"Der Sieg über Hitler ist heilig!"

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60 Jahre Kriegsende - auch ein "Gedankenjahr" für Russland? "Ja", sagt der Moskauer Historiker und Menschenrechtsaktivist Arsenij Roginskij - sowohl was die triumphale als auch was die tragische Seite des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland betrifft. Ein furche-Gespräch über Vergangenheitsbewältigung und Großmachtstreben in Russland.

Die Furche: Herr Roginskij, welche Bedeutung hat das heurige Jubiläumsjahr, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, für die Russen?

Arsenij Roginskij: In der russischen Gesellschaft gibt es eine eigene, eine sehr ambivalente Beziehung zu dieser Zeit. Der Sieg im Krieg war ein großer Sieg - das ist wahr. Der Sieg über den Faschismus, der Sieg über Hitler ist eine heilige Sache. Aber wir Russen müssen uns auch daran erinnern, welchen Preis wir für diesen Sieg zahlen mussten. Der Genosse Stalin hat für diesen Sieg sehr viel mehr Menschenleben hingegeben, als er hätte hingeben müssen. Der Krieg war nicht nur eine Epoche des Sieges, sondern auch eine Epoche des Verbrechens - und das dürfen wir nicht vergessen.

Die Furche: Wie groß ist die Stalin-Nostalgie im heutigen Russland?

Roginskij: Es gibt keine Stalin-Nostalgie in der Bevölkerung. Die älteren Leute haben eher eine Nostalgie in Bezug auf die Breschnew-Zeit. Damals war es ruhig und stabil, ein bisschen so wie im Honecker-ddr-Reich. Die Nostalgie bezüglich der Stalin-Zeit hat eher einen symbolischen Charakter. Es ist auch eine Nostalgie, die von ganz oben propagiert wird. Stalin ist das Symbol einer Großmacht, Stalin hat uns die Atombombe gebracht. Die ganze Welt hat sich vor Stalin gefürchtet, er hat das sowjetische Imperium aufgebaut. Das sind doch genau die Symbole, die uns jetzt Putin nahe bringen will.

Die Furche: Präsident Putin hat dieser Tage angekündigt, Russland werde eine völlig neuartige Atombombe produzieren - findet diese Politik Anklang in der Bevölkerung?

Roginskij: Die Ankündigung, neue Atomwaffen zu bauen, hat mit Putins imperialen Ambitionen zu tun. Ich sehe da auch nichts Schreckliches darin, wenn er das machen will, soll er das machen. Wenn Russland für solche Dinge Geld findet - in der Bevölkerung trifft das jedenfalls auf Zustimmung. Aber letztendlich ist Russland immer noch ein ziemlich armes Land, und man könnte dieses Geld sicher besser investieren: in Bildung, in Wissenschaft, in verschiedene soziale Programme...

Die Furche: Memorial, die Organisation, die Sie vertreten, findet im Ausland große Anerkennung - wie sieht es damit in Russland aus? Ist Ihr kritischer Blick auf die Vergangenheit auch zuhause willkommen?

Roginskij: Mitte der 90er Jahre war unsere Arbeit sicher eine Randposition, das war in der Zeit als es die größten sozialen Probleme gab. Aber inzwischen kommt das Interesse an der Vergangenheit wieder Schritt für Schritt ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Aber es ist auch eine Kampfposition: Die Staatsmacht versucht mehr und mehr sehr stark staatsorientierte - man kann fast schon sagen totalitäre - Stereotypen in das Massenbewusstsein einzubringen. Wenn man den Leuten hingegen die Augen für die Wahrheit der sowjetischen Vergangenheit öffnen will, ist das natürlich eine völlig entgegengesetzte Position. So kommt es, dass wir in unserer Arbeit, sowohl was den Einsatz für Menschenrechte als auch die Vergangenheitsbewältigung betrifft, Opponenten von Herrn Putin sind.

Die Furche: Wie interpretieren Sie Putins Vorgehen gegen die Oligarchen? Sind Sie vielleicht da einer Meinung mit dem Präsidenten?

Roginskij: (lacht) Ich weiß nicht, ob es einen Punkt gibt, bei dem ich mit Herrn Putin übereinstimme. Mag sein auf der rhetorischen Ebene. Putin sagt: "Ich liebe Russland" - und ich sage auch: "Ich liebe Russland!" Aber das ist eine jeweils andere Form von Liebe. Der Kampf Putins mit den Oligarchen ist eine Umverteilung des Eigentums in Richtung des Staates oder anderer neuer Strukturen. Die Wirtschaft darf aus Putins Sicht keinesfalls unabhängig sein. Die Oligarchen müssen ihr Geld dafür ausgeben, wofür der Kreml sagt, dass sie es ausgeben sollen. Sie können sich auch gerne Villen und Schiffe kaufen, aber sie dürfen auf keinen Fall ihr Geld für gesellschaftliche Organisationen oder politische Initiativen verwenden, wenn es nicht vom Kreml ausdrücklich genehmigt wird.

Die Furche: Ungeachtet der Warnungen aus dem Kreml hat die Ukraine einen Kurswechsel vollzogen - welchen Einfluss hat die orangene Revolution in der Ukraine auf die Opposition in Russland?

Roginskij: Ich bin überzeugt, dass die orangene Revolution einen positiven Einfluss auf die Zivilgesellschaft in Russland hat. In den letzten Jahren hat sich in der russischen Bevölkerung eine Apathie breitgemacht, weil man nicht mehr glaubt, dass man irgendetwas ändern kann. Erneut greift der Eindruck um sich - wie in der sowjetischen Zeit -, dass der Mensch nur ein kleines Rädchen und der Staat allmächtig ist. Die Ukraine hingegen gibt neue Energie und setzt neue Hoffnungen frei, dass sich auch bei uns etwas ändern kann.

Die Furche: Muss Präsident Putin sich fürchten?

Roginskij: Er fürchtet sich nicht, er glaubt nicht, dass in Russland Ähnliches passieren kann. Aber trotzdem wird er aus Vorsicht eine Reihe von Schritten zur Verteidigung seiner Macht setzen. Er wird noch mehr als bisher versuchen, die Machtvertikale zu stärken, damit es neue politische Bewegungen noch schwerer haben, aufzutauchen.

Die Furche: Im Fall der Ukraine ist es auch zur ersten wirklichen Konfrontation zwischen der eu und Russland gekommen? Welche Russland-Politik wünschen Sie sich in Zukunft von der eu?

Roginskij: Ich möchte keinesfalls einen Zusammenstoß heraufbeschwören. Was ich mir aber wünsche, ist eine feste Position der eu bei allen Fragen, die die Menschenrechte und die Entwicklung der Demokratie in Russland betreffen - zum Beispiel in Tschetschenien. Dort werden dauernd Menschenrechte verletzt, Europa darf da nicht wegschauen. Die eu ist eine sehr starke Organisation geworden, und mir scheint, dass es Putin ein großes Anliegen ist, nicht isoliert von Europa zu leben. Die feste Position der eu in der Ukraine-Krise hat eine sehr positive und konstruktive Auswirkung gehabt. Und eine feste Position gegenüber Russland oder auch Weißrussland wird eine ähnliche positive Auswirkung haben.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

Vom Polit-Häftling zum Nobelpreis

"Neuen Anschub und moralische Unterstützung", sagt Arsenij Roginskij, habe der Alternative Nobelpreis "Right Livelihood Award 2004" für die Menschenrechtsorganisation Memorial (Gedenken) gebracht. Die Organisation wurde 1988 in Moskau gegründet, ihr erster Vorsitzender war Andrej Sacharow. Ausgezeichnet wurde Memorial, weil sie die Schrecken der Gulags unter Stalin dokumentiert, Angehörige der Opfer unterstützt und sich generell um die Einhaltung der Menschenrechte in Russland aber auch in der Ukraine, Polen, Lettland und anderen Ländern des früheren Ostblocks kümmert. Arsenij Roginskij wurde 1946 in Welsk, auf halber Strecke zwischen Moskau und dem Weißen Meer, geboren. In Konflikt mit der sowjetischen Staatsmacht kam Roginskij als Herausgeber des Journals "Samisdat", das die Geschichte der politischen Verfolgung und der Menschenrechte in der UdSSR zum Thema machte. Von 1981 bis 1985 war Roginskij politischer Gefangener, 1992 wurde er rehabilitiert. 1988 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern von Memorial und ist seit dieser Zeit im Leitungsausschuss der Menschenrechtsorganisation vertreten. Im Jahr 2000 war er einer der Gründer von "Narodnaja Assambleja", der wichtigsten Dachorganisation von unabhängigen Nicht-Regierungsorganisationen in Russland.

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