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Der Endspurt hat begonnen

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Wer sich im herbstlichen London an einem Sonntagvormittag von der Menge durch den St.-James-Park treiben läßt, den Hyde Park durchwandert und in der Nähe von Marble Arch am Speakers’ Corner die Redner beobachtet, wird kaum Anzeichen wahrnehmen, welche auf die am 15. Oktober stattfindende Parlamentswahl weisen. Und dennoch hatte der Wahlkampf seine entscheidende Phase erreicht, als die Parteien in den letzten Wochen ihre Wahlmanifeste veröffentlichten. In diesen Dokumenten geben die Parteiführungen der Öffentlichkeit Programm, Weg und Ziel bekannt, welche sie nach allfälliger Erringung der Mehrheit als Regierungspartei zu verwirklichen trachten werden. Rundfunkansprachen führender Mit glieder aller Parteien häufen sich, in Fernsehinterviews unterziehen gewiegte Reporter die Parteiführer, also Premierminister Sir Alec Douglas'-Home, Harold Wilson und den Liberalen Joe Grimond, einem mitunter scharfen Frage-Antwort- Spiel. Jüngst prasselten auf Mister Wilson 27 Fragen und drei Zusatzfragen, auf Mr. Grimond 24 Fragen mit 13 Ergänzungen herab. Dahinter steht wohl die Idee, dem Wähler durch das Fernsehen die entscheidenden Persönlichkeiten gleichsam in Hautnähe zu bringen, damit er sich ein besseres Urteil bilden könne.

Diese Technik ist insoweit gerechtfertigt, als die noch unentschlossene Wählerschaft auf Grund der Wahlmanifeste kaum in der Lage ist, sich für eine der Parteien zu entscheiden. Und da nach Berichten von Meinungsforschern der Anteil der Unentschlossenen in einzelnen Wahlkreisen 20 Prozent übersteigen dürfte, sind die Parteistrategen selbstverständlich beflissen, durch Massenmedien ihre Absichten und Ziele in der intimeren Art eines Interviews darstellen zu können. (Daß es dennoch häufig genug nur die schon bekannten Parolen sind, welche die Politiker von sich geben, läßt sich offenbar nicht vermeiden.)

Was versprechen nun die Tories, Sozialisten und Liberalen in ihren Manifesten? Bei oberflächlichem Studium kann man leicht zur An sicht kommen, daß sie sich kaum voneinander unterscheiden. Vertieft man sich jedoch in die Dokumente und versucht, die oft vagen Formulierungen auf ihren eigentlichen Sinn zu untersuchen, lassen sich doch große Unterschiede feststellen, wenngleich alle Parteien doch darin übereinstimmen, daß die britische Wirtschaft rascher wachsen müsse.

Besonders die kleine liberale Partei hielt ihre Wahlerklärung in unverbindlichen Tönen. Dabei hätte gerade sie nach Meinung einiger Publizisten darauf achten sollen, bei den Programmpunkten auch die Möglichkeit ihrer Verwirklichung anzugeben. Denn diese Partei leidet unter dem Nachteil, schon Jahrzehnte nicht die Regierung gestellt zu haben und den Wähler überzeu gen zu müssen, daß sie nicht nur ein Sammelbecken politischer Eigenbrötler sei. Wie realistisch immerhin die Parteileitung die Lage beurteilt und damit ihre Einsicht in realpolitische Gegebenheiten andeutet, läßt sich aus der Einleitung ihres Manifestes ersehen, in dem sie selbst meinte, daß es der Zweck der Partei sei, „ausreichend viel Stimmen zu erhalten, damit im nächsten Parlament die Gruppe der liberalen Abgeordneten eine entscheidende Stellung einnehmen“ könne. Leider vermißt man in der Folge ein klares Konzept, wozu die Parteileitung diese entscheidende Stellung verwenden würde. Erhofft sie sich vielleicht, Partner in einer Koalitionsregierung zu werden? Eine Reihe von Aufgaben dürfte keine andere Partei in ein gemeinsames Regierungsprogramm aufnehmen. Dazu zählen eine weitgehende Föderali- sierung des Staates (Rangerhöhung des schottischen Parlaments und des Council of Wales), eine Behebung der latenten Sterlingkrise durch Aufbau einer internationalen Währungsbehörde, die mit einer Zusammenfassung der Devisenreserven aller Staaten verbunden sein soll, ein Kodex von Wettbewerbsregeln, eine Grundaufschließungsgesellschaft, „welche die nötigen Finanzierungsmittel und Fachleute zum Umbau der Stadtzentren stellen soll“ usw. Diese Auswahl dürfte genügen.

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