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Der holländische Sozialismus und der Marxismus

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Mitglied des niederländischien

Getreu unserer Sendung, dem gegenseitigen Verständnisse in den Völkern und zwischen den Völkern zu dienen, veröffentlichen wir sehr gerne den Beitrag einer führenden Persönlichkeit der „Partij van de Arbeid“. „Die Furche“

Schon während der Kriegsjahre und später hat sich in zahlreichen europäischen Ländern eine tiefgehende Diskussion über die Grundzüge des Sozialismus entwickelt, tun jenen toten Punkt zu überwinden, auf den er bekanntlich in. der Periode zwischen den zwei Weltkriegen geraten war. Einerseits fand damals der Sozialismus seinen Anhang beinahe ausschließlich in der außerkirchlichen Arbeitermasse (jedenfalls auf dem europäischen Kontinent), da seine marxistische Fundierung einen Durchbruch zu den christlichen Gruppierungen verhinderte. Andererseits wuchs die Überzeugung auch in konfessionellen Kreisen, daß zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus nur eine Politik der sozialen Mitte für Europa die Sonne einer neuen Zukunft aufgehen lassen könne.

Gibt es eine Möglichkeit, diese scheinbaren Gegensätze zu überwinden? Besteht wirklich die Möglichkeit einer großen Begegnung zwischen Christentum und Sozialismus, die von vielen als die große Aufgabe für das jetzt lebende Geschlecht angesehen wird? Das sind die Kardinalfragen, um die es in der prinzipiellen Diskussion geht.

Eine Erörterung darüber muß von dem Grundsatz ausgehen, daß Christentum und Sozialismus im Prinzip nicht unvereinbar zu sein brauchen. In der Enzyklika „Quadra- gesimo anno“ wird zwar gesagt, daß ein Katholik kein Sozialist im wahren Sinne des Wortes sein kann, aber dabei wird dem Wort Sozialismus eine sehr spezielle Bedeutung beigemessen. Gemeint war ein Sozialismus, wie er sich tatsächlich damals in den Ländern des europäischen Kontinents zeigte. Gemäß einer Erklärung des Kardinal- Erzbischofs von Westminster schien mit diesem Ausspruch nicht der Sozialismus der englischen Labour Party gemeint zu sein. Bei den letzten Wahlen stimmten 80 Prozent aller englischen Katholiken für die Labour Party, so daß hieraus bereits hervorgeht, daß man zugleich ein guter Katholik und ein überzeugter Sozialist sein kann. Die Frage der Vereinbarkeit von Katholizismus und Sozialismus wird durch Oswald von Nell- Breuning in einem Artikel in den „Frankfurter Heften“ vom Juni 1947 mit Reeht eine „quaestio facti“ genannt, eine Frage nach dem Inhalt des Sozialismus in jedem konkreten Fall. Und über den genannten- Ausspruch in der päpstlichen Enzyklika sagt Nell-Breuning: „Einen Sozialismus, der nicht im Letzten und Tiefsten Liberalismus und Individualismus wäre, trifft diese Verurteilung des kirchlichen Lehramtes nicht.“

In der Periode zwischen den beiden Weltkriegen waren namentlich in Deutschland und Österreich verschiedene Bestrebungen im Gange, um eine Annäherung zwischen Christentum und Sozialismus zu erzielen. In der theoretischen Diskussion ging es dabei stets auch um die Frage der Vereinbarkeit von Christentum und Marxismus. Es scheint, daß diese Diskussion jetzt wieder auflebt, obwohl die damaligen Versuche, die von dieser Grundlage ausgingen, alle gescheitert sind.

In der französischen personalistischen Zeitschrift „PEsprit“ stand zum Beispiel neulich ein Artikel von Walter Dirks: „Marxismus in christlicher Sicht“. Ein außergewöhnlich fesselnder Artikel, wobei man sich jedoch fragt, ob man damit in der Praxis wohl weit genug kommt.

Die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Sozialismus ist auf dem europäischen Kontinent in keinem einzigen Land soweit fortgeschritten wie in den Niederlanden, und darum kann es wichtig sein, in wenigen Worten zu berichten, wie man in den Niederlanden an dieses Problem herangegangen ist.

Bereits vor dem Kriege hatte die sozialistische Bewegung in den Niederlanden einen viel weniger marxistischen Charakter als in Ländern wie Frankreich, Österreich und Deutschland. Wo es um Probleme wie Klassenkampf und Sozialisierung ging, stand die Partei nicht auf einem doktrinären Standpunkt. Die Partei war eine prinzipiell demokratische Partei, und hinsichtlich der Probleme der Religion und der Lebensanschauung war man viel mehr der Gesinnung der englischen als beispiels-

Parlaments und Vorstandsmitglied der weise der deutschen Sozialistischen Partei zugeneigt. Zu einem großen Teil verdankt sie dies dem Gründer des niederländischen demokratischen Sozialismus — P. J. Troel- stra —, dessen geistige Verwandtschaft mit Jaurès auf die Partei einen viel tieferen Einfluß gehabt hat als dieser selbst in Frankreich. Im Jahre 1937 wurde von der niederländischen Partei ein neues Prinzipienprogramm aufgestellt, in dem auch die neueren Resultate des sozialistischen Denkens: Plansozialismus und ethischer Sozialismus, in jeder Weise berücksichtigt wurden. Nichtsdestoweniger blieb die Partei hauptsächlich die Partei der außerkirchlichen Arbeitermasse, und so war es auch noch an dem Tage, an dem Hitler die Niederlande überwältigte.

Die Kriegsjahre brachten neue Erfahrungen. Sozialisten, Katholiken und Protestanten lernten im gemeinsamen Kampf gegen den Überwältiger Zusammenarbeiten und einander schätzen. In dem erstarrten politischen Leben der Zeit vor dem Kriege fühlten alle eine solche Möglichkeit als eine Befreiung, und gemeinsam wurde daher nach Wegen gesucht, um diese Zusammenarbeit auch nach dem Kriege fortführen zu können. Das endgültige Resultat davon war die Auflösung der früheren sozialistischen Partei und die Gründung einer neuen sozialistischen Partei: der „Partij van de Arbeid“. Bei den jüngsten Wahlen erzielte diese 27 Prozent der Sitze im Parlament.

Die neueren Gedanken von Personalismus und Föderalismus haben die Grundsätze der „Partij van de Arbeid“ tiefgehend beeinflußt. Am deutlichsten kommt dies zum Ausdruck in den Fragen der Lebensanschauung.

Die Partei anerkennt, daß die Grundsätze der europäischen Kultur mit Christentum und Humanismus unlösbar verbunden sind. Auf dem Gebiete der Lebensanschauung bildet Europa jedoch keine Einheit mehr, wie dies zum Beispiel im Mittelalter der Fall war. Obwohl die Partei den engen Zusammenhang zwischen Religion und Politik ausdrücklich anerkennt (auch in ihrem Prinzipienprogramm), steht es ihr als politischer Partei doch nicht zu, in dieser Verschiedenheit der Überzeugungen einen Standpunkt einzunehmen oder eine Auswahl zu treffen. Das ist die Angelegenheit eines jeden einzelnen. Für die Partei geht es nur um die Einheit der politischen Aktion. Katholiken, Protestanten und Humanisten haben gemeinsam für die Partei ein sozialistisches Prin- zipienprogramm formuliert. In diesem Programm wird der Wert der verschiedenen geistigen Strömungen ausdrücklich festgestellt, es bleibt jedoch die Aufgabe des einzelnen, dieses politische Programm in die eigene Lebensanschauung einzugliedern.

Das ist, wie man sagt, der Grundsatz des geistigen Föderalismus. Dieser Grundsatz kommt auch in der Struktur der Partei zum Ausdruck. Im Rahmen der Partei besteht eine katholische, eine protestantische und eine humanistische Arbeitsgemeinschaft. Diese

„Partij van de Arbeid“

Arbeitsgemeinschaften haben ihre eigenen Organe und bieten den Betreffenden Gelegenheit zum ausführlichen Studium und zur Propaganda im eigenen Kreis. Sie genießen ein großes Maß von Selbständigkeit und sind in der Lage, bezüglich der Fragen, die eng mit der Lebensführung Zusammenhängen und also zu entgegengesetzten Auffassungen gelangen können, die Diskussion und die Erwägung in der Partei vorzubereiten. Im Parlament hat jeder Abgeordnete das Recht, gemäß seiner eigenen Lebensüberzeugung seine Stimme abzugeben. Und daher kann es geschehen, daß beispielsweise über eine Frage wie die der Gesandtschaft beim Vatikan ein Protestant anders stimmt als ein Katholik.

Das größte Hindernis in der Begegnung zwischen Christentum und Sozialismus ist das Problem das Unterrichts. In vielen Ländern widersetzen sich die sozialistischen Parteien dem konfessionellen Unterricht. Nach meiner Meinung hat diesv mit dem Wesen des Sozialismus nichts zu tun. Er hat sich hiemit ein böses Erbe vom Liberalismus auf die Schultern laden lassen. Die sozialistische Partei in den Niederlanden steht auf dem Standpunkt, daß die Eltern das Recht haben, zu bestimmen, in welchem Geist ihre Kinder erzogen werden. Das bedeutet praktisch, daß es in der Partei sowohl Vertreter des konfessionellen wie auch des nichtkonfessionellen Unterrichts gibt, daß aber die Partei als solche die finanzielle Gleichstellung von beiden Richtungen verteidigt. Einen anderen Standpunkt würde sie als Widerspruch zur Demokratie betrachten, und außerdem ist sie der Meinung, daß in dieser Angelegenheit das letzte Wort nicht dem Staate zusteht. Der Verlust der Unterrichtsfreiheit ist ein Schritt auf dem Wege zum totalitären Staat. Da die Partei daneben auch die Freiheit der Kirche und die Freiheit der Jugendorganisationen ausdrücklich anerkennt, hat man in den Niederlanden für Probleme, die anderswo einer Annäherung zwischen Christentum und Sozialismus noch immer ernstlich im - Wege stehen, eine praktische Lösung gefunden.

Die Frage des Marxismus wird in den Niederlanden nicht aufgeworfen. Die Anzahl derjenigen, die auf dem klassischen marxistischen Standpunkt stehen, ist gering. Für die Partei ist dies nicht von entscheidender Bedeutung. Die Partei hat ihr undogmatische , sozialistisches Prinzipienprogramm. Wenn irgendein Mitglied seine Ansichten mit einer persönlichen marxistischen Überzeugung begründet, so hat er hiefür dieselbe Freiheit wie ein anderer, der auf der katholischen oder protestantischen Ebene steht. Der Sozialismus der „Partij van de Arbeid" ist ein ethischer Sozialismus, wie ihn auch die englische Labour Party verficht. Aber es bleibt ein Sozialismus, weil er für eine neue gesellschaftliche Ordnung kämpft, die an die Stelle des untergehenden Kapitalismus treten muß. Er kämpft für Gleichberechtigung, Existenzsicherheit und soziale Gerechtigkeit für die arbeitende Masse und tritt überall da auf den Plan, wo die menschliche Würde am meisten geschändet wird. Er steht ein für Demokratie und geistige Freiheit.

Die Sozialistische Partei in den Niederlanden hat nicht das Bedürfnis, so wie es anderswo geschehen ist, Werke von Kautsky oder Bebel im Neudruck erscheinen zu lassen. Es wäre natürlich politisch naiv und dumm, von sozialistischer Seite nur zu sagen: jeder- mon ist willkommen, kommt zu uns! Wenn die konfessionellen Gruppen beinahe hundert Jahre abseits blieben, weist diese Tatsache auf eine tiefere Problematik.

In den Niederlanden hat man eine neue Sozialistische Partei gegründet, ein neues Haus gebaut, das für Menschen von verschiedenen Geistesrichtungen bewohnbar ist. Im Parlament und in allen Vorständen der Parteiinstanzen hat man daher sehr bewußt Menschen von verschiedener geistiger Gesinnung eingeschaltet.

Für Europa gibt es keine Wahl mehr: für oder gegen den Kapitalismus. Diese Wahl ist schon entschieden. Es bleibt nur noch die Wahl zwischen Freiheit und Diktatur, zwischen demokratischem Sozialismus oder Kommunismus. Die Christen, die in fortschrittlichem Sinn an dem Aufbau einer neuen gesellschaftlichen Ordnung mitarbeiten wollen, werden sich mit den ähnlich Gesinnten vereinen müssen, um gemeinsam dieses große Werk auf neuen Wegen zustande zu bringen. Die große Begegnung zwischen Christentum und Sozialismus ist eines der wichtigsten Anliegen. Noch viel zu sehr wird sie behindert durch historische Sentiments, durch altes Leid, durch längst überholte Traditionen und veraltete Auffassungen, durch Mangel an Einsicht in die wirklichen Probleme des Augenblicks und durch die große Not, in der Europa sich befindet. Keine Rückkehr zu den Parteigrundsätzen der Vorkriegszeit kann Europa retten, sondern nur eine wirkliche politische und geistige Erneuerung, die in dieser Stunde äußerster Not Europas Christen und Sozialisten gemeinsam die Hand an den Pflug legen läßt.

In den Niederlanden wurde damit ein Anfang gemacht, möge er auch in anderen Ländern Nachahmung finden!

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