Der erste Staatsfeind als Türkei-Vermittler

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Während die türkische Luftwaffe Angriffe gegen Stellungen der PKK führt, laufen im Hintergrund Gespräche der Regierung mit PKK-Chef Öcalan.

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Während die türkische Luftwaffe Angriffe gegen Stellungen der PKK führt, laufen im Hintergrund Gespräche der Regierung mit PKK-Chef Öcalan.

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Oft hat die aktuelle Medienwelt nur mittelbar mit der Aktualität zu tun. Rund zwei Wochen ist es her, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK für beendet erklärt hatte und Bombenangriffe gegen PKK-Stellungen fliegen ließ. Doch im Hintergrund hält Ankara den Dialog mit den Rebellen weiterhin aufrecht. Bereits am letzten Wochenende soll eine Regierungsdelegation den inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan auf der Insel Imrali besucht haben. Dabei habe die Regierung mit dem prominentesten Häftling des Landes über den ausgesetzten Friedensprozess und die öffentliche Sicherheit gesprochen. Öcalan habe sowohl die AKP als auch die Oppositionsparteien kritisiert. Seit April verweigerte Ankara prokurdischen HDP-Delegationen, Öcalans Angehörigen und seinen Anwälten, ihn auf der Marmarainsel zu sprechen, auf der er seit 1999 im Gefängnis sitzt.

Der Friedensprozess sei niemals vorbei gewesen, sagt der regierungskritische Journalist Haluk Şahin im Gespräch. "Kurden und Türken wollen miteinander leben, und nicht gegeneinander kämpfen", sagt Şahin. Eine Tatsache, welche die Regierung nicht ignorieren könne.

Kurdenpartei sucht PKK-Kontakt

Unterdessen versucht auch die HDP weiterhin, den Kontakt zu der PKK beizubehalten. So traf sich HDP-Co-Chef Selahattin Demirtaş in der vergangenen Woche in Brüssel mit den PKK-Funktionären Zübeyir Aydar und Remzi Kartal. Anschließend hieß es laut Medienberichten, die PKK sei bereit, die Gespräche mit Ankara fortzuführen. Allerdings, so lautete eine Forderung, müssten dafür die Angriffe auf Stellungen der Rebellen aufhören, was bisher nicht geschehen ist. Am Donnerstag teilte der HDP-Abgeordnete Sirri Süreyya Önder mit, dass einer HDP-Delegation in Aussicht gestellt worden sei, am kommenden Dienstag zu Gesprächen nach Imrali fahren zu dürfen.

"Die Türkei befindet sich momentan in einer konfusen Situation. Es herrschen Aufruhr und Pessimismus, die Menschen sind enttäuscht", sagt Şahin. Die Parlamentswahlen vom 7. Juni seien hoffnungsvoll verlaufen, und Erdogan sei als der "Verlierer Nummer eins" aus diesen Wahlen hervorgegangen. Die Wähler hätten sich gegen Erdogans Idee eines Präsidialsystems entschieden.

Bis zu dem Einzug der HDP ins Parlament habe die AKP um die Stimmen der Kurden geworben. "Erdogan hat gesagt, es gebe kein Kurdenproblem, das türkisch-kurdische Miteinander sei friedlich", sagt Şahin. Nach dem Verlust der AKP bei den Wahlen habe die Regierung einen "nationalistischen Weg" eingeschlagen, um bei angestrebten Neuwahlen Stimmen von der rechten Seite zu holen. Deswegen lasse Ankara Öcalan momentan bewusst nicht in der Öffentlichkeit zu Wort kommen, um eine Deeskalation zu vermeiden.

Tatsächlich setzt sich der PKK-Gründer seit Jahren für den Frieden ein, und galt plötzlich als eine mäßigende Stimme, die von der AKP-Regierung momentan nicht gebraucht werden könne, sagen Kritiker. Denn für die AKP haben die Kurden mit dem Einzug der HDP ins Parlament nun viel zu viel Macht erhalten, und Erdogans Wunsch nach einem Präsidialsystem zerstört. Deswegen, so der weitverbreitete Tenor, wolle Erdogan sich an den Kurden rächen.

Dieses Gefühl hat sich nochmals durch den Anschlag am 20. Juli in der türkisch-syrischen Grenzstadt Suruç verstärkt, bei dem insgesamt 31 prokurdische Aktivisten ermordet wurden -Ankara mutmaßt, dass der "Islamische Staat" (IS) hinter dem Angriff steckt. Anhänger der PKK erschossen daraufhin aus Rache zwei türkische Polizisten, die mit dem IS sympathisiert haben sollen.

Kurz darauf hat die türkische Luftwaffe mit der Bombardierung von IS-Stellungen in Nordsyrien und PKK-Stellungen im Nordirak begonnen, die bis heute anhalten. In einer Verhaftungswelle wurden innerhalb weniger Tage rund 1300 angebliche IS-und PKK-Unterstützer festgenommen.

Weil mehr PKK als Jihadistenstellungen angegriffen wurden, und mehr mutmaßliche PKK-Unterstützer als Islamisten festgehalten werden, gehen Kritiker davon aus, dass schon eine Sympathiebekundung mit der PKK ausreiche, um nun hinter Gittern gebracht zu werden.

So droht die Türkei wieder einmal dort hineinzugeraten, wo sie schon so oft war: in eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Es wurden Befürchtungen laut, dass sich Szenen wie aus den 1990er-Jahren wiederholen könnten, als türkische Soldaten kurdische Dörfer im Südosten niederbrannten, was zu blutigen Erwiderungen seitens der PKK geführt hatte.

Damit genau das nicht mehr passiert, forderten in der vergangenen Woche Wissenschaftler in einem offenen Brief von der AKP, keine diskriminierende Sprache mehr zu verwenden, die den Konflikt zusätzlich anheize. In dem Schreiben mit der Überschrift "Eine Nachricht an die Menschen in der Türkei" appellierten die Akademiker an die Regierung, wieder mit Öcalan zu sprechen. Denn Öcalan gilt als die kurdische Schlüsselfigur in den Friedensverhandlungen. Während er für die Regierung offiziell immer noch der Staatsfeind Nummer eins ist, ist er für viele Kurden der wichtigste Widerstandskämpfer im Kampf gegen die Unterdrückung durch Ankara. So waren in den letzten Wochen bei landesweiten Demonstrationen gegen die AKP Flaggen mit dem Bild des PKK-Chefs zu sehen -und das, obwohl die PKK in der Türkei, in Europa und den USA als Terrororganisation gelistet ist.

Die Taktik des Staatschefs

In den vergangenen Tagen hat Demirtaş sowohl die PKK, als auch die AKP dazu aufgefordert, zurück an die Verhandlungstische zu kehren. "Die PKK muss sofort ihren Finger vom Abzug nehmen", sagte Demirtaş am Samstag in der osttürkischen Stadt Van. In einem Interview meinte er, dass er rund zwei Monate nach der Parlamentswahl kaum noch eine Chance auf eine Regierungsbildung sieht. Erdogan tue derzeit alles dafür, um der HDP mit Propaganda zu schaden. Ziel sei es, die HDP bei Neuwahlen unter der Zehn-Prozent-Hürde zu halten, damit diese nicht ins Parlament können.

Ein Verdacht, den auch Şahin unterstützt. "Aber die Türken sind nicht dumm. Sie wissen, dass Erdogan sehr geschickt darin ist, die Öffentlichkeit zu manipulieren", sagt er. "Die Bürger haben ein starkes Empfinden für Ungerechtigkeiten, sie mögen es nicht, wie Erdogan nun die HDP zu kriminalisieren versucht", so Şahin. "Ich würde mich nicht wundern, wenn die HDP bei Neuwahlen sogar 15 Prozent holen würde."

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