6679500-1961_37_01.jpg
Digital In Arbeit

Der Pfahl im Fleisch

Werbung
Werbung
Werbung

Zwei Tatsachen haben ein Klima geschaffen, das künftige Verhandlungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion erschwert: die ohne direkte Vorankündigung aufgenommenen sowjetischen Atomwaffenversuche und die Unentschlossenheit des Westens, seine Uneinigkeit in dem einen Punkt, auf den es ankommt: ,,Was tun?“

Der Feuerschein und die Strahlungen der bis jetzt sieben russischen Nuklearexplosionen haben ein Überdruckgebiet geschaffen. Mit Recht erklärt da der Westen: Mit der Bombe in der Hand des Gegners kann sich der Verhandlungspartner nicht an den Tisch setzen.

Die Uneinigkeit des Westens, mühsam verkleidet durch gleichlautende Erklärungen über die Notwendigkeit, die Korridore nach Berlin offen zu halten, hat ein Unterdruckgebiet geschaffen, in dem sich Schwaden von Nebeln, von Illusionen seit Jahren eingenistet haben. Man mag diese Uneinigkeit des Westens ablesen, wo man will: an der „harten“ und „weichen“ Richtung in Washington, in den weit auseinandergehenden Meinungen französischer Politiker über die beiden Deutschland, am Schweigen Londons, an der Betroffenheit in Bonn. Zwischen zwei extremen Polen pendeln Gruppen, Interessenvertreter und nicht unbedeutend einzelne. An einem Polende dieser innerwestlichen Spannungen sitzen USA-Amerikaner, die (mit „Life“) sofortige Neuaufnahme des Kalten Krieges in stärkster Potenz, Erregung von Unruhen in den Satellitenländern fordern, mit direkter Anspielung auf Ungarn 1956. Am anderen Polende sitzt etwa Feldmarschall Montgomery, der auf dem zu seinen Ehren am 7. September in Peking von Außenminister Tschen Yi gegebenen Bankett erklärte: Drei Maßnahmen sind zur Entspannung der Weltlage nötig: Ein einziges China, das von allen anerkannt wird; die zwei Deutschland müssen weiterbestehen und von allen Ländern anerkannt werden; alle Streitkräfte müssen auf ihre nationalen Territorien zurückgeführt werden. Man kann im Westen über dieses Auftreten Montgomerys „als Politikant“ anderer Meinung sein, man kann aber nicht verhindern, daß weit über Rotchina hinaus, in Asien, Indien, Japan, Afrika diese seine Stimme als eine prominente Stimme des Westens propagandistisch vorgestellt wird.

Was tun? Das ist die Gretchenfrage an den Westen, und unser aller Existenzfrage. — Als die Russen über Nacht mit ihrer rasanten neuen Atombombenreihe begannen, erwarteten angesehene Männer des Westens folgendes: den Beginn einer großen Gegenoffensive. Diese kann, so sind sie überzeugt, nicht darin bestehen, Bombe mit Bombe zu übertrumpfen.

sondern sie fordert die entschiedene Verlagerung der großen Auseinandersetzung auf eine andere Ebene, auf die politische, auf die weltpolitische Ebene. Konkret also: den Beginn der längst angekündigten Friedensoffensive. Die Russen hatten vor Jahren eine mondiale Weltfriedensbewegung ihrer Art gestartet, die weit über östliche und kommunistische Kreise hinaus wirkte. Iht Feuerschein der neuen, einseitigrussischen Riesenexplosionen, im tödlichen Strahlraum dieser Experimente des Todes, kann die „blaue" Taube nicht fliegen. Also ist es hoch an der Zeit, die sowjetrussische Friedensbewegung durch eine andere abzulösen; durch eine größere, umfassendere, wahrhaft die ganze Menschheit umfassende. Über die Schwierigkeiten dieser erstmals wahrhaft universalen Weltfriedensbewegung sind sich die besseren Männer des Westens klar: Es kann sich hier nicht einfach und schlecht um eine Reaktion handeln, sondern um eine ureigene, aus den vitalsten Kräften der Freiheit und eines gesunden Zukunftsglaubens gespeiste Bewegung.

Am 28. Juli dieses Jahres erklärte Außenminister Rusk in Washington, es gebe „eine Reihe diplomatischer Möglichkeiten“, die Krise um Berlin zu lösen. Bis zum heutigen Tag hat die Welt nichts von solchen Möglichkeiten erfahren: Sie hat seit sechzehn Jahren nichts erfahren von einem westlichen Friedensvorschlag an die Adresse Rußlands und der Völker in Ostmitteleuropa. Seit 1952 hatte man sich weithin zur These Adenauers (des Adenauer von 1952, nicht des Adenauer vom Herbst 1961!) bekannt: Verhandlungen kommen erst in Frage auf der Basis der Stärke. Jetzt haben wir sie, die Stärke. Edward Teller, einer der Protagonisten der allerersten Atombombe, betont in diesem September 1961: Die Russen besitzen einen großen, sehr großen Vorsprung mit ihren Raketenwaffen und nuklearen Kampfmitteln.

Jeder Versuch, im Westen neue Wege, neue Mittel zu finden, etwas zu tun, wurde sofort denunziert, als „unmöglich“ abgelehnt: So erging es Kennedy mit seinem Versuch, die diplomatische Anerkennung der Äußeren Mongolei in und durch die USA durchzusetzen, so erging es Senator Mans- field mit seinem Plan, Berlin zur UNO- Hauptstadt zu erheben.

Wer vernünftig, nüchtern und selbstsicher handeln will, muß es wagen, die Wirklichkeit zu sehen. Diese sieht so aus: Die Russen empfinden Berlin als einen Pfahl in ihrem Fleisch. Dieser Pfahl soll möglichst schnell entfernt werden, bevor die Bundesrepublik Deutschland mit Atomwaffen ausgerüstet ist. Mindestens seit 1955 suchen die Russen ihr Imperium auf dem status quo zu sichern und geben ihrer Überzeugung Ausdruck: Im Westen drängen Kreise zur Machtübernahme, die uns den Gewinn des zweiten Weltkriege nehmen wollen.

Wir sprechen hier von den Russen: Es ist allen einsichtigen Politikern im Westen klar, daß auch neuzaristische Generäle und Staatsführer im Kreml mit dem Blick auf die Karte von 1942 (Höchststand der deutschen Invasionen in Rußland) und auf das wirtschaftliche Potential Westeuropas von heute und das mögliche militärische Potential der Atlantischen Gemeinschaft von morgen alle ihnen geeignet erscheinenden Mittel ergreifen würden, um die befürchtete Gegenoffensive aufzufangen.

Eben deshalb hat sich der Kreml entschlossen, am schwächsten und wundesten Punkt seines Herrschaftsbereiches ostentativ seinen Willen zur Behauptung des Gewinns des zweiten Weltkrieges zu demonstrieren: in der DDR, im Kampf um Berlin.

Zunächst ermöglichte Chruschtschow einen Regenerationsprozeß für Wirtschaft und Gesellschaft. Unverkennbar sind die Erfolge, die in der DDR zwischen 1955 und Anfang 1960 erzielt wurden. Diese DDR wurde zu einem neben der Sowjetunion wichtigsten industriellen Träger der gesamten Ostblockwirtschaft. 1960 begann die Krise. Den Anlaß zu dieser Krise hat im Frühjahr 1960 die von Ulbricht allein zu verantwortende, keinesfalls von den Russen erzwungene Zwangskollektivierung jener Einzelbauern geliefert, die zu Beginn der Kampagne noch mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche innehatten. Seither rinnt die DDR, als eine einzige offene Wunde, aus: die Flucht nach dem Westen beraubt ihr die notwendigsten Arbeitskräfte. Die DDR, noch vor wenig mehr als einem Jahr die große Hoffnung, ein Stolz, und eine feste Rechnung in allen politi;chen, wirtschaftlichen Planungen des Kremls, blutet aus: Sie verliert ihre Substanz, ihre Menschen: durch das freie Tor Berlin. Da alle Terrormaßnahmen, Stacheldrähte, Polizeimaßnahmen Ulbrichts dieses freie Tor Berlin nicht schließen können, hat sich Chruschtschow zum Eingreifen entschlossen: Der Kampf um den Zugang zu Berlin, um die Korridore, die Chruschtschow in die Verwaltung der DDR übergeben möchte, ist zur Achse der kommenden Auseinandersetzungen geworden.

Was kann der Westen zu seiner Selbstbehauptung nicht zuletzt in Ber lin als Erstes, Notwendigstes tun, um dann allmählich das Klimä zu ändern, um der Siedehitze des russischen Atomwaffenüberdrucks und seinem eigenen Unterdrück, seiner Mutlosigkeit und Aktionsunfähigkeit, zu entgehen?

Fritz Rene Allemann, Herausgeber des „Monats“, einer der klügsten Verteidiger der Sache des Westens im freien Berlin, erklärt soeben im „Monat“ (August): Der Westen soll, um freien Spielraum zu gewinnen, auf die deutschen Ostgebiete verzichten, die Oder-Neisse-Grenze anerkennen und auf die atomare Bewaffnung der Bundeswehr verzichten. Vor der Angst der Ostvölker vor einem deutschen Revanchismus dürfen wir, so erklärt Allemann, nicht die Augen verschließen. „Die Deutschen müssen einsehen lernen, daß an der Oder-Neiße-Grenze überhaupt nicht mehr zu rütteln ist, weil kein verantwortlicher Staatsmann des Westens auch nur daran denkt, die Permanenz der gegenwärtigen deutschen Ostgrenze in Frage zu stellen.“ Zudem ist es hohe Zeit, daß „die Westmächte — und zwar tunlichst im Einverständnis mit Bonn — ihrerseits den Entwurf eines Friedensvertrages vorlegen, der über ihre Ziele und die Methoden, mit denen sie diese Ziele ansteuern wollen, schlüssige Auskunft gibt“.

Im Licht dieser Notwendigkeit ist wohl die Ankündigung Eckardts vom Rücktritt Adenauers einige Zeit nach den Wahlen, seine Übergabe an Erhard zu sehen: Dieser hochverdiente deutsche Staatsmann dürfte bereit sein, mit seinem Namen den notwendigen Verzicht zu decken. Er ist dazu imstande.

Für die künftigen Verhandlungen des Westens mit dem Kreml und den’ Ostländern wünschen wir uns jene Gesinnung, die eben in diesen Tagen Papst Johannes XXIII. für alle führenden Staatsmänner, und der evangelische Bischof Hanns Lilje für die deutsche Christenheit erbitten und erbeten. Im Blick auf die Ausweisung des Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland, des Präses Scharf, aus Ost-Berlin — „der bisher schärfste Schlag gegen die Einheit der evangelischen Kirche“ — fordert Lilje: „Die Entschlossenheit, soviel an uns ist, niemals den Drohungen mit Furcht oder dem Haß mit Haß zu begegnen.“

„Wenn wir so, ohne Sentimentalität und ohne Pathos, ohne Haß und ohne Angst der Lage begegnen, werden wir an unserem Teil helfen, die dämonischen Mächte, die hinter und unter den Maßnahmen am Werk sind, zu entmachten.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung