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Der gelähmte Flügel

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Ein festes Zentrum und zwei kräftige bewegliche Flügel sind seit den Tagen des Thukydides der Schlüssel aller strategischen Weisheit. Aber auch im politischen Kampf gelten dieselben Gesetze. Vor allem die Parteien einer christlichen Demokratie, die „Volksparteien“, können sich nach dem Gesetz, dein sie zu folgen haben, auf die Dauer keine einseitigen Schwerpunktbildungen erlauben. Sie haben es nicht so einfach wie irgendeine radikale Bewegung, eine Klassenpartei’oder auch nur eine regionale Vertretung. Ohne Blick nach links und rechts, blind für die Sorgen und Bedürfnisse der Umwelt können diese versucht sein, bestimmte Klassen und Stan- desinteressen durchzukämpfen. Eine von christlichen Grundsätzen bestimmte und von der katholischen Soziallehre angesprochene Partei, eine „Volkspartei" hingegen wird immer und überall nicht nur an ihrer weltanschaulichen Linie unverrückbar festhalten, sondern auch — oder gerade deswegen — den Ausgleich wirtschaftlicher Gegensätze, die Zusammenfassung materieller Sonderwünsche der einzelnen Berufsgruppen zu ihrer vornehmsten Aufgabe machen müssen. Mit den Worten der „Parlamentsgeographie", wie es Franz Werfel einmal geprägt hat, gesprochen: die Parteien der christlichen Demokratie werden stets einen „rechten" und einen „linken" Flügel haben. Haben müssen.

Und das ist durchaus kein Nachteil, sondern eine große Chance. Es ist die Stärke der „Christlichdemokratischen Union" in Deutschland, nicht nur einen das diplomatische Spiel souverän beherrschenden Bundeskanzler Adenauer, sondern auch einen Karl Arnold zu haben, der als Ministerpräsident von Nordrhein- Westfalen das Ohr von hunderttausend Arbeitnehmern hat und ihre Wünsche und Forderungen mit Nachdruck vertritt. Es ist ferner ein Vorteil, daß von deutschen Katholiken nicht nur der „Rheinische Merkur“, sondern auch die „Frankfurter Hefte“ und der „MICHAEL" geschrieben werden. Italien wieder hat in Degasperi den idealen Schlichter und Mittler zwischen der „bürgerlichen“ Gruppe seiner Democristiani, den sogenannten „Vespiten", und den von starken sozialen Impulsen beseelten Männern, wie La Pira, Fanfani, Gronchi und Scelba. Und in Frankreich werden am Wahltag nicht die wenigsten der dem MRP zufallenden Stimmzettel von Arbeiterhänden in die Urnen geworfen: eine Anerkennung für die den Interessen der unselbständigen Arbeitnehmer aufgeschlossene und fortschrittliche Politik der „Volksrepublikaner".

Und Österreich? Auf den ersten Blick scheint hier durch die Bünde innerhalb der ersten Regierungspartei eine besonders glückliche Balance der verschiedenen wirtschaftlichen Interessen gegeben. Doch eine genaue Prüfung verändert diesen ersten Eindruck. Die Wirklichkeit erreicht nicht das Ideal. Der „linke" Flügel lahmt nämlich. Die politische Arbeit, die da und dort geleistet wird, soll nicht geschmälert werden. Allein eine unvoreingenommene Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß es allen Bemühungen bis auf den heutigen Tag nicht gelungen ist, die Ausgangspositionen der Ersten Republik wieder zu beziehen und eine lebendige, vom Feuer der katholischen Soziallehre entflammte Arbeiter- und Angestelltenbewegung im politischen Raum aufzubauen. Von Einbrüchen in neues Terrain, von imponierenden Offensiven, wie sie das katholisch-soziale Frankreich erlebte, kann somit kaum die Rede sein. Eine große Hoffnung des Jahres 1945 mußte da nach und nach verabschiedet werden. Personalpolitische Fragen mögen einer solchen Entfaltung auch nicht günstig gewesen sein. Allein sie gehören nicht hie- her. Eines muß jedoch gesagt werden: Leopold Kunschak, der Pionier der christlichen Arbeiterbewegung, hat bis heute keinen Nachfolger gefunden. So neigt sich innerhalb der ersten Regierungspartei — das alte Gesetz der Schwer2 kraft gilt auch in der Politik — die Waage nach der anderen Seite. Dorthin, wo stärkere Persönlichkeiten und ein klareres wirtschaftspolitisches Konzept vorhanden sind.

Allein diese Entwicklung ist in einer Zeit, in der materielle Interessen und Überlegungen einen übermächtigen Einfluß auf die Politik genommen haben, nicht ohne Gefahren. Noch dazu, wo abzusehen ist, daß andere politische Gruppen ihre auf die sozialen Wünsche des Volkes gegründeten Möglichkeiten erkennen werden — und schon erkannt haben.

Diese Entwicklung im politischen Vordergrund kann jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Wenn in einer Partei, die sich in Ehrfurcht vor dem Namen Dr. Karl Lueger beugt, dessen oft gebrauchter Kampfruf vom „christlichen Sozialismus“ heute bestenfalls mit . Befremden aufgenommen würde, so hat dies tieferliegende Ursachen. Es fehlt der praktischen Politik vielfach das geistige Hinterland, die soziale Inspiration. Der soziale Katholizismus hat seit den Tagen Vogelsangs in Österreich eine feste Heimstätte. Er hat zahlreiche, nicht immer miteinander harmonierende Schulen hervorgebracht. Aber ihre Auseinandersetzungen waren mehr als etwa rechthaberisches Gezanke. Kein Wunder, daß dies auch auf der Ebene der Tagespolitik mächtig seine Wirkung ausübte. Das Jahr 1938 brachte hier eine entscheidende Zäsur. Aber auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches hielt die große Stille an; bis zum heutigen Tag. Kein Zweifel, an Männern, die das große Erbe des sozialen Katholizismus in Österreich bewahren, überdenken und mit der Wirklichkeit unserer Gegenwart konfrontieren, fehlt es nicht. Es sind ihrer nicht einmal so wenige und ihre Namen sind bekannt. Dazu kommen noch cįie vielen jungen Menschen, die — auch das ist unschwer zu bezeugen — auf einen Anruf warten. Doch eben dieser läßt bis zur Stunde auf sich warten — der soziale Katholizismus hat sich in Österreich noch nicht formiert.

Allerdings ist die Hoffnung da, daß es dazu in nicht allzu ferner Zeit kommt. Das stille, aber heute schon unverkennbare Wachsen einer katholischen Arbeiterjugend, die zähe Kleinarbeit, die oft nur von einzelnen und kleinen Kreisen zur Weckung des sozialen Gewissens unter den Christen tagtäglich geleistet wird, mit in erster Linie aber der Österreichische Katholikentag und sein mächtiger Anruf: er kann und darf nicht ohne Auswirkungen im politischen Felde bleiben. Sammlung heißt die große Aufgabe. Sammlung all jener zerstreuten Kräfte, Sammlung der vielen, in deren Herzen das Feuer der großen Idee einer echten Erneuerung der Gesellschaft aus dem Geist des Christentums zur mächtigen Flamme werden kann. Die Fernwirkungen in die Bezirke des öffentlichen Lebens dürften nicht auf sich warten lassen. Ein Blick zurück, kann hier ein Blick, voraus sein. Vielleicht wäre es gut, sich einmal stärker als bisher darüber Rechenschaft zu geben, was eigentlich die Vorläuferin der Volkspartei in Österreich, die alte Christlichsoziale Partei, groß gemacht hat. War es die Gunst der Mächtigen jener Zeit, das Wohlwollen kapitalkräftiger Kreise, das Festhalten an überkommenen gesellschaftlichen Formen und Ideen? Das alles war es nicht. Die weit über das damalige Österreich hinaus aufsehenerregenden Erfolge wurden in einer konsequenten Gegnerschaft gegen einen hemmungslosen sich überall breitmachenden Wirtschaftsegoismus ebenso wie gegen den einem Starrkrampf nicht unähnlichen Konservativismus bestimmter katholischer Kreise erkämpft. Erkämpft durch die Stimmen breiter Volksschichten, die ihre ganze Hoffnung in die neue Bewegung und ihr soziales Programm setzten. Gewiß, die Zeit steht nicht still und die Welt hat sich seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ebenso verändert wie das soziale Gefüge unseres Volkes. Aber nach wie vor gibt es wirtschaftlich Schwache in übergroßer Zahl. Gibt es eine größere Pflicht für den christlichen Politiker, als deren Anwalt zu sein?

Noch eine Frage bleibt. Sie gilt den Menschen, die in unseren Tagen besonders berufen erscheinen, Wegbereiter eines alle Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart in sich aufnehmen- sozialen Katholizismus hinein in das öffentliche Leben zu sein. Noch einmal eine historische Beobachtung: Die Abberufung der Priester aus Nationalrat und Landtagen, ihr Rückzug aus der Politik und ihre Heimkehr zu den seelsorgerischen Aufgaben wurde vor ungefähr zwei Jahrzehnten auch von vielen Katholiken mit Beifall äufgenommen. Heute erkennen wir, daß, mit dem Abstrich dieser Priester von ihrer Partei, eben dieser Partei ein sozialer Bindekitt verlorenging. Diese Abgeordneten im Priesterrock vertraten Stadt- und Landgemeinden, bürgerliche und bäuerliche Wahlkreise, genau so, wie jene, in denen die Wähler des vierten Standes überwogen. Aber selbst waren sie keine Agrarier oder Handelsleute. Auch dem Gewerbe gehörten sie ebensowenig an wie irgendeinem anderen Stande. Materiell ging sie das alles selbst gar nichts an. Wohl aber waren sie imstande, die Wünsche und Forderungen ihrer Wähler an den Maßstäben der katholischen Soziallehre zu messen und ins richtige Gleichgewicht zu bringen. Und seit den Tagen des durch seine Kampfschrift für die „Weißen Sklaven“ der Wiener Tramwaygesellschaft bekannten Pfarrer Eichhorn waren es nicht wenige Priester, die mit Temperament als Fürsprecher des arbeitenden Volkes und seiner Nöte auftraten.

Die Entwicklung seither ist natürlich unwiderruflich. Allein, hier bietet sich eine große Aufgabe für jene Akademiker, die trotz ihres Fachstudiums aufgeschlossen für die Fragen ihres Landes und ihres Volkes geblieben sind. Steht doch gerade der Akademiker heute zwischen den einzelnen Berufsgruppen, Ständen und Klassen, fühlt und denkt er doch wie kaum jemand anderer weder „bürgerlich“ noch „proletarisch“. Aus dieser Not kann aber wieder einmal eine Tugend werden. Gerade die vielen jungen Akademiker, die bis-

her in eigener Sache hart und nicht gerade sehr erfolgreich ringen, erscheinen vereint mit den von ihrer Werkbank kommenden Aktivisten der Katholischen Arbeiterjugend als die große Hoffnung des sozialen Katholizismus in der österreichischen Gegenwart. Eine solche, sich ergänzende organische Zusammenarbeit unter einer gemeinsamen alten ewig jungen Idee würde nicht heute und auch nicht schon morgen, aber bestimmt übermorgen jene Veränderungen in unserem öffentlichen Leben herbeiführen, auf die so viele warten.

Ein festes Zentrum und zwei;, kräftige Flügel machen — so haben wir wi§e- sagt — eine unerschütterliche Schlaüfit- linie, ein starker und lebendiger sozialer Flügel die wahre Volkspartei.

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