7094435-1994_41_03.jpg
Digital In Arbeit

Der Spielraum des Präsidenten

19451960198020002020

Zumindest einmal in vier Jahren hat der Bundespräsident die Möglichkeit, konkret in die Politik einzugreifen: bei der Regierungsbildung

19451960198020002020

Zumindest einmal in vier Jahren hat der Bundespräsident die Möglichkeit, konkret in die Politik einzugreifen: bei der Regierungsbildung

Werbung
Werbung
Werbung

Bundespräsident Thomas Klestil läßt Franz Vranitzky und Erhard Busek zappeln: bereits vor dem Wahlsonntag ließ er die Parteichefs von SPÖ und ÖVP wissen, daß er am Tag nach der Wahl nicht für Sondierungsgespräche zur Verfügung stünde. Am Montag teilte Klestil mit, er wolle zunächst mit allen fünf Parteichefs Gespräche führen. Was Klestil damit signalisieren will, ist klar: Er denkt nicht daran, in eine passive Rolle eines „Staatsnotars“ zu schlüpfen und dem Chef der mandatsstärksten Partei - also Kanzler Franz Vranitzky - „ohne Wenn und Aber“ freie Hand bei der Regierungsbildung zu geben.

Klestils Vorgangsweise ist weniger ungewöhnlich, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Er kann — wie Beispiele aus der Vergangenheit zeigen - den Auftrag zur Regierungsbildung mit der Vorgabe einer bestimmten Koalitionsform verknüpfen. Er könnte aber auch von der bisherigen Konvention abgehen, und - sollten etwa erste Koalitionsgespräche scheitern — andere Regierungskonstellationen initiieren.

Welche Rolle spielt nun der Bundespräsident bei der Bildung der neuen Regierung? - Lapidar stellt der Artikel 70 der Bundesverfassung fest: Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder Manfried Welan so: „Bei absoluter parlamentarischer Mehrheit eines Kanzlerkandidaten wird der Ent- sch’eidungsspielraum des Bundespräsidenten auf null reduziert. Bei starker relativer Mehrheit eines Kanzlerkandidaten schrumpft der Spielraum umso mehr, je mehr sich der Kandidat auf eine von ihm veran- laßte sichere Koalitionsmehrheit stützen kann. Bei relativer Mehrheit eines Kanzlerkandidaten ohne sichere Koalitionsmehrheit ist der Bundespräsident relativ frei.“

Tatsächlich war es seit der derzeit geltenden Bundesverfassung von 1929 vor 1938 durchaus üblich, nicht den Chef der mandatsstärksten Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen: so beauftragte Bundespräsident Wilhelm Miklas 1930 nicht die Sozialdemokraten mit der Regierungsbildung, sondern die Christlich-Sozialen, die sich auf eine Koalition mit den Großdeutschen und dem Landbund stützten.

Auch in der Zweiten Republik waren die jeweiligen Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung mit kniffligen Aufgabenstellungen konfrontiert: 1953 beauftragte Bundespräsident Theodor Körner OVP- Parteichef Leopold Figl mit der Regierungsbildung und begründete damit die Konvention, wonach die mandatsstäikste Partei mit der Regierungsbildung beauftragt wird, nicht die stimmenstärkste — das wäre nämlich in diesem Falle die SPÖ gewesen. Gleichzeitig ließ Körner Figl erkennen, daß er unter keinem Fall einer Regierungsbeteiligung des WdU - der FPÖ-Vorgängerpartei - zustimmen würde, 1966 beauftragte Bundespräsident Franz Jonas den über eine absolute Mandatsmehrheit verfügenden ÖVP-Wahlsieger Josef Klaus mit der Bildung einer ÖVP-SPÖ-Koalitions- regierung. Erst als sich die SPÖ verweigerte, ließ Jonas eine Alleinregierung der ÖVP zu. 1970 wiederum beauftragte Jonas Wahlsieger Bruno Kreisky mit Koalitionsgesprächen mit der ÖVP. Als diese scheiterten, gab Jonas Kreisky freie Hand für die Regierungsbildung und akzeptierte schließlich eine von der FPÖ unterstützte Minderheits-Alleinregierung der SPÖ. Nach dem Ende der Kreisky-Ära erfolgte der Regierungsbildungsauftrag für den damaligen SPÖ-Chef Fred Sinowatz durch Bundespräsident Rudolf Kirchschläger nach erfolgreichen Sondierungsgesprächen zwischen SPÖ und FPÖ.

In der Praxis ist Klestils Spielraum freilich eingeengt: lediglich SPÖ und ÖVP haben erklärt, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung