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Der stille Aufmarsch

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Der deutsche Wahltermin — der 6. September — ist geschickt gewählt worden. Es ist nicht nur, daß das neue Parlament seine Arbeit ohne Verzögerung aufnehmen kann; die Tatsache, daß die Haupturlaubszeit unmittelbar vor dem Wahltermin liegt, verkürzt die Kampfeszeit, dämpft die Leidenschaften. Denn das, worüber man sich im eigenen Wahlkreis lebhaft erregen könnte, nimmt in den bayrischen Bergen oder an der Nordseeküste ländliche Färbung an, man gewinnt eine Distanz, die den Vorgang restloser Identifikation keinesfalls förderlich ist. Audi zeigt ein Blick auf den Strom von Autobussen, Motorrädern und Fahrrädern, der die deutschen Lande durchzieht, wie auf die Zeltstädte an Seen und Flüssen, daß diese Beobachtung nicht allein für das „gute Publikum“, das in den anachronistischen Träumen der Hoteliers eine halb mystische Rolle spielt, Gültigkeit hat. Diesen Sommer ist ganz offensichtlich die breite Masse unterwegs.

Der Aufmarsch der beiden Großparteien, der CDU/CSU und der SPD spielt sich daher verhältnismäßig in Ruhe ab, und noch sind die Hauptstellungen der großen Heere wie durch einen dünnen Schleier von Sonnenglast, Wasserfreuden und Wanderlust abgeschirmt. Da und dort beginnt sich allerdings die Propagandaartillerie einzuschießen, da und dort stört ein Aufbruch von Leidenschaft die sommerliche Ruhe: Der Aufruf des Gewerkschaftsbundes, der die gegenwärtige Bundestagsmehrheit unverhüllt anklagt, das Land neuen Bombennächten entgegenführen zu wollen, ist so ein Zeichen, die geschickte und heftige Reaktion Adenauers ein anderes.

Wenn hier die beiden Großparteien mit zwei Heeren verglichen wurden, so muß gleich hinzugefügt werden, daß dieses Bild in einer Beziehung irreführend ist. Alle modernen Heere werden, auch wenn sie so grundverschiedene Ideologien zu vertreten haben, wie Nationalsozialismus, Kommunismus und westliche Demokratie, doch nach beinahe gleichen Organisationsgrundsätzen geführt. Zwischen den immerhin manches ideelle Gut miteinander teilenden Heeren der deutschen Großparteien aber besteht etwa soviel Unterschied wie seinerzeit zwischen den Armeen Kara Mustafas und Karl von Lothringens.

Die Sozialistische Partei ist der größte, straffste und geschlossenste politische Apparat, über den Deutschland heute verfügen dürfte. Er ist das Erbe jenes einfüßigen und einarmigen Mannes, in dessen wäßrigblauen Augen soviel Kraft und Fanatismus liegen konnte, der sich in der Sehnsucht nach Verantwortung verzehrte und schließlich in der Flamme der Verneinung zu verbrennen schien, das Erbe Kurt Schumachers also. Die SPD verfügt über 650.000 Parteimitglieder, das ist also beinahe; doppelt soviel wie die CDU, die es auch mit der bayrischen CSU nur auf 350.000 Parteimitglieder bringen kann. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Anzahl der Parteimitglieder kein Maßstab für. die Wählermassen ist, die am Wahltag aufgeboten werden können. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß die SPD die allgemeine Partei- und Organisationsmüdigkeit erfolgreicher überwinden konnte als ihre Gegenspieler, nicht ohne Bedeutung. Der großen Masse der Parteiangehörigen steht ein relativ kleiner Führungskörper gegenüber, der

durch ein Loyalitätsgefühl zusammengeschweißt ist, das sich in der Zeit der Verfolgung gebildet hat: Etwa achtzig vom Hundert des SPD-Führungsstabes waren im Konzentrationslager. Die straffe Organisation, verbunden mit diesem Zusammengehörigkeitsgefühl, hat es möglich gemacht, daß die Führung der SPD nach dem Tod Schumachers ohne allzugroße Spannung auf eine viel schwächere Persönlichkeit, Ollenhauer, übergehen konnte, der obendrein nicht aus der deutschen Resistance, sondern aus der Emigration kommt. Allerdings wird nun offenbar, wie sehr der zentralistische SPD-Apparat auf die Gestalt Schumachers zugeschnitten war: Bis zu einem gewissen Grad ersetzte die Dynamik dieses Mannes die echte von den kleinsten Organisationseinheiten ausgehende Bewegung, die Richtlinien der Politik, die Auswahl der Kandidaten; all dies liegt nun in Ollenhauers Hand, nur daß seine Entscheidungen nicht mehr so hingenommen werden, wie die Schumachers. So erklärt sich auch, daß Ollenhauer, wo immer es nur angeht, peinlichst die Richtung seines Vorgängers beibehält, obwohl verschiedene Anzeichen darauf hindeuteten, daß er anfänglich eine etwas konziliantere Politik gegenüber der Westpolitik des Bundeskanzlers einzuschlagen bereit war.

Bis zu einem gewissen Grad könnte der Mangel an starken Persönlichkeiten innerhalb' der SPD nur durch eine Verbreiterung des theoretischen Fundamentes ausgeglichen werden. Hier aber ist im deutschen wie überhaupt im westlichen Sozialismus eine merkwürdige Stagnation festzustellen, ja, es ist geradezu furchterregend, festzustellen, wie noch immer versucht wird, mit dem längst überholten Rüstzeug der Werke Karl Marx' den gegenwärtigen Problemen zu Leibe zu rücken. Muß es nicht auch den Sozialisten längst aufgefallen sein, daß sich nur ein Teil der marxistischen Voraussagen erfüllt hat, während andere von der Wirklichkeit völlig überholt wurden? Daß sich Karl Marx im sozialen Klima des heutigen Deutschland mit seiner Steuergesetzgebung, dem Gewerkschaftseinfluß, den zahllosen staatscigenen Unterneh-' mungen und dem Mitsprachrecht der Arbeiter zunächst überhaupt nicht zurechtgefunden hätte? Nun, die sozialistische Kritik hat wohl an diesem und jenem Teil des Lehrgebäudes herumgefeilt, aber im Grunde würde wohl nichts übrigbleiben, als den gewaltigen Bau von den Fundamenten ausgehend, zu überholen. Einem solchen Unterfangen aber steht das Format Marx' entgegen. Die Arbeit des Titanen ist fossil geworden, aber sie ist noch immer so imponierend, daß man sich nicht recht herantraut: so zieht man es vor, in dem Tempel, dessen Dach längst schadhaft geworden ist, Opfer darzubringen, an die man im Grunde nicht mehr recht glaubt.

Wie die meisten Parteien der Mitte weist die C D U / C S U ein stark föderatives Element auf. Die 17 Landesverbände, die 1949 das Wahltreffen bestritten, spielen eine selbständige und durchaus eigenwillige Rolle. Als Gegengewicht der zentrifugalen Kräfte wären die haupt- und nebenamtlichen Parteifunktionäre zu nennen (etwa 250 an der Zahl), doch spielt die „Parteibürokratie“ keine allzugroße Rolle. Ihr obliegen mehr organisatorische als politische Probleme, sie ist keinesfalls imstande, den Landes- und Ortsgruppen

so ohneweiters eine „Linie“ aufzuzwingen. Tatsächlich muß der Kanzler auch an sich nicht sehr bedeutungsvolle Verhandlungen, wie sie sich etwa zwangsläufig aus der neuen Wahlordnung, die jedem Wähler s o-susagen zwei Stimmen zubilligt (mit dem ersten wählt er einen Kandidaten im Wahlkreis, mit der zweiten die Liste einer Partei) ergeben, zumindest im Endstadium selbst führen. Die „Parteibürokratie“ verfügt nämlich keinesfalls über genügend eigene Autorität, um die lokale Parteiorganisation, sagen wir: in einem bestimmten Gebiet Bayerns dazuzubringen, einen Kandidaten der Bayernpartei zu unterstützen und den Ver-

such, einen eigenen Kandidaten durchzubringen, fallen zu lassen. Zweifelsohne bedeutet diese lockere Struktur der Partei für den Kanzler eine starke arbeitsmäßige Belastung, und es ist für die CDU/CSU ein außerordentlicher Glücksfall, daß Adenauer trotz seines vorgerückten Alters über eine geradezu churchillsche Vitalität verfügt und die endlosen Verhandlungen, wie das oft nicht gerade erhebende Feilschen, das die neue Wahlordnung — ein Provisorium, das nur für diese eine Wahl Gültigkeit haben soll — ohneweiters durchgestanden hat. Im übrigen taucht hier die Frage auf, ob die überragende Stellung des Kanzlers sowohl innerhalb seiner

Partei als auch im Deutschen Bundestag einzig und allein seiner Persönlichkeit zu verdanken ist, oder ob im Gefüge von Partei und Parlamentarismus strukturelle Elemente vorhanden waren, die diese Entwicklung begünstigten. Eine etwas eingehendere Untersuchung zeigt hierbei, daß nur der Parteivorsitzende sowie seine Stellvertreter vom Parteitag gewählt werden. Der Parteivorsitzende besitzt dadurch als Repräsentant der Gesamtpartei eine ganz besondere Autorität, so wie etwa der österreichische Bundespräsident seinen großen Einfluß auch dem Umstand verdankt, daß er vom Gesamtvolk an seine Stelle berufen wurde. Die Stellung des Parteivorsitzenden der CDU ist also an sich stärker als die Stellung des Parteivorsitzenden der SPD, der allerdings als Ausgleich über einen viel strafferen und zentralistisch aufgebauten Parteiapparat verfügt. Was aber die Stellung des Kanzlers im Bundeshaus anbelangt, die sich, sehr zur Verwunderung aller jener, die in der seinerzeitigen Wahl mit nur einer Stimme Majorität kein gutes Vorzeichen erblicken wollten, als so überaus fest erwiesen hat, so sieht die Konstitution vor, daß der Kanzler nur dann gestürzt werden

kann, wenn die Majorität, die sich gegen ihn gefunden hat, auch willens ist, einem anderen Kandidaten die erforderliche Mehrheit zu geben. Unwillkürlich drängt sich einem der Gedanke auf, welcher Segen diese Bestimmung für das benachbarte Frankreich wäre!

Läßt sich aus einer Analyse der Parteistrukturen irgendein Schluß auf den Ausgang der Wahl ziehen? Vernünftigerweise kann man nur soviel sagen: Keine der beiden Großparteien kann bei den Wahlen entscheidend geschlagen werden, eine verhältnismäßig kleine Gruppe von neu hinzugekommenen Wählern wird den Ausschlag geben, wobei die politische Reaktion dieser Jungwähler sehr schwierig abzuschätzen ist. Noch mehr als bei den älteren Jahrgängen spürt man in dieser Schichte eine Abneigung gegen Parteiarbeit und Parteibindung. Es ist bezeichnend, daß von den 650.000 SPD-Parteimitgliedern

beinahe 95 Prozent alte Parteileute sind. Legt man die letzten Wahlziffern an das neue Wahlverfahren an, so müßte Adenauer mit einer vergrößerten Majorität ins neue Bundeshaus einziehen.

Es setzt dies allerdings voraus, daß die Wählermassen das neue Wahlverfahren, ihre Stimme einmal dahin, einmal dorthin werfend, so anwenden werden, wie es sich die Parteistrategen vorgestellt haben. Dies ist aber keinesfalls sicher. Viele Wähler entscheiden sich rein emotionell für diese oder jene Partei, und es entspricht ihrem Temperament keinesfalls, zunächst nüchtern und kühl die von der Partei angedeuteten Akernativmöglichkeiten zu überdenken. Die Wahlentscheidung wird also in einem politischen Niemandsland fallen, wo bisher noch niemand Kampferfahrungen hat sammeln können.

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