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Der Traum von Europa

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Wie schön erschien dieses Europa in den Jahren nach 1945. Die französischen Städte waren zerstört, man hungerte in Paris genauso wie in Berlin, die Heimkehrer aus den Kriegsgefangenenlagern und KZ, die Männer und Frauen der Resistance suchten nach neuen Horizonten und erforschten den Sinn ihres Leidens und Kämpfens.

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Wie schön erschien dieses Europa in den Jahren nach 1945. Die französischen Städte waren zerstört, man hungerte in Paris genauso wie in Berlin, die Heimkehrer aus den Kriegsgefangenenlagern und KZ, die Männer und Frauen der Resistance suchten nach neuen Horizonten und erforschten den Sinn ihres Leidens und Kämpfens.

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Die Widerstandsbewegung war nicht nur in der Abwehr einer drückenden Besatzung entstanden, sondern wollte eine bessere soziale und internationale Wertordnung schaffen. Die Programme der Resistance beinhalten daher grundlegende gesellschaftliche Reformen und zeichneten die Konturen eines Europa, in dem ein demokratisches Deutschland . seinen Platz finden sollte. Selbst de Gaulle hatte auf dem Höhepunkt seines Kampfes gegen das Dritte Reich die bisherigen Vorstellungen von einem europäischen Gleichgewicht begraben und die Vision ■ eines solidarischen Europa gezeichnet. Die erste Staatspartei der IV. Republik, der christlich-demokratische MRP, verlieh dem europäischen Begriff einen mystischen Glanz. In späteren Jahren verstärkte die Partei ihre Politik in Zielrichtung eines föderalistischen Europa zuungunsten der sozialreformerischen Tendenzen. Die Sozialisten schlössen sich diesem Kreuzzug für Europa an. Markante Persönlichkeiten wie der Anfang Juli 1970 verstorbene Andre Philip prägten die Physiognomie einer politischen Generation, die den bequemen Nationalismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurückwies. Von Frankreich gingen die ersten praktischen Initiativen zur Einigung des westlichen Teiles unseres Kontinentes aus. Paris provozierte aber auch die zwei schwersten Krisen: die Ablehnung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954. 1963 blockierte de Gaulle die englische Kandidatur zur EWG durch sein brüskes Veto.

Die federführenden Institute stellten 1969 und 1970 fest, daß 67 Prozent der Franzosen gegen 11 Prozent für die Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa“ eintraten. Mit anderen Worten verlangten die Befragten in der überwiegenden Mehrheit das Stadium eines europäischen Zollvereines zu verlassen und befürworten die politische Einheit. Diese umfaßt die Begründung einer europäischen Regierung, die drei Sektoren gemeinsam verwaltet: Außen-und Wirtschaftspolitik sowie Verteidigung. In der letzten Enquete (Februar 1970) ängstigten sich jedoch 28 Prozent über zu große Abgabe von Hoheitsrechten an internationale Behörden. Die gaullistische StaatsPhilosophie hat die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflußt.

Denkt und handelt der französische Bürger in erster Linie als Europäer? Auch heute sieht die heranwachsende Generation ihre Erfüllung im nationalen Rahmen und ist nur selten bereit, übernationalen Kriterien nachzukommen. Diese Feststellung ist durch die Entwicklung des französischen Schulwesens zu erklären. Nach wie vor gehen historisch-staatspolitische Erwägungen von der Nation als der letzten vernünftigen Gemeinschaft von Menschen gleicher Sprache und gleicher Sitten aus.

Der junge Rekrut wird während seiner Militärzeit mit nationalen Leistungen konfrontiert. Ihm werden nur am Rande übergeordnete europäische Interessen aufgezeigt. Am ehesten ist die technische Intelligenz für die Gedanken Europas aufgeschlossen, da sie in weiteren Begriffen denkt und die internationale Dynamik wissenschaftlicher Entwicklungen abmißt. Vertreter des Kleinbürgertums sind den europäischen Ideen feindlich gesinnt. Gewerkschaftsfunktionäre kritisieren die Einwanderung billiger Arbeitskräfte aus Süditalien und später der iberischen Halbinsel und bekämpfen die Freizügigkeit des europäischen Arbeitsmarktes im Interesse der eigenen Arbeiterschaft.

Im allgemeinen entspricht die Politik von Außenminister Schumann der öffentlichen Meinung. Nach wie vor glauben die Zentrumsparteien an eine schnellere Bildung eines europäischen Bundesstaates. Bezeichnenderweise hat die Partei Duhomets in ihrem Programm den Wunsch nach einem einigen Europa von soziale und wirtschaftliche Aspirationen gestellt. Der eben gekürte Abgeordnete der Stadt Nancy, Servan-Schreiber, manifestierte seine europäische Gesinnung und pilgerte sofort nach Bonn und Hamburg. Finanzminister Giscard d'Estaing träumt von einer europäischen Währung und einem damit verbundenen internationalen Reservefonds. Das Staatsoberhaupt hat zusätzliche europäische Spekulationen abgebogen. Es bleibt bei den Perspektiven einer Allianz souveräner Staaten, die bereit sind, gewisse technische Rechte an internationale Behörden abzutreten. Erst eine grundlegende Veränderung der französischen Mehrheitsverhältnisse würde diese Maxime der nachgaullistischen Außenpolitik revidieren. Vorläufig liegen keine Anzeichen für einen innenpolitischen Erdrutsch vor.

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