Der Staat zwingt zur Korruption

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Präsident Schewardnadse wurde eindrucksvoll in seinem Amt bestätigt und dementiert den Vorwurf des Wahlbetrugs.

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Präsident Schewardnadse wurde eindrucksvoll in seinem Amt bestätigt und dementiert den Vorwurf des Wahlbetrugs.

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Wenn es eine Steigerung der Traurigkeit von Triest gibt", befand der Schriftsteller Clemens Eich, "dann ist es die Traurigkeit von Tiflis." Er litt unter der Kälte der schlecht beheizten Häuser, den stinkenden Ölöfen und dem ständigen Stromausfall. Die triste Beschreibung Eichs muß an der Jahreszeit gelegen haben, in der er die georgische Hauptsstadt besuchte, denn wer im Frühjahr oder im Herbst nach Tiflis kommt, ist vom mediterranen Flair angenehm überrascht. Die Platanenalleen, die Steinkuppeln der alten Bäder und die orientalische Architektur der Karawanserei heben sich deutlich ab vom Einerlei anderer Städte der ehemaligen Sowjetunion. Den typischen Plattenbauten entkommt man allerdings auch hier nicht. Wie eine unförmige Speckschicht an eine einst schlanke Schönheit haben sie sich am Rande der Altstadt angelagert.

Sofort stechen dem Besucher die vielen Polizisten ins Auge, die an jeder dritten Straßenkreuzung herumstehen. Unter allen erdenklichen Vorwänden bitten sie die Autofahrer zur Kasse. Selbst Lado Chanturia, der Präsident des obersten Gerichtshofes, versucht nichts an dieser Situation zu beschönigen: "Man kann sagen, daß dieser Staat die Menschen zwingt, korrupt zu werden, denn von den niedrigen Löhnen kann niemand hier überleben!"

Die geringen Löhne und Pensionen sind für die fünf Millionen Georgier die größte Sorge. Etwa ein Viertel lebt heute unter dem Existenzminimum. Nur den intakten Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen ist es zu verdanken, daß es kein großes Elend im Land gibt. Zu Zeiten der Sowjetunion war Georgien relativ wohlhabend. Zitrusfrüchte, Tee, Manganerz, Wein und Trauben stammten aus Georgien. Das Land von der Größe Österreichs ist sehr fruchtbar, in manchen Gegenden sind drei Ernten im Jahr möglich, außerdem verfügt es über Bodenschätze und hat großes Potential für die Wasserkraft.

Geld wäre vorhanden 1990 konnten die Georgier noch über ein durchschnittliches Einkommen von 49.000 Schilling im Jahr verfügen, fünf Jahre später nur noch über 11.760 Schilling. Damit rutschte Georgien auf die Stufe von Entwicklungsländern wie Uganda oder Bangladesch. 1995 hat Georgien allerdings die Talsohle durchschritten. Seitdem stabilisiert sich die Wirtschaft und verzeichnet ein konstantes Wachstum. Jedoch, "fast 70 Prozent der Gelder fließen am Staatshaushalt vorbei", erklärt Lado Chanturia, der ehemalige Justizminister, im Gespräch mit der furche. "Daher kann der Staat nicht mehr bezahlen. Dabei wäre durchaus Geld vorhanden. Sehen sie sich die neuen Villen und Luxusautos an!"

Korruption war ein Schlüsselthema bei den Präsidentschaftswahlen am 9. April. Mit 80 Prozent der Stimmen haben die Georgier den amtierenden Staatschef, Eduard Schewardnadse, eindrucksvoll in seinem Amt bestätigt. Sein schärfster Rivale, der frühere Kommunistenchef Dschumber Patiaschwili, kam nur auf 16,6 Prozent. Weitere vier Bewerber kamen nicht einmal über je ein Prozent der Stimmen hinaus. Eduard Schewardnadse gilt als Garant für Stabilität, und sein pro-westlicher Kurs brachte Georgien neben massiver finanzieller Unterstützung aus dem Westen auch einen Sitz im Europarat und in der Welthandelsorganisation. Die Wahlbeobachterdelegation der OSZE hat der Präsidentenwahl aber schlechte Noten gegeben. In einem vorläufigen Bericht listete die Delegation eine Vielzahl von Unregelmäßigkeiten auf. Unter anderem bemängelten die Beobachter das Füllen der Urnen mit zusätzlichen Stimmzetteln, Manipulationen an Stimmzetteln und Wahlregistern, das Wegweisen von Beobachtern und die Polizeipräsenz in den Wahllokalen. Präsident Schewardnadse wurde im Vorfeld der Wahl von den Staatsmedien in unzulässiger Weise favorisiert, heißt es in dem Bericht weiter. Die OSZE-Delegation kommt zum Schluß, Georgien müsse noch substantielle Fortschritte machen, wolle es seinen Verpflichtungen als OSZE-Mitgliedsstaat nachkommen.

Schewardnadse dementierte Unregelmäßigkeiten bei der Wahl und machte deutlich, daß es jetzt vor allem gilt, nach vorne zu blicken. Eine der vordringlichsten Aufgaben der neuen Amtszeit ist die Lösung des Problems der abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien. Georgien leidet zwar unter den 300.000 Flüchtlingen aus diesen Regionen, gleichzeitig haben es die Konflikte ermöglicht, sich von Rußland stärker zu distanzieren.

Distanz zu Rußland Distanz zu Rußland ist auch die Devise im Tschetschenien-Krieg. Georgien hat sich bisher geweigert, der Forderung Rußlands nachzukommen, Truppen von georgischem Territorium aus gegen Tschetschenien vorgehen zu lassen. Rund 5.000 tschetschenische Flüchtlinge haben in Georgien Zuflucht gefunden, ansonsten setzt man aber alles daran, sich nicht in den Konflikt hineinziehen zu lassen. Rußland wäre jeder Vorwand recht, wieder mehr Einfluß im Südkaukasus zu gewinnen, vor allem da die Region durch die Ölpipelines von Aserbaidschan zum Schwarzen Meer strategisch wichtig ist. Doch mit den russischen Militärbasen trägt Georgien schon eine Erblast aus Sowjetzeiten, die es lieber heute als morgen abgeben würde.

Wirtschaftlich ist die kleine Provinz Südossetien mit knapp 70.000 Einwohnern kaum lebensfähig. Nach dem Zerfall der Sowjetunion forderte Südossetien die Vereinigung mit Nordossetien, einem Teil Rußlands, und erklärte die Unabhängigkeit von Georgien. Die Lage eskalierte und in den Jahren 1991 und 92 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die etwa 1500 Tote forderten. Heute ist Südossetien de facto unabhängig, wird aber nicht anerkannt. Die Hauptstadt Tskhinwali bietet mit ihren jämmerlichen Straßen und verfallenden Häusern ein trauriges Bild. Das Potential an Bodenschätzen, Tourismus oder Wasserkraft bleibt ungenützt, da sich kein Investor in die verworrene politische Situation begeben will. Ein Schlüssel zum Verständnis der Unabhängigkeitsbestrebungen liegt auf dem großen Treibstoffmarkt außerhalb der Hauptstadt. Von zahllosen Benzintankern und Gastransportern wird Gas und Öl direkt in kleinere Fahrzeuge, in Fässer, Kanister und Colaflaschen abgefüllt. Benzin und Gas sind im russischen Nordossetien billig zu haben und in Georgien sehr gefragt. Und mit Alkohol und Drogen ist noch viel mehr Geschäft zu machen. Ein blühender Handel, der sich hier im Machtvakuum der ungeklärten politischen Verhältnisse entfaltet.

Ließen sich die maroden südossetischen Staatsfinanzen nicht durch eine Steuer auf Öl und Alkohol aufbessern? Der Lehrer Walodja Bagaew weist das Ansinnen entschieden zurück: "Nein! Die Regierung hier ist nur für die reiche Klasse! Unser Präsident Ludwig Tschibirow weiß genau, was passiert, wohin das Geld fließt, und natürlich bekommt auch er seinen Teil!"

Der Autor ist freier Print- und Hörfunkjournalist.

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