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Der neueste europäische Mensch soll nicht nur ein Konsumist sein

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Nur dürftig wird hierzulande die Diskussion über ein wertvolles Europa verfolgt. Die FURCHE schürft tiefer.

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Nur dürftig wird hierzulande die Diskussion über ein wertvolles Europa verfolgt. Die FURCHE schürft tiefer.

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Seit fünf Jahren wenden sich die osteuropäischen Staaten nach Westen. Aus dem neuen Menschen, dem „homo sovieticus“, soll der neueste Mensch werden: orientiert an sogenannten westlichen Werten.

Das Christentum, mehr als 40 Jahre in den Moskauer Satellitenstaaten bekämpft und unterdrückt, im Sowjetreich selbst mehr als 70 Jahre mit nur geringer Atemluft versorgt, steht nun seit der sanften Revolution in einer Art Konkurrenzkampf mit jenem Wertegemisch, das sich aus alter, bequemer, indoktrinierter Haltung und neuem brutalen, auf bloßen materiellen Erfolg abgestellten Individualismus ergibt. Gar nicht merkwürdigerweise ist dieser Individualismus auch der gemeinsame Nenner, in dem sich die durch übergestülpten Kollektivismus atomisierte So^vjetgesellschaft und eine offenkundig vom Konkurrenzkampf zerfressene, entsolidarisierte, auf Gewinnmaximierung abgestellte Gesellschaft des freien Westens treffen.

So gesehen „verbinden“ die in der seinerzeit politisch in Ost und West gespaltenen Welt geltenden „Werte“ die früheren Gegner; ob der Wert der Bereicherung um jeden Preis aber tatsächlich jener Boden ist, auf dem das Trennende zwischen reichem Westen und entwicklungsbedürftigem Osten überwunden werden kann, ist eine andere, aber entscheidende Frage.

Zwei bedeutende Foren in Österreich versuchten dieser Tage - wohl nicht zufällig - die Wertefrage in einem neu zu schaffenden gemeinsamen Europa zu beantworten. Vor dem 50. „Europäischen Forum Alpbach“ faßte Kardinal Franz König die besonders seit dem Untergang des Kommunismus in Mittelosteuropa häufig angestellten Überlegungen zum Thema, was können Ost und West einander an Werten geben, zusammen. Diesbezüglich meinte der Wiener Alt-Erzbischof, daß gegenwärtig die geistigen Kräfte des Nichtverstehens, des Gegeneinanders und des Mißtrauens stärker zu sein scheinen als die ~ wie er wörtlich sagte — „verbindenden Kräfte der gemeinsamen Geschichte“. Gleichzeitig hielt König in Frageform fest, daß der Westen im Osten den Eindruck erweckt habe, „daß der logische Nachfolger des Kommunismus der Konsumismus sei“. Damit sprach er jenen gemeinsamen Nenner an, auf den sich besonders Extremformen des „Wirtschaftens“ ohne Kontroll-, Sozialund Solidarbezug im heutigen Europa des Ostens und Westens beziehen und der in mafiosen Geschäftspraktiken, im organisierten Verbrechen seinen stärksten Ausdruck findet.

BEREICHERUNG ALS MASS-STAB

Für Kardinal König beginnt das Dilemma bei der ausschließlich auf Bereicherung angelegten Erneuerung Reformeuropas, sprich: der postkommunistischen Staaten. Er zitierte einen führenden Regierungspolitiker aus einem Nachbarland Österreichs, der mit seinem Imperativ „Bereichert euch!“ „das Geld zum einzigen allgemein anerkannten Wertmaß- stab“ gemacht habe.

Wird in Europa, vor allem im Reformeuropa, das einen ungeheuren Nachholbedarf an Freiheit, Freizügigkeit, an Konsumgütern und dem hat, was unmittelbar als Erhöhung der Lebensqualität im materiell-fi- nanziell-wirtschaftlichen Bereich erlebt und erwünscht wird, Königs Bedauern verstanden werden, daß geistige und religiöse Fragen „keine Themen in der europäischen Markt- und Wirtschaftsdiskussion“ seien, daß Europa mehr auf „geistige Strukturlinien“ verwiesen gehörte?

In dem Zusammenhang verdient die Klage des slowenischen Präsidenten und seinerzeitigen Kommunisten Milan Kucan beim Neun- Landeschefs-Treffen in Alpbach vorige Woche Beachtung: Kucan hatte mitteleuropäische Vergangenheit und Gegenwart mit dem Begriffspaar „große Worte“ (damals) und „Brutalität der Interessendurchsetzung“ (heute) beschrieben und gemeint, daß man mit den kommunistischen Ideen nicht sehr weit gekommen sei, gegenwärtig aber aufgrund von beinhart ausgetragenen Interessenkämpfen als Reformstaat kaum Chancen auf Integration erblicke. Kucan kam leider nicht in den Sinn, daß die Brutalität, die er im gegenwärtigen Europa so beklagt, gerade inneres Lebenselixier im kommunistischen Machtbereich war, der jede andere Idee, jedes andere Gesellschaftsmodell, jede andere Politik, ja jede andere Form von unmittelbarsten Lebensbereichen wie Familie und Nachbarschaft als die von ihm definierte und durchgesetzte gewaltsam niederhielt und auszumerzen suchte.

Welche Haltung sich in Millionen und Abermillionen von Menschen der östlichen, kommunistischen Hemisphäre entwickelte, hat bei dem zweiten großen Forum zur Wertefrage in Europa, dem 6. „Forum Ostarrichi“ im niederösterreichischen Neuhofen an der Ybbs (das Forum wird vom Katholischen Laienrat Österreichs als Bildungswoche veranstaltet), der ungarische Religionssoziologe Miklos Tomka drastisch dargestellt:

Den im kommunistischen Macht bereich zusammengesperrten Menschen sei jede Kommunikation verwehrt gewesen, alles wurde von der Allmacht des Parteistaates kontrolliert, jeder sei sich selbst zum Maßstab geworden. „nur das eigene Handeln wurde noch als rechtens akzeptiert. Die Atomisierung drohte zu einer Selbstzerfleischung der Gesellschaft zu werden.“

Tomka skizzierte in diesem Zusammenhang den solcherart geprägten „homo sovieticus“, mit dem Europa auch fünf Jahre nach den einschneidenden politischen Veränderungen im Osten zu rechnen hat, mit drei Eigenschaften. Der „homo sovieticus“ sei unselbständig und unwillig, sich kräftig einzusetzen, der Sinn von Arbeit sei ihm abhanden gekommen. Weiters sei er von einem Minderwertigkeitsgefühl geprägt, empfinde sich als ausgeraubt und traue niemandem. Und schließlich hänge der „homo sovieticus“ mit einer eigenartigen Haßliebe am Staat, der nicht akzeptiert, deswegen überlistet und betrogen werde, der aber dennoch alle Probleme lösen solle.

SOLIDARISCHES DENKEN

Der ungarische Religionssoziologe konstatiert gegenwärtig einen Wertewandel in Osteuropa, der über den Individualismus — als „Wert der Emanzipation von einer überholten Ideologie und vom sklerotischen Parteistaat“ — möglicherweise in eine neue zivile Gesellschaft mit wiedererstandenen Netzwerken wie Verbänden, Vereinen, Korporationen, Klubs und Freundeskreise, die Werte gemeinschaftlich vermitteln müßten, münden könnte.

Und die christlichen Kirchen, welchen Beitrag zur Heranbildung einer neuen Gesellschaft mit menschlichen Werten leisten sie im Zeitalter des Übergangs?

Zurück zu Alpbach und zu Kardinal König. Christen sollten es nicht bei schönen Worten von neuen europäischen Werten belassen, sondern Beispiel und Taten setzen. Das neue Europa sei eine Idee und Hoffnung, in deren Mitte die Familie als „tragender Grund der Gesellschaft und des Staates, der Schutz des Lebens vom Beginn bis zum Ende, das Recht auf Erziehung, Bildung und Arbeit, die Sorge um soziale Gerechtigkeit mit besonderem Blick auf die Schwachen und Hilfsbedürftigen und schließlich die Hinführung zu solidarischem Planen und Denken“ stehen müßten.

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