Der doppelte Boden des Brexit

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Es gibt bei aller Bitternis des britischen EU-Referendums Gründe, warum wir den Briten dankbar sein sollten. Eine britischösterreichische Analyse aus historischem und aktuellem Blickwinkel, von der Magna Charta bis zur Flüchtlingsquote.

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Es gibt bei aller Bitternis des britischen EU-Referendums Gründe, warum wir den Briten dankbar sein sollten. Eine britischösterreichische Analyse aus historischem und aktuellem Blickwinkel, von der Magna Charta bis zur Flüchtlingsquote.

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Das Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 ist eine historische Analogie zur ziemlich wirren Schlacht von Karánsebes im Jahre 1788, in der unter Alkoholeinfluss stehende habsburgische Kräfte ungewollt miteinander statt gegen die Türken kämpften, was bald wieder in Ordnung kam. Aber fürs Erste haben die Briten, weil mit Mehrheit, entschieden, die EU verlassen zu wollen. Ihre neue Regierung um Theresa May will Ernst machen und die Briten herausführen. Doch die Fast-Hälfte der Wähler will die EUropäische Bürgerschaft behalten, Aber da die Mehrheitsregel ein Indiz für politische Wahrheit ist, zählt die knappe Mehrheit für alle.

Die knappe Mehrheit sagt also der EU innerlich "goodbye". Endlich sind wir euch Eurokraten und Bürohengste in Brüssel los! Der Commonwealth ist zurück. Es singt sich wieder wunderbar: "Britannia rule the waves, Britons never will be slaves ..." Unser Königreich war, ist und wird eine transatlantische Seenation, das kontinentale Klima behagte uns nie wirklich.

Manche radikale EUrokraten atmen ebenfalls befreit auf: "Endlich sagt ihr uns auf Wiedersehen, ihr immer wieder Widerspenstigen, je schneller, umso lieber, geht doch endlich raus. Endlich, ohne euch kann es vorangehen mit der großen Vision der 'ever closer union' (statt der immer stärker 'differenzierten' Union in der Vergangenheit)." Das historische Fenster gelte es zu nützen für die EU-Zentralregierung. Aber all das ist nicht mehr britisches "business"! Freilich, ein des-integriertes Vereinigtes Königsreich steht vor der Tür. England und Wales wählten mehrheitlich für den Brexit. Du, pro-europäisches Schottland, geh! Aber es geht um mehr. Eine keltische Allianz formiert sich. Nordirland, Schottland, die Isle of Man und Irland wollen sich in der EU treffen.

Das Königreich ein Trümmerhaufen?

In manchen EU-Mitgliedsstaaten sind offiziell jedenfalls "refugees welcome". Aber sind es künftig auch die vielen Briten, die schon da sind, da bleiben wollen, integriert sind, sich freiwillig gar assimiliert haben?

Viele von denen durften nicht über ihr weiteres Schicksal abstimmen. Vielleicht sind die 27 EU-Staaten zu einem speziellen vorteilhaften "deal" für die Briten bereit? Oder müssen die Expatriates für ihr Bleiberecht bald viel Geld bezahlen? Wie die reichen Russen auf Malta oder Zypern? Erwartet sie ein schneller Durchlauf in EU-Geschichte? Erwartet sie ein Test in deutscher Sprache, im persönlichen Leben, vor Gericht, in der Arbeit, als Vater von Kindern? Von anderen Hindernissen wie Eigentumserwerb ganz abgesehen. Das wäre eine europäische Travestie. Kann das Europäische aber als Ideal überleben, wenn die Mitgliedsstaaten diese Travestie praktizieren? Kann oder wird ein EUropäer noch sein Recht auf freie Bewegung praktizieren wollen, im Ausland leben und arbeiten wollen? Es gäbe mäßigende und gute Gründe, warum die Europäer den Briten irgendwie dankbar sein sollten, obschon sie ,zugegeben, viel inneres Chaos zu Hause, in Europa und weltweit mitverursachten: Das gute oder schlechte Ende für Europa und die Welt ist offen.

Ewige britische Verdienste

Und dann sind da noch die Verdienste der Briten. Sie waren es, die dem König die Magna Charta abrangen, epochale geistige Beiträge zur Ökonomie und zum Rechtsdenken leisteten, ihre Souveränität beharrlich gegen Bedrohungen im Inneren (Monarchie) und von außen (Napoleon oder Hitler) verteidigten. Das britische Denken und der britische Stolz konnte den realen oder eingebildeten "EU-Superstaat" auf Dauer nicht unberührt lassen, dem die unkontrollierte Usurpation nationaler Souveränitätsrechte zugeschrieben wird. Die Briten wollten die Kontrolle zurück, auch um die Einwanderung zu reduzieren.

Mit wenig politischem Feingefühl propagieren führende Vertreter der EU föderalistisch-zentralistische Visionen von einem Europa, das von einer EU-Regierung geleitet wird. Die großen und viele kleine Probleme sollen gemeinschaftlich und solidarisch gelöst werden, wofür die EU als kooperativer Staatenverbund ja historisch geschaffen wurde. Vor allem die EU-Kommission findet immer gute Gründe, dass alles auf EU-Ebene effizienter zu lösen sei, als es die Mitgliedsstaaten vermögen würden - der europäische "surplus" sei unschlagbar und bitte doch einsichtig. Zumindest ganz allgemein kann der EU damit aber angedichtet werden, sie wolle die große "Macht" übernehmen.

Im realen Alltag schreiben ihre hochqualifizierten Experten viele Dokumente - Agenden, Strategien, Roadmaps, Pläne mit planwirtschaftlichen Zielsetzungen, Evaluationsberichte. Es herrscht eine Art zirkuläre Betriebsamkeit auf hohem Niveau, in und zwischen den EU-Institutionen.

Die politische Plausibilität, Akzeptanz und vor allem Umsetzung der gemeinschaftlichen Innovationen wird schlicht vorausgesetzt. All das ist eine hehre Prämisse.

Folgt die politische Wirklichkeit nicht den politischen Intentionen, dann weil es zu wenig gemeinschaftliche Politik in der EU gäbe. Durchaus besserwisserisch empfiehlt die Kommission den Mitgliedsstaaten beständig, sie mögen doch dies und jenes tun, um die gemeinschaftliche Politik voranzubringen. Den Briten lag die hohe Einwanderung im Magen, wofür sie die EU pauschal verantwortlich machten. Freier Verkehr von Waren und Dienstleistungen ja, nicht die Personenfreizügigkeit. Eine klare Position, aber Beschränkungen wollen auch andere. Also fast kein britischer Sonderfall. Keine großzügige Umsiedlung von Flüchtlingen nach dem Königreich im Rahmen einer zentralisierten Europäischen Flüchtlingsunion, kein britischer Sonderfall bitte, eher der Normalfall.

Zwischen Ankündigung und Umsetzung

Der Unterschied zwischen gemeinschaftlicher Rhetorik und Implementation im Superstaat EU ist deutlich. Man setze ihn besser unter Anführungszeichen: der "Superstaat" EU ist eine große Imagination.

Das bringt uns zum Stichwort Gemeinsamkeit, zum Stichwort Flüchtlingskrise: Der Rat der EU-Innenminister beschloss, gefüttert mit einem abgestimmten Vorschlag der Kommission, im September 2015 den "korrektiven Mechanismus der fairen Verteilung" von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in die gesamte EU. 23 EU-Staaten, die große Mehrheit, stimmte zu. Für das Königreich tat dies die damalige Innenministerin. Theresa May.

Sie, wie die anderen Minister, wussten, dass die administrativ-technische Umsetzung des Mechanismus in ihren Händen liegen würde. Die Phase der Umsetzung gibt ihnen dazu viele Möglichkeiten: ignorieren, verzögern, abschleifen und anpassen, kompensieren, für Finanzmittel der EU ausbeuten.

Bis 18. April 2016 wurden insgesamt 1263 Flüchtlinge in die EU umgesiedelt. Zehn Staaten haben keine Flüchtlinge aufgenommen, nur drei Staaten gehen über die zweistellige Zahl. Schweden und Österreich signalisierten, ihr nationales Boot sei bereits voll. Polen verweigerte wegen Terrorismusverdacht jede Aufnahme.

Ähnliches tat auch, wenn auch aus anderen Motiven, das Vereinigte Königreich (das trotzdem viel Geld für die Flüchtlingslager bereitstellte). So einzigartig sind die Briten also nicht, wie wir vielleicht glauben und sie vielleicht selbst sich glauben machen.

Wenn die Briten mit dem Brexit gegen den "Superstaat" EU revoltierten, dann auch unwissentlich gegen die eigene Regierung, gegen Theresa May, die den Superstaat programmatisch als Innenministerin mitverantwortete. Aber mit dieser Doppelbödigkeit ist nun wohl Schluss, sie kann nicht auf Dauer unser Geschäft sein! Nein, das wäre wirklich nicht "very british"!

Werner Pleschberger ist Österreicher und ao. Professor an der Universität für Bodenkultur Wien, Marcus Petz ist Brite und ebenfalls Mitarbeiter der BOKU Wien.

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