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Der starke Bund

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Die Gewerkschaften unseres Landes, die sich vom 23. bis 28. September zu ihrem fünften Bundeskongreß versammeln, sind eine Macht, ohne die und gegen die nicht regiert werden kann. Dieser provokative Tatbestand ist ebenso, ein Anlaß zur Kritik wie die Erkenntnis, daß viele der gewerkschaftlichen Forderungen nicht mehr an sagenhafte „Reiche“, an „Ausbeuter“, sondern praktisch an die Bevölkerung gerichtet und von ihr zu erfüllen sind.

Trotz allem: Die Gewerkschaften sind eine moralische Notwendigkeit. So der Theologe Marcel Reding. Bestünden keine Gewerkschaften. wären die Arbeitnehmer der unteren Ränge den Manipulationen so mancher Unternehmer, vor allem aber in den Betrieben der „Nationalindustrie“ und in der Hoheitsverwaltung den Managern ausgeliefert, und dies auch in einer Gesellschaftsordnung, die sozial perfekt zu sein scheint. Ohne die Gewerkschaften käme es unvermeidbar zur Desorganisation des Arbeitsmarktes, der nur dann sozialkonform funktionieren kann, wenn die durch Verbandsgremien repräsentierten Marktparteien tendenziell gleich mächtig sind. In einer gewerkschaftsfreien Gesellschaft entstünde eine Art Neo-Kolo- nialismus. dessen Ende der Fidelismus, das Chaos und die Liquidation eines freiheitlichen Unternehmertums wäre, das trotz Kartdllisierung und Konzernierung noch immer im Ansatz besteht.

Für die Kirche ist daher das Bestehen von Gewerkschaften eine sittliche Notwendigkeit. (Schreiben der Konzilskongregation von 5. Juni 1929 an Kardinal Liėnart.)

ln den unterentwickelten Ländern srnd die Gewerkschaften überdies heute eines der praktikabelsten Instrumente der Sozialreform und des gesellschaftlichen Aufbaues geworden. Wie sollten etwa die Gedanken der Sozialenzykliken, die doch zu Unrecht als technische Rezepte verstanden werden, zu gesellschaftlicher Realität werden, bestünden nicht Verbände, die, allenfalls auch durch Einsatz von Macht, die abstrakten Forderungen der Enzykliken zu materialisieren vermöchten?

Die Gewerkschaften sind aber nicht allein ein Instrument der Sozialreform, ein Komplex von nützlichen Leistungs- dargeboten für die Erwerbstätigen, sondern auch ein Mittel der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber dem Staat. Dieser, die seiner Natur eingeborene Bürokratie, versucht stets den Menschen zu verstaatlichen und ihn zum Untertanen zu reduzieren. Wie immer die politische Verwaltung etikettiert ist, die Gewerkschaften müssen auch ihr gegenüber Widerstand leisten, wenn sie dazu neigt, den Men- scheq in einer unangemessenen Weise zum Gegenstand bürokratischer Disziplinierung zu machen. Anderseits aber werden die Gewerkschaften gesellschaftlich funktionslos, wenn sie sich selbst als Behörde (Gewerkschaftszwang) verstehen oder zur Staatsgewerkschaft werden.

Die Macht der Gewerkschaften liegt aber in der Gegenwart nicht allein darin, daß sie wirksame Aktionen setzen und gegebenenfalls Widerstand brechen können, sondern daß sie — gegen ihre Mitglieder — spontan die Grenzen ihres Wirkens zu setzen vermögen, wenn sie erkennen, was sie nicht sind oder nicht zu vollziehen haben.

Die Gewerkschaften sind ihrem Wesen nach keine weltanschauliche Kleingesellschaft, schon gar nicht ein Religionsersatz, wie dies anarcho-syndika- listische Experimente andeuten wollen. Versucht es eine Gewerkschaft, zuvorderst eine weltanschauliche Organisation zu sein, kommt es in Reaktion zur Bildung von Richtungsgewerkschaften. Die Frage einer Sicherung der relativen wie der absoluten Stellung der Arbeitnehmer in der Arbeitsgesellschaft ist in erster Linie ein sozialorganisatori-, sches Problem und hat beispielsweise mit den Fragen von Gottesbeweisen oder der Interpretation des Naturrechts nichts zu tun. Wenn sich da und dort einzelne Gewerkschaftsintellektuelle, ohne Auftrag von unten, in Fragen der Weltanschauung einseitig engagierten und dies im Namen der Gewerkschaften tun, kommt es gegengleich zur Bildung von oppositionellen Gruppen, vorerst in der betreffenden Gewerkschaft selbst, weil viele Arbeitnehmer einfach nicht verstehen können, was die Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen mit dem Abreagieren etwa von antiklerikalen Komplexen einzelner Gewerkschaftsbeamter zu tun haben soll.

Die Gewerkschaften Österreichs haben jedoch, zieht man die Summe ihres Wirkens seit 1945, weitgehend den Versuchen einzelner Altmarxisten widerstanden, gewerkschaftliche Ideen zu marxistischen umtypisieren zu lassen. Das ist auch der wesentliche Grund dafür, daß es in unserem Land ausgenommen im öffentlichen Dienst kaum eine Gefahr für die Institution der Einheitsgewerkschaft gibt. Anders etwa in der BRD, wo die Errichtung christlicher Gewerkschaften von diktatorisch die Rechte der Minderheit mißachtenden Funktionären des DGB geradezu erzwungen wurde. In Österreich ist es dank der maßvollen Haltung der obersten Führung des ÖGB gelungen, den antiklerikalen Enthusiasmus einzelner Funktionäre auf die literarische Fbene abzudrängen, in der Annahme, daß Gewerkschaftszeitungen im allgemeinen nur in ihrem ökonomisch relevanten Teil gelesen werden.

Gewerkschaften müssen auch gegnerfrei sein, damit, sie in jeder Situation unbehindert und unbefangen Widerstand gegen die Versuche leisten können, die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Jedes Bemühen, die Gewerkschaften daran zu hindern, gegen eine bestimmte Unternehmungsführung vorzugehen, nur weil beispielsweise deren Mitglieder das gleiche Parteibuch vorweisen können wie die Funktionäre der jeweiligen Gewerkschaft, führt zur Korrumpierung der Gewerkschaften, und verringert ihre Handlungsfreiheit, die sie dann — um im Beispiel zu bleiben — nur mehr gegen den „Privatkapitalisten“ nutzen dürfen. In diesem Fall müßte eine Voll- Sozialisierung das Ende freier Gewerkschaften sein — und ist es auch!

Die Gewerkschaften brauchen sogar den „Gegne r“, den Partner auf dem Arbeitsmarkt, auch deswegen, weil sie sich nicht jederzeit selbst das Maß ihres Verlangens geben können, sondern eine Instanz benötigen, die ex offo jene ökonomische Substanz sichern hilft, die schließlich auch den Arbeitnehmern dienstbar zu sein hat. Fehlt der „Gegner“, etwa weil man ihn „expropriiert" hat, muß er substituiert werden, durch Behördenvertreter, wenn nicht durch die Staatspolizei.

Die Gewerkschaften sind nur so lange eine Voll-Macht, so lange sie einem vom Staat wohl kontrollierten, aber in seinen ökonomisch-technischen Entscheidungen doch relativ freien und wirtschaftlich interessierten Unternehmer (gemeint ist im allgemeinen: Privateigentümer) gegenüberstehen. Die kühl pragmatisch denkenden Gewerkschaften in den USA haben dies längst erkannt.

Dagegen gibt es keine unpolitischen Gewerkschaften. Jede Stellungnahme zu Fragen des öffentlichen Lebens, und jede Lohnfrage ist eine solche, führt zu einem politischen Engagement. Die Sozialnormen, die eine angemessene Ordnung der Arbeitsgesellschaft sichern sollen, werden nun einmal von politischen Gremien beschlossen. Die Gewerkschaften wären schlecht beraten und kaum mehr als mittelalterliche Bruderschaften, begeben sie sich jedes Einflusses auf die Parteien. Lediglich als Ganzes, jenseits der von ihnen legitim zu erhebenden Forderungen, müssen die Gewerkschaften sich gegenüber den Parteien distanzieren, um nicht diesen inkorporiert und bei Gelegenheit für gewerkschaftsfremde Ziele eingesetzt zu werden.

In der gegenwärtigen österreichischen Situation haben die Aktionen der Gewerkschaften ein besonderes Einsatzgewicht:

Politisch können die Gewerkschaften das Gelingen der mehr als fragwürdigen politischen Experimente einzelner Funktionäre der SPÖ, die sich vor allem im Bereich des BSA etabliert haben, behindern, sie können verhindern, daß unser Land mit einem neuartigen Vokabular von eiskalten Nur- Taktikern anschlußreif gemacht wird. Es liegt an den Gewerkschaften, ob die SPÖ, die ihnen Inäher steht als die ÖVP, im Kern eine Arbeiterpartei bleibt oder sich in Etappen zu einer Talmiarbeiterpartei wandelt.

Die Funktionäre des ÖGB haben es in der Hand, die Institution der Einheitsgewerkschaft, die im Bereich des öffentlichen Dienstes bereits erheblich gefährdet ist, zu sichern. Jedenfalls stellen die radikalen Reformer in der SPÖ eine Gefahr für den ÖGB dir, um so mehr, als sie nicht in gewerkschaftlichen Kategorien denken, sondern nur-politisch, emotional bestimmt sind.

Wirtschaftlich kann der ÖGB in einem heroischen, wenn auch nur kurzfristig gültigen Verzicht auf den Einsatz der ihm verfügbaren Druckmittel die Lohnpolitik wieder zu einem Instrument der Stabilisierung machen. Jede neue „Teuerungszulage“ oder wie immer eine ohne Preiserhöhung unerfüllbare Lohnforderung deklariert ist verschlechtert nicht so sehr die persönliche Situation eines einzelnen „Kapitalisten“, sondern schwächt vor allem unsere Position auf den internationalen Märkten und gefährdet die Vollbeschäftigung.

Sollten die Gewerkschaften bereit sein, stillzuhalten, hätte eine solche

Abstinenz aber nur dann einen Sinn, wenn die Preistreiber, die großen und noch mehr die so unscheinbaren kleinen, mit drakonischen Mitteln bestraft werden. Gewisse Personen, die vorgeben, für die „Wirtschaft“ zu sprechen, tun so, als ob es nur Lohnerhöhungen gäbe, und vergessen, sich die Preisskandale etwa in den Orten des Fremdenverkehrs anzusehen. Man kann von den Gewerkschaften nur einen unpopulären Verzicht verlangen, wenn sie v nicht: von der Gegenseite durch heimtückische Preissteigerungen vor ihren eigenen Mitgliedern blamiert werden. Es ist daher nicht einzusehen, warum die Preiskontrollen nicht verstärkt und die Paritätische Kommission nicht zu einem Machtinstrument ausgebaut werden kann. Dem seriösen Kaufmann sollte es doch nur recht und billig sein, wenn seine, das Preisgebäude gefährdenden „Kollegen“ daran gehindert werden, durch „Preisanhebungen“ neue Lohnforderungen zu provozieren.

Es liegt auch am ÖGB, ob im Herbst die Zweite Republik liquidiert und das erst in den Anfängen stehende Aufbauwerk gefährdet wird. Nur in einer Situation der Vollbeschäftigung und des Produktivitätsanstieges sind die Gewerkschaf ten. stark, weil sie dann eine „knappe Ware“ anzubieten haben.

Uni ihre staatspolitischen, sozialökonomischen und sozialethischen Aufgaben zu erfüllen, bedarf es aber eines stanken Gewerkschaftsbundes, der, wenn erforderlich, auch den Gewerkschaftspartikularismus, die Kleingruppen der Sozialparasiten und die Lohnlizitierer abzuwehren vermag. Nur aus einer Position der Stärke heraus kann der ÖGB das leisten, was man ihm um Österreich willen zumutet.

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