenschaftler Hans-Georg Heinrich, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der zentralen Wahlkommisssion Rußlands, warnt allerdings davor, den Einfluß der Duma auf die russische Außenpolitik zu überschätzen. Die Außenpolitik ist in Rußland primär Sache des Präsidenten und seines Apparats. Die Duma könne bestenfalls beratend wirken, aber keinerlei Entscheidungen treffen, erläutert Heinrich.

Daß eine kommunistische Mehrheit im russischen Parlament die Außenpolitik des Landes völlig um gestalten könne, sei daher illusorisch.

Ähnlich argumentiert der Rußland-Experte des Laxenburger Instituts für Internationale Politik, Gerhard Mangott. Nicht eine mögliche kommunistische Mehrheit in der Duma sei das Problem der russischen Außenpolitik. Vielmehr fehle Moskau seit dem Zerfall der Sowjetunion ein einheitliches und allgemein akzeptiertes außenpolitisches Konzept.

Zwar scheint das vorrangige Ziel klar, Rußland versucht, seine Vorherrschaft im Raum der ehemaligen Sowjetrepubliken sicherzustellen. Als Indiz dafür gilt vor allem die Aufstellung der kampfstarken 58. Armee im Nordkaukasus. Daß Rußland damit bestehende Rüstungsbegrenzungsabkommen verletzt, wird bewußt in Kauf genommen. So erklärte der Oberbefehlshaber der russischen Landstreitkräfte, Generaloberst Wladimir Semjonow, die Sicherheitsin-teressen seines Landes erforderten die Aufstellung der 58. Armee, internationale Verträge hin oder her.

Generell versucht Rußland weltweit, seine eigenständige Rolle stärker zu betonen. So nehmen Russische Truppen am NATO-Einsatz in Bosnien teil, unterstehen jedoch nicht dem gemeinsamemOberkommando.

Ihr Befehlshaber kann die Teilnahme seiner Streitkräfte an NATO-Operationen verweigern, wenn diese den politischen Interessen Bußlands zuwiderlaufen. Auch die kürzlich aufgenommene Militärkooperation mit Israel gilt als Versuch, eine selbständige Position als Großmacht zu entwickeln.

Unklar ist allerdings, wer die außenpolitische Position Rußlands verbindlich formuliert. Eine ganze Reihe konkurrierender Institutionen versucht, ihre Ausbildung als die offizielle Haltung Moskaus durchzusetzen.

So etwa das Außenministerium unter Andrej Kosyrew, der vielen russischen Politikern als zu nachgiebig gegenüber dem ungeliebten Westen erscheint. So auch das Verteidigungsministerium, dessen Leiter, General Pawel Gratschow, als einer der führenden Köpfe der Tschetschenien-Invasion vom Dezember 1994 gilt. So nicht zuletzt die verschiedenen Sicherheitsdienste Rußlands, allen voran der Auslandsaufklärungsdienst, der vom ehemaligen Gorbatschow-Vertrauten Jewgenij Primakow geleitet wird.

Dazu kommt der immer mächtiger werdende Sicherheitsrat Rußlands, der im Mai 1992 von Präsident Boris Jelzin ins Leben gerufen wurde. Unter seinen Mitgliedern sind die Leiter der „Machtministerien" (Äußeres, Inneres, Verteidigung) ebenso wie die Chefs der wichtigsten Sicherheitsdienste und die Präsidenten beider Parlamentskammern, der Duma und des Föderationsrates. Mit dieser Fülle an Machtträgern in seinen Beihen hat der Sicherheitsrat eine Position erlangt, die der des ehemaligen sowjetischen Politbüros sehr nahe kommt, wie Rußland-Experte Mangott formuliert.

Die Einmischung all dieser Institutionen erzeugt Unklarheiten, die auch dadurch nicht beseitigt werden, daß in letzter Instanz der Präsident persönlich entscheidet. Im Gegenteil. Jelzin ist längst selbst zum Risikofaktor geworden.

Denn erstens pendelt der Präsident „nur noch zwischen Wodka- und Infusionsflasche", wie kürzlich ein russischer Parlamentsabgeordneter konstatierte. Zweitens gerät Jelzin auch politisch zunehmend unter Druck.

Der einstige Politstar ist nicht nur krank, sondern auch unpopulär. Daß er die Präsidentenwahl im kommenden Jahr gewinnt, halten Experten für unwahrscheinlich. Jüngste Umfragen sehen Jelzin abgeschlagen hinter Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin und selbst dem Rechtsaußen Wladimir Schirinowski.

Das weiß Jelzin, und das weiß auch sein personell und materiell bestens ausgestatteter Verwaltungsapparat. Dieser umfaßt auch die rund 25.000 Mann starke Präsidentengarde, die der als dubios bekannte General Alexander Korschakow kommandiert.

Pessimisten zeichnen daher folgendes Szenario der kommenden Monate: Jelzin könnte den Ausgang der Parlamentswahlen zum Anlaß für die Ausschaltung der Duma nehmen. Begründung: Die angeblich drohende Machtübernahme durch Kommunisten und Nationalisten. Er müßte sich dabei noch stärker als bisher auf Sicherheitsdienste und loyale Armeeeinheiten stützen.

Im Gegenzug hätten diese bedeutenden Einfluß auf das so entstehende autoritäre Regime. Dann aber könnte Rußland mit einem Mal wieder zur militärischen Bedrohung werden. Nicht für den Westen, wie der Jenaer Sicherheitsexperte Reiner Seidelmann betont, sehr wohl aber für die ehemaligen Sowjetrepubliken.

Denn der 58. Armee wäre es ein leichtes, beispielsweise die erdölreiche Ex-Sowjetrepublik „Aserbaidschan" heim ins russische Reich zu holen.

Der Autor

ist freier Mitarbeiter der Furche.

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