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Der Gast

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Der Besuch Nehrus bei Eisenhower in diesen Tagen schließt sich direkt dem. Besuche Tschu En Lais bei Nehru an. Beider weltpolitische Bedeutung ist dazu angetan, den Atem anhalten zu lassen. Wenn die Dinge sich so weiter entwickeln, wie führende indische und chinesische Politiker sie jetzt betreiben, dann besteht die Möglichkeit einer Sicherung des Weltfriedens durch ein Gleichgewicht einiger großer, in sich geschlossener Machtblöcke, die aber miteinander durch konkrete wirtschaftliche Interessen verbunden sind: China, Indien, Amerika. Das fast verzweifelte, hektisch-fieberhafte Agieren Rußlands in den arabischen Staaten und die heftige Reaktion der russischen Presse gegen die letzten Erklärungen Chinas und Titos, des alten Freundes Nehrus und Tschu En Lais, versteht sich dann aus der Sorge Moskaus um diese Entwicklung.

Es ist sicher, daß in den Straßen Budapests eine Umgruppierung der Weltpolitik, die sich bereits seit längerer Zeit anbahnte, in ein entscheidendes Stadium vorgetrieben wurde. Die Ereignisse in Ungarn haben, in eigentümlich enger innerer Koordination mit der Suezaktion, den Völkern der Welt die Augen geöffnet und unschätzbare Lehren eingebracht: die Anwendung von Gewalt ,,zieht“ nicht mehr. Der Terror hat seine Faszination, seinen Zauber, seine Wirkung verloren. Er ist nicht, wie die sektiererischen Säuberer, die „Reinen“, die totalen Parteigläubigen und Ideologen überzeugt waren, das Mittel, eine neue Welt zu gebären, sondern erweist sich als ein hilfloses Unwesen, das gerade in seinem Wüten seine Impotenz bekundet.

Die Reise Nehrus im gegenwärtigen Augenblick — er vertritt dabei offensichtlich Indien und. China bei Eisenhower — ist durch die Zurückhaltung Amerikas in den afrikanischen Krisen der letzten Monate und Wochen vorbereitet worden. Sie hat Amerika in den Augen Asiens und Afrikas den größten Kredit eingebracht, den eine wirtschaftliche und militärische Weltmacht ersten Ranges überhaupt gewinnen kann: die Glaubwürdigkeit, ein verläßlicher Partner in einer Weltpolitik des Friedens zu sein. Frieden, den Frieden aber brauchen Indien und China dringend, um ihre Völker innerlich befrieden zu können. Und diesen Frieden kann Moskau gerade jetzt nicht geben, nicht weil es ihn nicht „will“, sondern weil es in großen inneren Umbildungen begriffen ist: in seinem Innern, in seinen Randzonen, in seinen Einflußsphären. Die Machthaber Chinas haben es nun direkt ausgesprochen, daß sie ihren Völkern die Opfer eines permanenten Ausnahmezustandes, großer Einschränkungen und Opfer nicht mehr zumuten wollen und dürfen; sie haben in einer Pekinger Erklärung offen einbekannt, daß das „sozialistische Lager“ (lies: die Sowjetunion) ihnen die Mittel zum großzügigen Aufbau nicht zur Verfügung stellen kann. China geht daran, Bestellungen für die militärisch-industrielle Aufrüstung im Rahmen von 10 Milliarden Dollar im sowjetischen Weltsektor rückgängig zu machen und sucht Kredite, Geld, Wirtschaftshilfe im „übrigen Ausland“. Tschu En Lai hat soeben, als Krönung seiner Asienrundfahrt, durch Nordvietnam, Kambodscha, Burma, Pakistan, Afghanistan und Nepal (nur Nordvietnam ist ein kommunistischer Staat), Indien aufgesucht, um sich noch einmal der Hilfe seines Nachbarn Nehru zu versichern. Diese Asienrundfahrt Tschu En Lais durch Gebiete, die bisher stark dem Einfluß Moskaus unterstanden, hatte den Zweck, diese Länder von dem Friedenswillen Rotchinas zu überzeugen. Und Tschu En Lai sah da etwas, was seinerzeit bereits Chruschtschow bei der Rückreise von Peking nach Moskau durch die menschenleeren Gebiete Sowjetasiens gesehen hatte, nun in diesen, von Menschenmassen teilweise übervollen Ländern: soll es nicht zu gefährlichen Explosionen kommen — in den armen, übervollen Ländern — und soll die Armut und Leere anderseits nicht zu gefährlichen politischen Abenteuern einladen, dann bedürfen alle diese Länder und riesigen Räume einer riesenhaften Hilfe. Diese Hilfe kann im Augenblick nur Amerika geben. Es ist vielleicht das letztemal, daß die USA imstande sind, ihr wirtschaftliches Potential weltpolitisch entscheidend in die Waagschale, zu werfen zur Gestaltung des Angesichts der Erde. Morgen, übermorgen kann die UdSSR die USA einholen. Heute ruht also auf Eisenhower und den amerikanischen Politikern eine ungeheure Verantwortung. Sie werden von den kommenden Generationen darnach gemessen, verflucht oder gesegnet werden, je nachdem, wie sie dieses Potential in die Waagschale der Weltgeschichte legen.

Nehru kommt als Vertreter Tschu En Lais, der Bandungstaaten und Indiens zu Eisenhower. Es war vor Jahren bereits eine ärgerliche Enttäuschung für Moskau, daß es zur Bandungkonferenz der afrikanischen und asiatischen Völker nicht eingeladen wurde (eben deshalb will jetzt Bulganin eine neue Bandungkonferenz). Diese Bandungkonferenz von 1954 demonstrierte bereits damals vor den Augen aller, die es sehen wollten, daß die Staaten und erwachenden Völker Asiens und Afrikas nicht Anhängsel der UdSSR und der USA werden oder bleiben wollten. Die Haltung Amerikas im Suezkonflikt, aber auch in Ungarn (so bitter sie uns hier berühren muß), ihre große Vorsicht und Zurückhaltung, hat den USA das Vertrauen der Bandungstaaten gesichert. Heute geht es nicht mehr um Militärpakte, sondern um eine wirtschaftliche und damit bereits weltpolitische Kooperation größten Stils. Tschu En Lai sucht über Nehru bei Eisenhower um die Anerkennung Rotchinas durch die USA, um die Unterstützung der Aufnahme in die UNO und um baldige Wirtschaftshilfe für China an. Er dürfte dafür bieten: ein gewisses Pensionärdasein für Tschiangkaischek (um Amerikas politisches Gesicht als Verbündeter Tschangs zu wahren) auf Formosa, das ihm vielleicht für Lebzeiten überlassen wird; wichtiger aber ist ein Friedenspakt. Diesen braucht Tschu En Lai ebensosehr wie Nehru. Die überaus große Vorsicht Nehrus in den weltpolitischen Debatten und Aktionen der UNO in den letzten Wochen erklärt sich aus der außerordentlichen inneren Schwierigkeit Indiens. Nehru vertritt bei Eisenhower seinen großen Konkurrenten, eben Rotchina. Asien und wohl auch das Afrika der erwachenden Völker wird in Zukunft auch von Indien oder China (oder von Indien und China) geprägt werden. Stirn an Stirn lagen sich bisher der indische und chinesische Versuch, die riesenhaften Massen ihrer Völker einer besseren Zukunft entgegenzuführen. China versuchte es mit Gewalt, Diktatur, gestützt auf die Disziplin des Gehorsams, der in Jahrtausenden in den Großsippen kultiviert worden war. Indien versucht es mit dem Appell an den guten Willen, an die freiwillige Bodenreform (der Bewegung des Vinoba, Bhoomidan-Yagna gelang es, Millionen Hektar Land für Besitzlose von dessen früheren Eigentümern freizubekommen). Indien versuch* es, zum zweiten, durch Planungen, die im Sinne von Nehrus eigentümlichem Sozialismus, auf einen sich schnell industrialisierenden Wohlfahrtstaat hinauslaufen. Die großen Hemmungen Indiens sind: die Indolenz und der Selbstbehauptungswille (wie überall auf dieser Welt) der alten Mächte, die ihren Besitz, ihre Vorrechte und Positionen nicht aufgeben wollen; die größten Hemmungen aber bilden der Mangel an Kapital, an industriellen Einrichtungen und, so seltsam es klingt, auch an Lebensmitteln. Indien war, wie Asien, immer ein Land großer Hungersnöte, da die jeweiligen Herren seine riesigen Potenzen kaum erschlossen. Die großen Hemmungen Chinas sind nun, in allen wesentlichen Strukturen, dieselben wie in Indien. Tschu En Lai hat nun, so scheint es, erkannt, daß der uralte konfuzianische und archaische Gehorsam des chinesischen Volkes verbraucht zu werden droht und daß die Zukunft nur bestanden werden kann, wenn die Leidensund Opferkraft des Volkes nicht ständig überfordert werden. Zahlreiche kleinere Bürgerkriege und Hungerunruhen großen Ausmaßes in Zusammenhang mit den Ueberschwemmungskata-strophen der letzten Jahre weisen den Blick in jenes Land, aus dem seit Generationen viele tausende Söhne Chinas ihr Geld nach Hause schicken: nach den USA.

Den Aussprachen Nehrus mit Eisenhower kommt also weltpolitische Bedeutung zu. Asien und mit ihm Afrika treten ins Zentrum der Weltpolitik. Das heißt nicht, daß wir in Europa verlassen sind. Im Gegenteil: die bitteren Ereignisse in LIngarn haben gezeigt, daß Europa heute durch globale, weltumspannende Abmachungen eines wirksamen Schutzes bedarf. Die „Furche“ wurde in den letzten Wochen von manchen angegriffen und von manchen gelobt, weil wir darauf verwiesen: Wirksamer Schutz für uns und unsere osteuropäischen Brüdervölker ist nur in Zusammenarbeit mit Indien, China, Tito-Jugoslawien zu erreichen. Wenn der Generalsekretär der UNO — spät genug! — nach Moskau fahren wird, um endlich Ungarn mit den Russen auszuhandeln, so wird sein Weltgewicht ganz anders als früher in die Waagschale der Entscheidungen fallen, wenn hinter ihm nicht nur einige Dutzend Klein- und Mittelstaaten und, als einzige Weltmacht, die USA stehen, sondern deren Partner von morgen: Indien, China, die Bandungstaaten.

Das Ergebnis der Aussprachen zwischen Eisenhower und Nehru ist also auch für Budapest, Wien, Mitteleuropa von allergrößter Wichtigkeit. Hoffen wir, daß in Hinkunft die indischen Diplomaten, die bereits wegen Nagy und Ungarn mit den Russen und deren Satelliten in Prag verhandelten, mehr Kenntnis der wahren Verhältnisse „Zwischeneuropas“ haben als jene anderen Politiker, die 1918 über unser Geschick unbeTaten und falsch beraten entschieden. Im Advent 1956 deutet sich zum ersten Male eine konstruktive Neuordnung des Donauraumes seit 1918 an. Die Völker hier haben sie verdient.

Sie sind in einem langen, schmerzensreichen Advent heute gereift, um sich zu verbinden als Mitarbeiter und Freunde mit jenen vielen anderen Völkern in allen Kontinenten, die heute ihren Advent vorbereiten: die Freiheit, ein Leben, menschenwürdiger als bisher. In den Verhandlungen der Inder in Prag über Ungarn, im kommenden Besuch der Chinesen in Warschau deutet sich diese künftige Kommunikation an. Die Ungarn des Oktober, November und Dezember 1956 sind für viele andere Menschen mitgestorben. Wir hoffen, daß diese Tatsache der Präsident der Vereinigten Staaten und der Ministerpräsident Indiens in gebührender Weise zur Kenntnis nehmen.

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