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Der Ringkampf begann am Morgen...

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Paris, Ende Mai

Eine einzige französische Partei hat seit dem Jahre 1947 (Ausscheiden der Kommunisten) ständig an allen Regierungsgeschäften teilgenommen: Es sind dies die Radikalsozialisten, die in der Dritten Republik als der Typ einer französischen Partei galten. Allerdings zeigten die Radikalsozialisten bis vor kurzem nicht alle Eigenschaften einer Partei, wie wir sie uns bei modernen Massenparteien vorstellen. Sie bildete vielmehr eine Gemeinschaft festumrissener Interessen und rechnete mit Wählern aus sozial sehr klar umgrenzten Schichten. Die Radikalsozialistische Partei, laizistisch, mit gewissen freimaurerischen Einflüssen, vertritt eine eindeutig liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Sie verfügt über eine Reihe ausgezeichneter politischer Begabungen, wie Rene Mayer, Edgar Faure und Mendes-France.

Seit Jahren wurde diese Partei durch eine Art Rat der Alten geleitet, der in jeder Beziehung einen Status quo vertreten wollte. Wächterin republikanisch-jakobinischen Gedankengutes und Traditionen, konnte sie sich teilweise nicht mit der Fülle neuer wirtschaftlicher Probleme oder mit den Entwicklungen in den überseeischen Gebieten befreunden. Sie weiß, daß sie in den letzten Wahlen meistens in einer Allianz mit den Unabhängigen (rechtsstehend) ihre Positionen halten konnte. Diese Versuche, sowohl mit den Sozialisten wie mit den Rechtsparteien in Fühlung zu bleiben, hinderte jedoch nicht ein sichtbares Abbröckeln. 1946 vereinigten die Radikalsozialisten noch 11,5 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich. 1951 müssen sie sich mit 9,9 Prozent zufrieden geben. Trotzdem bewahrten sie ihre Schlüsselposition in der französischen Innenpolitik und stellten den Großteil der Ministerpräsidenten.

Die Radikalen haben sich mit der UDSR (Partei Pleven) und anderen Splitterparteien in einer Dachorganisation zusammengeschlossen, die sich RGR (Rassemblement de la Gauche Republi-caine) nennt und eine gemeinsame politische Organisation im ganzen Lande darstellt. Die Parteiführung der Radikalen wagte es jedoch nicht, alle jene Impulse, die auf eine Reform drängten, zu verarbeiten und der Partei eine von vielen Anhängern nachdrücklich verlangte Neuorientierung zu geben. Queuille und besonders Martinaud-Deplat fühlten sich als die absoluten Herren des Parteiapparates und bezeichneten sich selbst als die Schiedsrichter der-französischen Innenpolitik. Sie zeichneten sich durch außergewöhnliche taktische Geschicklichkeit aus, waren zumeist das Zünglein an der Waage gegenüber andern Parteien anläßlich der Regierungskrisen, konnten jedoch nicht eine Einheit in der eigenen Partei herstellen.

Die Spannungen nahmen während des Experimentes Mendes-France noch zu. Der neue Ministerpräsident begeisterte nicht nur einen Teil der - jüngeren Parteimitglieder, sondern verstärkte auch die Diskussion über die Zukunft des Radikalsozialismus schlechthin. Feststeht, daß die offizielle Parteileitung und ein sehr einflußreicher Flügel unter Rene Mayer, Mendes-France mit ihrer offenen Feindschaft bedachten. Im Herbst vergangenen Jahres fand der Jahreskongreß in Marseille statt. Mendes-France stand damals auf dem Höhepunkt seine Karriere als Ministerpräsident, versprach er doch neue Methoden in der Außen- und Wirtschaftspolitik und eine dynamischere Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Der Alterspräsident Herriot bezeichnete ihn als seinen geistigen Nachfolger und als den neuen Chef der Partei. Aber Letzterer konnte die Wiederwahl seines Gegners Martinaud-Deplat zum administrativen Parteipräsidenten nicht verhindern. Damit blieb die Organisation der Radikalsozialistischen Partei außerhalb der Einflußsphäre des Ministerpräsidenten, und da auch die parlamentarische Gruppe mehr Gegner als Freunde aufwies, konnte sich Mendes-France niemals auf die Unterstützung seiner eigenen Partei verlassen. Am 28. Februar stimmten 28 radikale Abgeordnete mit dem Großteil der Unabhängigen und dem gesamten MRP gegen Mendes-France und erzwangen damit seinen Rücktritt. Ja, noch mehr, die eigentlichen Urheber der damaligen Regierungskrise kommen aus den Reihen der Radikalen.

Es zeigte sich jedoch in der Folgezeit, daß in der derzeitigen Konstellation Frankreichs nur zwei Parteigruppen mit Erfolg Anspruch auf den Sitz des Ministerpräsidenten stellen können: die Radikalsozialisten und die Unabhängigen. Nach wie vor überschattet die Alternative Mendes-France—Pinay die französische Innenpolitik. Sowohl die Versuche Pineaus (SFIO) und Pflimlins (MRP) scheiterten, und es war nur zu logisch, daß Edgar Faure, Radikalsozialist, die Führung der Regierung übernahm. Dem gestürzten Ministerpräsidenten wurden verschiedenste Dinge nachgesagt, um sich für die Wahlen des kommenden Jahres die entsprechende Plattform zu sichern. So stand die Gründung einer neuen, nichtkommunistischen Linkspartei in Erörterung, oder die Formierung einer Gruppe im Parlament, die sich aus seinen Anhängern von Ex-Gaullisten bis zu den Sozialisten zusammensetzen sollte, um damit alle jene Elemente zu umfassen, die nicht nur die Politik, sondern den Mythos Mendes-France zu akzeptieren gedachten. Damit wäre es zu einer teilweisen Auflösung des bisherigen französischen Parteiwesens gekommen. Diese Hypothese wurde sehr oft erwogen, die kürzlich stattgefundenen Generalratswahlen (eine Art von Provinzlandtagen) sprechen aber von einer ganz anderen Tendenz. Sie bestätigen alle bisherigen traditionellen Parteien, und dies in einem überraschenden Ausmaß. Sowohl die Bewegung Poujade wie alle Neugruppierungen der nichtkommunistischen Linken wurden vernichtend geschlagen.

Die gemäßigte und kluge Politik Pinays, Faures und Pflimlins entschärfte eine Reihe von Konflikten, kann jedoch die stärker werdenden Spannungen in der Schulfrage nicht verhindern. Es dreht sich dabei um die Anzahl staatlicher Stipendien, die den 80.000 Schülern landwirtschaftlicher konfessioneller Schulen und Kurse zugewiesen werden sollen. Man bedenke, daß sich nur 60.000 Schüler in entsprechenden staatlichen Institutionen befinden, um die Größe des Problemes zu ermessen. Die Radikalsozialistische Partei verfolgt die Schulpolitik der Regierung mit sichtlichem Mißtrauen. Sie trifft sich dabei mit den Sozialisten und findet jenen Anschluß an links, der stets gewünscht wurde. Manchmal tauchen auch die Träume von einer Volksfront wieder auf, sie werden jedoch bei den Radikalen nicht zu ernst genommen.

Das in Kraft stehende Wahlgesetz ist auf die Allianz verschiedener Parteien aufgebaut. Mehr als jede andere Partei müssen die Radikalsozialisten sich auf derartige Koalitionen vorbereiten. Diese Motive trugen dazu bei, um den Ruf nach einer ausführlichen Aussprache in der Partei immer lebhafter werden zu lassen. Mendes-France hatte sofort nach seinem Sturz die Einberufung eines außerordentlichen Parteikongresses gefordert, um Rechenschaft über den „Dolchstoß“ zu verlangen, der sein Experiment unterbrochen hatte. Herriot wollte der Partei eine neue Gesamtorientierung geben, da er sich mit der bisherigen Außenpolitik nicht einverstanden erklären konnte. Die jüngeren Mitglieder wieder stimmten in den Ruf nach Demokratisierung der Partei ein und zeigten sich nicht länger gewillt, den engen Rahmen, in dem sie durch die Parteiführung eingepreßt wurden, zu dulden.

Martinaud-Deplat versuchte durch drei Monate, diesen außerordentlichen Kongreß zu verhindern, mußte aber schließlich dem Drängen starker Bezirksorganisationen nachgeben. Er versuchte aber die Sitzung mit allen klassischen Mitteln politischer Regie zu leiten. Für die Aussprache war nur ein Tag vorgesehen. Die Tagesordnung, außergewöhnlich beschränkt, sah lediglich das Studium der Wahlbündnisse vor. Die Teilnehmerkarten sollten nach bestimmten Gesichtspunkten ausgegeben werden. Der Saal selbst mußte ab Abend geräumt werden, um der köstlichen Vorstellung eines edlen Sportes, der sich Catch nennt, zur Verfügung zu stehen. Wahrscheinlich waren alle diese Vorsichtsmaßregeln zu klug eingefädelt oder hatte man bereits unvorsichtigerweise in der Früh die Atmosphäre wilder Ringkämpfe beschworen? Der Kongreß war in jeder Weise außerordentlich. Unter wilden Pfeifkonzerten, gegenseitigen Beschuldigungen, tätlichen Angriffen, mußte Martinaud-Deplat mit einem Teil der bisherigen Parteileitung weichen. Mendes-France, ander Spitze einer Siebenerkommission, übernahm die Reorganisation der Radikalsozialistischen Partei und erhielt bei dieser Gelegenheit neuerlich durch Herriot die republikanische Weihe. Er verkündete sofort die absolute Linksorientierung der Partei. Diese Ereignisse wirkten — man kann wirklich nicht übertreiben — in allen politischen Kreisen von Paris wie eine Bombe. Alle Berechnungen hinsichtlich der nächsten Wahlen sowie die Zusammenarbeit der Parteien bis zum Ende der Legislaturperiode sind in Frage gestellt.

Alle unparteiischen Beobachter sind sich darüber einig, daß ein klares Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit in den Tumulten des Parteikongresses nicht festgestellt werden konnte. Die bisherige Parteileitung sowie eine starke Gruppe der Parlamentarier haben bereits die Richtigkeit der Abstimmung angefochten und weigern sich, die Parteilokale, die Kassa sowie die Karteien dem neuen Führungsgremium zu übermitteln. Mendes-France bemüht sich derzeit, im Parlament die demokratische Art genannter Abstimmung unter Beweis zu stellen. Der ganze Vorgang trägt jedoch zu deutlich das Zeichen seiner Methode, so daß man nur sagen kann: der bessere Regisseur hat vorläufig den Preis davongetragen. Auf wie lange? Die Zahl seiner Gegner ist in der eigenen Partei im Wachsen und ein heftiger Kampf ist vorauszusehen. Eine Spaltung der Radikalsozialistischen Partei ist nicht von der Hand zu weisen. Die neue Linksorientierung der Partei stellt die französische Innenpolitik vor schwierige Probleme. Mendes-France vertritt nach wie vor die Ansicht, daß die fünf Millionen kommunistischer Wähler nur durch eine moderne Form einer politisch-revolutionären Partei gewonnen werden können. In der Tat zeigen sämtliche Nachwahlen einen leichten, aber deutlichen Rückgang der Kommunistischen Partei. Davon haben im allgemeinen meistens die Sozialisten profitiert. Auf der anderen Seite steht auch das Erbe der Gaullisten vollständig offen. Von dort her erhofft Mendes-France übrigens einen starken Zuzug, um, auf eine mächtige, festgefügte Partei gestützt, neuerlich in die Arena einzutreten. Er zählt dabei auch auf die Erwartungen der jüngeren Generation, welche den bisherigen Parteien sehr oft Kühle, ja Feindschaft entgegenbringt.

Es wird abzuwarten sein, wie weit die ruhige und sachliche Arbeit Faures bei den Wählern Anklang findet, oder ob die dynamischen Aktionen, welche auch die Phantasie anregen, in Frankreich künftighin den Vorrang haben sollen. Wer jedoch den Individualismus der Franzosen kennt, wird wissen, daß auch Mendes-France, genau so wie 1947 General de Gaulle, niemals alle politischen Kräfte des Landes sammeln kann.

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