Der Tod kommt ins Paradies

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"Den ganzen Tag in der Natur arbeiten, auf einem Hügel im halbhohen Gras unter einer Bananenstaude im Schatten sitzen, ins Tal hinunterschauen und die Schwalben beobachten. Kupfernes Sonnenlicht, rostrote Erde und ein so unwirklich intensives Grün, dass man zu träumen glaubt. Weit weg das Lachen von spielenden Kindern, die tiefe Stimme vom Hirten, der seine Kühe zusammentreibt -und sonst nichts. Der Inbegriff von Ruhe und Frieden. Ein Gefühl, als sei ich dem Himmel ein wenig näher -gelandet im Paradies."

Jules, der im realen Leben anders heißt, kommt in den 40er-Jahren als Sohn eines Industriellen in einer europäischen Kleinstadt zur Welt. Er macht nie ein Geheimnis daraus, dass ihn eine gutbürgerliche Karriere nicht interessiert. Seine Welt ist der Wald. Das Jurastudium bricht er nach zwei Monaten ab. Die Bücher verkauft er. Das Geld braucht er für Köder, um tagsüber zu fischen und für Alkohol, um die Nächte durchzufeiern. Bei der Aufnahmeprüfung für die Forstschule scheitert er wiederholt. Der Direktor ist jedoch fasziniert vom jungen Mann und dessen Begeisterung für die Natur und gibt ihm eine Chance. Jules nutzt sie, wird zum Forstexperten, bildet sich weiter, reist viel und erhält einen guten Job in einem Büro mit Blick auf eine graue Betonwand. Nach dem ersten Arbeitstag packt er seine Sachen, sucht das Weite und nimmt eine Stelle in der Entwicklungszusammenarbeit an: im Herzen Afrikas. Genauer gesagt auf einem Hügel in einer abgelegenen Provinz in Ruanda, wo es weder Straßen, fließend Wasser noch Strom gibt. Sein Vorgänger hielt es gerade mal zwei Monate aus.

Es ist Mitte 80er-Jahre. Ruanda, ein landwirtschaftlicher Kleinstaat, der gerade mal halb so groß wie die Schweiz ist, exportiert als Hauptprodukt Kaffee und wird von drei Bevölkerungsgruppen besiedelt: Den Hutu, die etwa 85 Prozent der rund 6 Millionen Einwohner stellen, den Minderheiten der Tutsi mit 14 Prozent und der Twa mit knapp einem Prozent. Alle Gruppen sprechen mit "Kinyarwanda" die gleiche Sprache und teilen die gleiche Kultur. Der Unterschied der beiden Hauptgruppen liegt ursprünglich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung.

Die Spaltung

Die Minderheit der Tutsi widmet sich der Viehzucht. Rinder sind ein Zeichen von Reichtum und Status. Die Hutu kümmern sich um den Ackerbau. Es ist ein durchlässiges, tolerantes System, bis die Kolonialmächte Deutschland (1884-1916) und Belgien (bis 1962) die großgewachsenen und schlanken Tutsi als höherwertige Rasse identifizieren, bevorzugen und fördern. Es wird eine Tutsi-Monarchie eingesetzt und die Hutu werden von Bildung und Arbeit im öffentlichen Dienst ausgeschlossen. Mit Einführung der Ethnien der Hutu und Tutsi und deren Vermerk im Personalausweis wird eine rassistische, unüberbrückbare Rangordnung zementiert.

Ausgebeutet und von Macht und Privilegien ausgeschlossen, wächst unter den Hutu ein enormer Hass. 1959 kommt es bei Aufständen zu Hunderten von Toten. Die Belgier schlagen den Aufstand nieder. 1961 wird bei der ersten Abstimmung in der Geschichte Ruandas die Monarchie abgeschafft und die Hutus übernehmen die Macht. Eine einzige Hutu-Partei -durch die Geburt wird jeder Ruander automatisch Mitglied -ist im Land zugelassen und schafft ein System der absoluten Kontrolle.

Doch Jules ist vorbereitet. Er kennt die Geschichte Ruandas, weiß von den Spannungen und Massakern. Spüren tut er davon nichts. Er arbeitet mit Hutu und Tutsi zusammen. Gemeinsam teilen sie sich nach Feierabend eine Flasche Bier und essen Ziegenfleisch-Spieße. Am Wochenende kauft er sich auf dem lokalen Markt den Reis, die Kochbananen und Süßkartoffeln für die gesamte Woche, das Fleisch direkt vom Schlachter. Er lernt Kinyarwanda, schließt Freundschaften, ist zu Hochzeiten eingeladen, wo ausgelassen getanzt und gesungen wird und sieht, wie seine Freunde Kinder bekommen und sie Dieudonne (Gott gibt), Innocent (Unschuld) oder Esperance (Hoffnung) nennen. Jules lebt das gleiche einfache Leben wie die Einheimischen mit dem Unterschied, dass er ein Motorrad und einen mit Petroleum angetriebenen Kühlschrank besitzt -und dass seine Haut genau so weiß ist, wie die der Kolonialisten.

Doch im Gegensatz zu ihnen beschließt er, für immer zu bleiben, verliebt sich, heiratet, zieht in ein anderes Dorf und gründet eine Familie. Der Bürgermeister wird stolzer Patenonkel.

Unterdessen schlittert Ruanda in eine wirtschaftliche Krise. Der Exportpreis für Kaffee kollabiert, der "Franc Rwandais" verliert fast 70 Prozent an Wert. Das Regime verstaatlicht Land und baut Teeplantagen an, jedoch ohne große wirtschaftliche Wirkung. Die Bevölkerung wächst weiter sprunghaft an und das Land wird für die mehr als sieben Millionen Einwohner knapp. Die Kombination aus Landmangel, Bevölkerungsexplosion und wirtschaftlicher Krise führt schlussendlich zur totalen Verarmung. Die Bevölkerung ist unzufrieden und fordert Demokratie und Mitbestimmung. Forderungen kommen auch aus dem benachbarten Uganda. Hier haben sich seit 1987 Exil-Tutsi zur "Front Patriotique Rwandaise" (FPR), "Ruandische Patriotische Front", formiert. Ihr Ziel ist es, wieder nach Ruanda zurückzukehren. Die Regierung blockt jegliche Versuche ab. Am 1. Oktober 1990 startet die FPR von Uganda aus einen Guerillakrieg. Das ruandische Regime fühlt sich von Innen und Außen akut bedroht, gibt die Schuld für die Misere den Tutsi und startet mit einer politischen Hetzkampagne.

Ausschreitungen und Massaker

In den kommenden drei Jahren gibt es immer wieder gewalttätige Ausschreitungen und Massaker. Das Land zu verlassen, ist für Jules keine Option. "Warum auch? Das war unser Zuhause, wir fühlten uns sicher, hatten kleine Kinder und eine große Verwandtschaft, für die wir uns verantwortlich fühlten. Klar gab es diese Kommentare - schon vor 1990 und den Unruhen -, die mich zweifeln ließen. Als ein Tutsi-Mädchen im Dorf einen Hutu-Jungen heiratete, hieß es: Jetzt hat das hilflose Rebhuhn endlich einen Busch gefunden, um sich zu verstecken. Oder wenn wir Bananenstauden schnitten, wurde das von gewissen Mitarbeitern mit einer unglaublichen Inbrunst und Effizienz getan, genauso 'wie wir es mit den Bananenstauden der Tutsi gemacht haben'. Ich taxierte das als einzelne, dumme Sprüche."

Im August 1993 einigen sich die Parteien auf einen Friedensvertrag. Eine Übergangsregierung, unterstützt vor Ort durch UN-Truppen, soll ein Mehrparteiensystem einführen und die politische Opposition integrieren. Ruandas Hutu-Regime willigt widerwillig unter internationalem Druck ein. Gescheiterte Verhandlungen hätten den Verlust der finanziellen Unterstützung durch den Westen bedeutet. Der Friedensvertrag und die unterbesetzten UN-Truppen -die über kein Mandat für ein militärisches Eingreifen verfügen -werden von den radikalen Hutus nicht akzeptiert. Sie starten mit der Vorbereitung zum Völkermord. Es werden radikale Kampftruppen rekrutiert und ausgebildet, Waffen beschafft und Todeslisten mit Namen von Tutsis und gemäßigten Hutus erstellt. Die Milizen propagieren durch Fehlinformationen und Verleumdungen die Beseitigung der Tutsi. Strafbar macht sich, wer sie nicht denunziert.

Ruanda ist ein Land der Geschichten und Gerüchte, des "Sich-Erzählens" und "Dazu-Fügens". Neuigkeiten haben einen langen Weg hinter sich, bis sie in der Provinz ankommen. Sie werden wie Fremde behandelt; mit Distanz ruhig und neugierig beobachtet. Aber irgendwann kommen sie an. Als Propaganda-Instrument dient der Radiosender "Radio Te le vision Libre des Milles Collines". Es ist für die Menschen in Ruanda, von denen 40 Prozent weder lesen noch schreiben können, neben dem staatlichen Radio der einzige Informationskanal. Der Sender bezeichnet die Tutsi als "Kakerlaken und Ungeziefer". Keine Menschen - sondern eine Plage, die es ohne Zögern und schlechtes Gewissen zu eliminieren gilt. "Milles Collines" operiert in der Landessprache "Kinyarwanda".

Er bietet als Unterhaltung getarnte Gerüchte, Geschichten und Witze, die auf die Tutsi zielen und die UN-Truppen und die Politiker der Opposition verurteilen. "Die Sendungen fanden mit jedem Tag mehr Gehör. Es war vergleichbar mit einer Infusion, die man einem Kranken gibt - und täglich ein wenig die Dosis erhöht. Mit der Zeit waren die Menschen davon überzeugt, dass ihre Tutsi-Nachbarn Spione der feindlichen Rebellen waren und damit eine konstante Bedrohung, die es zu beseitigen galt," erinnert sich Jules.

Das Hassradio

Einige derer, die jeden Morgen um das alte Radio in Jules Büro herumstehenden und lauschenden Mitarbeiter, sind Tutsi. Auch sie hören den Verleumdungen aufmerksam zu und lachen genau so laut wie ihre Hutu-Kollegen zu den niederträchtigen Witzen. Die Angst auf-oder abzufallen und dann denunziert zu werden, lässt keine Kritik, kein Aufbegehren zu. Mitlachen als Überlebensstrategie. Einer von Jules Mitarbeitern trägt nun immer eine Axt am Gurt. Wenn er nach Feierabend ein paar Bier zu viel trinkt, droht er, ein paar Tutsi umzubringen.

Am Abend des 6. April 1994 wird das Flugzeug mit Hutu-Präsident Juve nal Habyarimana an Bord im Landeanflug auf Kigali abgeschossen. Jules sitzt beim Abendessen mit seiner Familie, als "Milles Collines" die Meldung vom Flugzeugabschuss verbreitet. Jules ist in Panik, klebt bis spät in der Nacht am Radio. Doch Neuigkeiten bleiben aus. Der Sender spielt ununterbrochen klassische Trauermusik. Um 6 Uhr bestätigt das staatliche Radio den Absturz und den Tod des Präsidenten. "Ich sagte Else, meiner Frau, dass wir was tun müssen. Untätig herumsitzen macht nur Angst. Wir begannen, das Geschirr abzuwaschen und aufzuräumen, nur um nicht tatenlos zu sein", erinnert sich Jules. Doch das beklemmende Gefühl bleibt. Jules eilt zum Gemeindehaus, wo er auf Mitarbeiter, Bekannte und Vertraute des Bürgermeisters trifft. Es wird in kleinen Gruppen leise diskutiert. Jules wird gemieden, seinem Blick ausgewichen. Er holt schweigend einige Papiere aus seinem Büro und geht nach Hause.

"Milles Collines" koordiniert von Kigali aus die Jagd auf die Tutsi, verbreitet Informationen zu ihren Aufenthaltsorten und Fluchtstrategien. In Kigali stapeln sich schon die Leichen. Andere Siedlungen kommen laufend hinzu. Bei Jules in der Provinz schwindet der letzte Funke Hoffnung, dass sich die Gewalt, wie in den vergangenen Jahren, temporär auf einzelne Gegenden beschränkt. Die Massaker breiten sich aus wie ein Flächenbrand. Jules packt Frau und Kinder, Kleider und ein paar Negativabzüge von Fotos in seinen alten kleinen Peugeot. Mehr Platz hat er nicht. "Als wir unser Zuhause verließen, stand unser Nachbar, ein schlanker, alter Tutsi, alleine vor seinem Haus. Als hoher Funktionär war er ein einflussreicher und angesehener Mann. Ich fragte ihn, warum er noch nicht geflüchtet sei." Vielleicht wäre es besser, kommentierte er ruhig und emotionslos. Als Jules mit seinem Peugeot am größten Hotel und Restaurant in der Gegend vorbeifährt, sieht er, wie alle Tische und Stühle auf der Terrasse ins Innere geräumt werden, so wie vor einem großen Sturm. In einer Wagenkolonne mit improvisierten weißen Flaggen rollt ein letzter Konvoi mit Weißen Richtung Grenze. Ausländer, kreidebleich vor Angst, die sogar ihre Hunde retten, dafür ihre Hausangestellten zurücklassen.

"Von Elses Eltern hatten wir immer noch kein Lebenszeichen. Ihr Bruder Eduard lebte jedoch bei uns. Wir packten ihn mit ins Auto, obwohl er keinen Pass besaß. Ich ließ also die Pässe, die ich hatte, abstempeln und fuhr im Schritttempo langsam über die Grenze am Zöllner vorbei -ohne zu stoppen, ohne einen Blick zurück. Else neben mir auf dem Beifahrersitz, Eduard dahinter zwischen den Kindern. Einige Tage nachdem wir das Land verlassen hatten, begannen die Hutu-Milizen auch in unserem Dorf mit dem Massaker."

Das Ende des Schreckens

Nach 100 Tagen und rund 800.000 Toten übernimmt im Juli 1994 die Tutsi-Rebellenarmee die Macht, beendet den Völkermord und löst eine Fluchtwelle unter der Hutu-Bevölkerung aus. Ende 1994 sind laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dem UNHCR, zwei Millionen Menschen aus dem Land geflohen, 1,5 Millionen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. "Wir wussten nicht, ob die Familie von Else überlebt hat. Eine Ungewissheit, die zermürbt, einen Stück für Stück auffrisst", erinnert sich Jules.

Im Oktober 1994 reisen Else und Jules nach Ruanda. Der Geruch von Leichen ist überall. Viele der Toten wurden in ihren Toiletten oder Jauchegruben entsorgt - und liegen immer noch dort. Das ehemalige Zuhause von Jules ist geplündert. Es fehlt das Dach, die Türen und alles, was auch nur scheinbar wertvoll erschien -die Stühle, der Tisch, die Kochtöpfe. In den ehemaligen Kinderzimmern und der Stube wächst kniehohes Gras, Wasserpfützen und Dreck bedecken die Böden. Im verlassenen Haus eines geflüchteten Hutu-Nachbarn findet Jules eine Liste mit Namen und Anweisungen, wie nach der totalen Auslöschung der Tutsi deren Hab und Gut unter den Hutu verteilt wird. Ein fein säuberlich erstellter Plan, genauso wie es die Bauern in Jules Landwirtschaftsprojekt gelernt haben. Das Dorf ist wie ausgestorben.

Es fehlen die Menschen, die bekannten Gesichter. Die einen wurden umgebracht, die anderen sind auf der Flucht. Die wenigen, die überlebt haben, kämpfen mit ihren Erinnerungen, so auch Elses Familie.

Im kleinen Dorf von Elses Familie weigerten sich die Bewohner, sich gegenseitig zu töten. Anfangs zog die lokale Hutu-Miliz noch unverrichteter Dinge wieder ab. Zwei Wochen später erschienen sie wieder und stellten die Menschen vor die Wahl. Wer sich als Hutu weigerte zu töten, wurde vor Ort und Stelle massakriert. Die Familie trennte sich. Die Mutter von Else versteckte sich in einer Kirche. Der jüngere Bruder von Else, Vater von zwei kleinen Jungen, wird zusammen mit dem älteren Sohn von den Hutu-Milizen mit Macheten niedergestreckt. Der kleine Sohn überlebte. Hutu-Freunde der Familie versteckten ihn. "Du siehst die Überlebenden, hörst ihre Geschichten und kannst immer noch nicht verstehen, wie das passieren konnte. Der Patenonkel von einem der Kinder entpuppte sich als Drahtzieher bei den Tötungen und musste sich vor Gericht verantworten, andere Hutu-Bekannte flohen ins Ausland oder endeten im Gefängnis. Unser Nachbar, der angesehene Funktionär, wurde zusammen mit seiner gesamten Familie getötet."

Die Familie von Else kehrt Wochen nach dem Genozid wieder in ihre Häuser auf dem abgelegenen Hügel zurück und beginnt das gleiche Leben wie zuvor. Mit der Zeit kommen auch die Täter zurück. Ein nach dem Genozid eingeführtes Justizsystem -basierend auf lokalen Dorfgerichten -macht es möglich, dass sie früher entlassen oder gar begnadigt werden. Täter und Opfer sind wieder Nachbarn -als lägen dazwischen nicht Dutzende von Toten, sondern nur ein paar Bananenstauden und ein kleines Stück Land. Sie teilen sich das Feierabendbier, feiern zusammen Feste, trauern gemeinsam, wenn jemand stirbt und nennen ihre Kinder immer noch Dieudonne und Innocent. Das Leben hat sie wieder.

Auch Jules und seine Familie sind kurz nach ihrem Besuch nach Ruanda zurückgekehrt. Endgültig. Sie haben neue Arbeitsstellen und Freunde gefunden, Land erworben, ein Haus gebaut. Den Glauben ans Paradies hat Jules nicht verloren. Die grünen Hügel, das kupferne Licht, die rostrote Erde sind immer noch die Gleichen.

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