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Der Schlüssel zu Afrika

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Paris, im Juli 1956 Während Schiff auf Schiff Menschen und Material in nicht abreißender Folge nach Algerien bringt und damit die bisher größte französische Armee seit Kriegsende konstituiert wurde, die bereits mehr als 400.000 Mann zählt, müssen der- Regierungschef und 4er General--resident auf dem sozialistischen Parteitag in Lille die Gegensätze in der eigenen Partei ausgleichen, die sichtbar an die Oberfläche gedrungene Malaise zurückdrängen und den Versuch unternehmen, ihrer Algerienpolitik eine Definition zu' geben. — Denn die Unruhe unter den sozialistischen Anhängern, wie in allen übrigen Parteien, ist lebhaft und wächst zusehends. Die Schwierigkeit wird auch der öffentlichen Meinung bewüßt, und die psycho- 1 logischen Rückwirkungen, wie beispielsweise die Abschlachtung der Rekruten in Palestro. beeinflussen die Haltung der Regierung und des Parlaments.

Der Krieg ist wieder aus den dumpfen Niederungen aufgestiegen, opfert Kinder und Frauen, während ein Nebel von fanatischer Grausamkeit

• und überspitztem orientalischen Nationalismus ein objektives Urteil über die derzeitige Situation vielfach verhindert. Die Regierung Mollet hat bisher noch keinen eindeutigen Plan vorgelegt, in welcher Weise sie die Feindseligkeiten zu beenden gedenkt. Ob man will oder nicht, der Krieg ist keine rein französische Angelegenheit. Tito wird ebenso bemüht wie Nehru. Die Gesprächspartner der französischen Regierungsdelegation in Moskau beschäftigten sich aktiv mit dem Thema. Zwischen Kairo Und Damaskus, London und Rabat laufen die Fäden, überschneiden sich die Interessen und werden Projekte ausgearbeitet, die jedoch keinen konkreten Ansatzpunkt für ein konstruktives Gespräch bilden. Die algerischen Nationalistenfübrer sind die Verhandlungspartner. Und wenn nicht, mit wem kann Kontakt aufgenommen werden? Ist die Ar?bische

Liga dafür zuständig oder eine noch nicht bestehende algerische Nationalversammlung? Und welches wird die Stellung der eben zur Souveränität aufgestiegenen Staaten Tunis und Marokko sein, die sich in immer stärkerem Ausmaß an den algerischen Ereignissen beteiligen?; Der: bisher gttnäßigteste unter den Chefs der algerischen Nationalisten, F e r h a t A b b a s, versucht die sich befehdenden Tendenzen des algerischen Nationalismus, die Nationale, Algerische Bewegung (Messali Hadje) und die Front der. NationalenBefreiung (Ben' Bella), in eine einheitliche Organisation für die Unabhängigkeit Algeriens zu sammeln. Dieses „MaghrehrKomitÄe“ proklamiert die vollkommene Trennung von Frankreich und sieht als 'Ziel des Aufstandes die Ausrufung einer algerischen Republik vor. Das Komitee, welches in Kairo seinen Sitz hat, wird von Nasser mehr oder weniger ausgehalten. Eine politische Lösung des Konflikts wurde über diese Wünsche hinaus nicht vorgelegt.

Die französische Regierung, wie alle Rechtsund Mittelparteien, haben immer wieder feierlich betont, daß eine „marokkanische Lösung“ für Algerien nicht denkbar sei. Algerien bedeutet den Schlüssel zur Sahara mit riesigen Bodenschätzen und Erdölvorkommen. Es bewacht den Weg zur Mitte Afrikas, und über eineinhalb Millionen weißer Franzosen leben in dem Lande, das seit Generationen als französisches Departement und nicht als Kolonie angesehen wurde.

Der Generalresident Lacoste hofft, bis Ende des Sommers eine militärische Pazifizierung herbeiführen zu können. Dieser sein Optimismus wird nicht von allen Kennern der Materie geteilt. Lacoste schlägt auch die sofortige Abhaltung von Gemeindewahlen nach der Niederschlagung der Rebellion vor, um dadurch auf lokaler Ebene eine autochthone Vertretung zu schaffen. Eine ausgedehnte administrative Dezentralisierung und die Bildung einer Pro-vinzialregierung würde die logische Folge sein. Der Präsident dieser algerischen Regierung wäre weiterhin automatisch Mitglied der.,fran-zösischen Regierung. Ob sofortige Wahlen in einem aus tausend Wunden blutendem'Lande möglich'“Sind, in dem die Leidenschaften bi zum äußersten aufgepeitscht wurden, erscheint

.mehr als problematisch. Entweder wefij'en die Wähler unter dem Terror der Fellachen keine freie Aeüßerung ihres politischen Willens wagen oder durch Kunstgriffe untergeordneter Beamter

; des Generalreridenten die Ergebnisse einseitig interpretiert.

Die Vorschläge Nerirus wurden von den Tinkskreisen als Grundlage eines Waffenstillstandes betrachtet. Der indische Ministerpräsident forderte eine feierliche Erklärung der gegnerischen Parteien, die kriegerischen Operationen zu beenden, die nationale Einheit Algeriens anzuerkennen und die Persönlichkeit der algerischen Nation zu achten. Dieser Plan fand in den arabischen Hauptstädten viel Beachtung. Frankreich hat sich dazu offiziell noch

' nicht geäußert.'

Gefährliche Nachbarschaft: Marokko

Trotzdem wird die schnelle Beendigung des Krieges in Algerien darüber entscheiden, ob die. drohende Anarchie in einem weiten Teil Nordafrikas gebannt werden kann. Am 20. Mai wurden die Protokolle von.Rabat unterzeichnet, die Marokko die vollständige Souveränität geben. Das Cherifenreich begann sofort mit der Aufstellung einer eigenen Armee von ungefähr 15.000 Mann. Doch daneben stehen noch immer starke Verbände der französischen Armee, deren Rolle theoretisch darin besteht, die Interessen der weißen Siedler zu verteidigen und die marokkanisch-algerische Grenze zu überwachen. Die französischen Truppen sind ständigen Angriffen ausgesetzt, und in den Reihen der hohen Offiziere zeigt sich eine nur zu begreifliche Unruhe. So muß diese im Schatten lebende Armee zusehen, wie durch oft peinliche und kleinliche Maßnahmen der europäische Einfluß zurückgedrängt wird. Doch damit nicht genug, hat sich in Marokko noch eine dritte Armee gebildet, die sich „Armee der Befreiung“ nennt und bereits ganze Landstriche kontrolliert. Dem Sultan, dessen ausgleichender Charakter hervorgehoben werden muß, ist es night gelungen, die Freiheitsarmee zu entwaffnen oder in die regulären Verbände einzugliedern. Wie in ähnlichen und bekannten historischen Fällen finden sich in der Freiheitsarmee Idealisten und Abenteurer, oft auch einfach Wegelagerer und Banditen. Meistens stammen sie aus der ehemaligen spanischen Zone. Unterführer kämpfen um Einfluß, neigen zur Dissidenz und sehen im Kriege die einzige, wenngleich recht fragwürdige Rechtfertigung ihrer Existenz.

Während der Parade der offiziellen marokkanischen Truppen lagerten starke Teile der Freiheitsarmee um Rabat, und ihr Führer, der Arzt Khatib, ließ sich- in vollem Kriegsschmuck neben dBr Sultansträiüne -bewundern. Die Freiheitsarmee fordert die restlose Unabhängigkeit Marokkos, auch die geringste Bindung zu Frankreich soll gelöst und Algerien im Sinne der Politik der Arabischen Liga befreit werden.- Ihr Schlagwort von der Solidarität Nordafrikas erweist sich vielfach als stärker als der Wille des Sultans zur Verständigung mit der früheren Protektoratsmacht. Die Befreiungsarmee hat ihre Hauptstützpunkte an der algerischen Grenze eingenommen. Dort werden die Fellachenregimenter ausgebildet und ausgerüstet. Der Sultan ist sich der unerhörten Gefahr bewußt, welche von Seiten dieser Privatarmee droht. Denn die Einheit Marokkos ist in Frage gestellt. Es ist nur zu verständlich, daß Mohammed V. in das Konzert aller jener einstimmt, die den sofortigen Frieden in Algerien anstreben. Die marokkanische Regierung war gezwungen, indirekt die Befreiungsarmee anzuerkennen. So werden ihre Kommentare durch den staatlichen Informationsdienst verbreitet, aber ein Zusammenstoß zwischen den drei Armeen kann bei Fortführung des Krieges in Algerien vorausgesagt werden.

Hilfe aus Tunis? Doch neben Mohammed V. ist eine neue profilierte Persönlichkeit in den Kampf um die Zukunft Nordafrikas eingetreten: der Chef der tunesischen Regierung, Bourgiba, der immer mehr in die Rolle des Staatsmannes hineinwächst. Er konnte seinen moralischen Einfluß weit über die Grenzen seines Landes ausdehnen und wird immer häufiger als eventueller Vermittler im algerischen Krieg angesprochen. Der Chef des Neo-Destour ist eine Schlüsselfigur der Ereignisse, und von seinem Verständigungswillen oder seiner Intransigenz hängt es vielfach ab, ob die Erde Nordafrikas weiterhin mit dem Blut der Europäer und Eingeborenen getränkt werden soll. In vier Monaten hat Bourgiba eine stille, aber ebenso erstaunliche Reyo-Jution m Tunis dHrchgefuhrt.ini Februar dieses Jahres würden' die Protokolle vom 3. Juni 1955, die Tunis eine beschränkte Unabhängigkeit gegeben hatten in Paris revidiert. Und am 15. Juni gewährte Frankreich die vollständige

Unabhängigkeit. Bourgiba begann sofort, diplomatische Vertretungen einzurichten und den Kern einer Armee von 15.000 Mann aufzustellen. Das von ihm vorgelegte Staatsbudget ist ausgeglichen. Es gelang ihm auch, die öffentliche Ordnung und Sicherheit einigermaßen herzustellen. Sein Hauptgegner, Salah ben Youssef, träumt wohl noch in Tripolis von einem bewaffneten Aufstand, der Bourgiba und den Rest des französischen Einflusses beseitigen würde. Die sporadischen Aktionen der Youssefisten beunruhigen vorläufig jedoch nicht einen Staat, der an Stelle der Anarchie den Ausgleich und die Zusammenarbeit zu setzen versucht hat. Bourgiba reorganisierte auch die Verwaltung. Dem Bey wurden fast alle Rechte entzogen und sogar seine Zivilliste — o Schreck aller Schrecken — auf das empfindlichste gekürzt. Fünfzehn Gouverneure, engste Anhänger Bour-gibas, kontrollieren das Land und suchen eine moderne Verwaltung nach westlichem Muster zu errichten. Bourgiba hofft auch auf den Abzug der letzten französischen Truppen, obwohl keine französische Regierung der Räumung Bizertas zustimmen kann. Dieser Hafenstadt kommt eine zu große Bedeutung im Rahmen der Verteidigung des Mittelmeeres zu. Der Regierungschef sucht von Frankreich eine Anleihe von zwanzig Milliarden zu erhalten, um eine Industrie aufzubauen und die Landwirtschaft zu modernisieren. — Schließlich schlug er die Bildung einer Konföderation vor, in die neben Frankreich Tunis, Marokko und Algerien als gleichberechtigte Partner eintreten sollen. Dieses Projekt fand bereits die Zustimmung des marokkanischen Kronprinzen. .

Ist hier ein Reformator aufgetreten, der weiß, daß der von gewissen arabischen Führern geprägte Supernationalismus keine Lösung bedeutet und weltpolitisch nur gefährlichen Sprengstoff anhäuft? Auf alle Fälle spielt sich in Nordafrika ein Schauspiel unerhörten Ausmaßes ab. Die bisher üblichen westlichen Lebensformen sollen durch eigenständige ersetzt werden. Die Technik dringt in breiter Front in eine bäuerliche und Nomadenbevölkerung ein. Eine Arbeiterklasse entsteht, die politischen Eliten sind noch nicht fest geformt, Nationen bilden sich im Gluthauch des Krieges und des Terrors, Begleiterscheinungen einer schmerzhaften Geburt. Die Konturen eines neuen internationalen Kraftfeldes zeichnen sich ab. Von Karachi bis Rabat ist eine bisher statische Welt in Bewegung geraten. Wie wird Europa darauf antworten? Sind die Probleme in dem Umfang erkannt, und wenn ja, kann di westliche Welt dem erwachenden Islam politisch und geistig begegnen? Durch zehn Iahre hat Westeuropa wie hypnotisiert nur nach der. einen Richtung des Ostens geblickt und dabei vergessen, daß inzwischen Nordafrika begonnen hat, seine eigene Zukunft zu suchen.

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