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Der lange Weg zur Normalität

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Der Bundeskanzler führt das Land zielsicher zur vollen europäischen Integration. Nur merken soll es keiner. Die Strategie hat sich bis jetzt bewährt, bleibt aber trotzdem unbefriedigend.

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Der Bundeskanzler führt das Land zielsicher zur vollen europäischen Integration. Nur merken soll es keiner. Die Strategie hat sich bis jetzt bewährt, bleibt aber trotzdem unbefriedigend.

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Das Dementi kam ebenso erwartet wie prompt: Nein, natürlich gebe es „keine Änderung” in der „sicherheitspolitischen Position”. Der Anlaß: „Presse”-Chefre-dakteur Andreas Unterberger hatte in einem Artikel von Bundeskanzler Franz Vranitzky für die SPÖ-Zeitschrift „Zukunft” deutliche Hinweise auf eine NATO-Annäherung des Autors zu entdecken vermeint. Zusammen mit der

österreichischen Entscheidung, an einem allfälligen Zaire-Einsatz unter AVEU-Schirm teilzunehmen, veranlaßte dies die „Presse” zum Aufmacher „Österreichs NATO-Entschei-dung naht”.

Da war wohl auch der Wunsch ein wenig der Vater des Gedankens; und dies ist legitim, zumal ja Entschiedenheit in dieser Frage durchaus am Platz wäre und „nahen” ein relativer Begriff ist.

Indes, die Vermutung, daß nun tatsächlich eine Entscheidung Österreichs über einen NATO-Reitritt unmittelbar bevorstehe, läßt sich aus dem Text des Kanzlers nicht leicht begründen. Spürbar ist darin das Remühen, Entschlossenheit im Kampf um die außenpolitische Themenführerschaft zu signalisieren. Doch Vranitzky macht in dem angesprochenen Artikel kein Hehl aus seinen bereits bekannten und mehrfach geäußerten Vorbehalten gegenüber WEU und NATO; ebenso formuliert er freilich - auch dies ganz in gewohnter Manier - die Dinge bewußt offen. So offen, daß bei einem allfälligen späteren NATO-Beitritt Vranitzky niemand wird vorwerfen können, er habe doch damals ...

Diese Vorgangsweise ist wesentliches Merkmal Vranitzkyscher Politstrategie. Sie er-innnert an eines der berühmten Gedankertexperimente des Philosophen Zenon (5. Jh. v. Chr.), wonach ein abgeschossener Pfeil an jedem Punkt einer unendlichen Anzahl von Punkten seiner Strecke ruhe, jedoch nirgendwann fliege; dennoch komme der Pfeil - offenkundig - schlußendlich ans Ziel.

Daß Vranitzky das Ziel kennt, bezweifelt niemand. So wie er seinerzeit wußte, daß es seine Aufgabe sein würde, auch in seiner Partei und deren Stammwählerschaft den von ihm als richtig erkannten EU-Beitritt mehrheitsfähig zu machen, so weiß er auch, daß etwa in Sachen Sicherheitssystem einmal Klartext zu reden sein wird, Nur scheinbar bewegt sich der Kanzler nicht, um dann doch das Land dorthin zu führen, wo es seiner Meinung nach hingehört. Wo das in puncto Sicherheit ist, hat kürzlich der Österreich-Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen” - gewiß kein sozialistisches Blatt, doch Vranitzky nicht übel gesonnen - ohne Umschweife gesagt: „Vranitzky wird sich die (vor allem innerparteiliche) Last aufbürden, Österreich in die NATO zu führen.” Die Schritte dorthin werden mit freiem Auge kaum erkennbar sein, Mutmaßungen sind daher - siehe „Presse” jederzeit möglich.

Nicht viel anders verhält es sich bei einem anderen Europa-Thema: der gemeinsamen Währung. Zurecht bezeichnete der Bundeskanzler in der „Pressestunde” zuletzt den Euro als das große europäische Projekt der nächsten Jahre. Erfrischende Klarheit also? Ja und Nein. Die Freude über das klare Bekenntnis zum Euro wird getrübt durch den Zusatz „nur, wenn er so hart wie der Schilling ist”. Denn jeder weiß, daß das Ziel einer möglichst hohen Stabilität der künftigen EU-Währung nicht ohne weiteres mit dem Ziel einer möglichst breiten Beteiligung an diesem Projekt vereinbar ist. Gerade Vranitzky zählt zu denjenigen, die sich stets zum Anwalt der politischen Idee der Integration -über das Militärische und das Ökonomische hinaus - machen. Das ist nicht nur sympathisch, sondern insofern auch realistisch, als etwa die Entscheidung, welche Länder an der Währungsunion von Anfang an teilnehmen, natürlich letztlich eine politische sein wird. Dies offen zu sagen, sollte man dann aber auch den Mut haben; und hinzufügen, daß beispielsweise die Einbindung Italiens - die für Österreich nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen höchst erstrebenswert ist - wohl nur um den Preis einer etwas weicheren

Währung zu haben sein wird.

Das aber hört man in Österreich (und Deutschland) nun gar nicht gern, und so übt man sich in nebuloser Rhetorik, die den Pfeil ruhend erscheinen läßt, während er doch schneidig durch die Luft saust. Was sei eigentlich, wenn die Länder, deren Teilnahme für die Währungsunion aus politischen Gründen unerläßlich erscheint, die berühmten Maastricht-Konvergenzkriterien .nicht schafften, fragte unlängst ein deutscher Kommentator; diese Antwort seien die Politiker bislang schuldig geblieben. Der Mann hätte auch für Österreich recht gehabt.

Wunderbar fügt sich da ins Rild, daß just an dem Tag an dem die österreichische Sicherheitspolitik erneut ins Gerede kam, einmal mehr unser Umgang mit der Anonymität ins Brüsseler Zwielicht geriet. Nicht von der tatsächlichen Dimension, aber von der Emo-tionsbeladenheit ist das Thema ja durchaus mit der Neutralität vergleichbar. Und vergleichbar sind auch all die einschlägigen treuherzigen Versprechungen der Regierungspolitiker zu den „heißen Europa-Eisen”, die sich durch den Gang der Ereignisse immer mehr als Leerformeln erweisen.

Noch einmal sei es gesagt: der Kanzler weiß dies alles natürlich, und er weiß auch, wohin die Reise geht. Doch nach wie vor - obwohl er seit dem 13. Oktober an Kampfeslust und Frische sichtlich zugelegt hat - zieht er es vor, nicht „Äufreger der Nation” zu sein. Diese Kritik gilt selbstverständlich nicht Franz Vranitzky alleine, aber sie gilt ihm in besonderer Weise. Nicht nur, weil er als Regierungschef die Hauptlast der Verantwortung trägt, sondern auch, weil er die Taktik des „bewegten Stillstands” formvollendet wie kein anderer praktiziert.

Man kann diese Taktik unredlich nennen, man kann sie auch als pragmatisch bezeichnen: Politik ist auch die Kunst, Notwendiges möglich zu machen. Dem steht das idealistische Prinzip von der Zumut-barkeit der Wahrheit entgegen. Doch es könnte ja sein, daß die Politik der Regierung Befindlichkeiten und Lernprozesse der Menschen widerspiegelt. In einem Land, das den Sozialismus stark nationaler Prägung über Jahrzehnte ver-innerlicht hat, kann dann wohl auch der lange Weg zur Normalität nicht geradlinig verlaufen.

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