Der Versuch einer "MUSTERSTADT"

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Vor einem Jahr wurde in Debalzewe noch erbittert gekämpft. Jetzt bemühen sich die Bewohner um eine Wiederherstellung. Doch die Wunden verheilen nicht so leicht.

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Vor einem Jahr wurde in Debalzewe noch erbittert gekämpft. Jetzt bemühen sich die Bewohner um eine Wiederherstellung. Doch die Wunden verheilen nicht so leicht.

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Am Ende blieb vom Haus ein Loch. In der Grube, so groß wie ein Autoreifen, hat sich Müll gesammelt, von der Witterung aufgeweicht. Dort, wo früher das Wohnzimmer war, grub sich eine Granate in den Boden. "Da war die Küche", sagt Alexander Lysak und weist auf eine zertrümmerte Ziegelwand. Ein verkohlter Boiler, verrostete Rohre.

Eine Wohngegend in der ostukrainischen Stadt Debalzewe: An einer schlammigen Wohnstraße reihen sich kleine Häuschen aneinander, geduckt, aber ohne Dächer, mit gähnenden Einschusslöchern. Die bunten Zäune sind von Granatsplittern durchlöchert. Es war auch ein Splitter, der Alexanders Kopf traf, wie feine Fäden durchziehen die Narben seine Kopfhaut, und ihn mit seinen erst 26 Jahren zum Invaliden machte. Er hat trotzdem einen Neuanfang gewagt: Nur wenige Meter von seinem alten Zuhause entfernt ist er mit Frau und Kind in ein neues Haus eingezogen. Zur Schlüsselübergabe kam sogar der Anführer der Separatistenrepublik, Alexander Sachartschenko, höchstpersönlich. Eine Stunde lang hätten sie im Haus gemeinsam Tee getrunken, erzählt Alexander stolz.

Unter Feuer

Debalzewe war vor einem Jahr Schauplatz einer der erbittertsten Kämpfe zwischen pro-russischen Separatisten und ukrainischer Armee. Die Stadt, ein wichter Eisenbahnknotenpunkt an der Grenze des Donezker und Luhansker Gebietes, wurde vier Wochen lang von den pro-russischen Separatisten bombardiert. Dass Debalzewe erst zwei Tage nach einer vereinbarten Waffenruhe ab dem 15. Februar von den Separatisten eingenommen wurde, machte den Friedensplan von Minsk eigentlich schon kurz nach seiner Unterzeichnung zur Makulatur. "Debalzewe ist unsere Reifeprüfung gewesen", sagte Sachartschenko zuletzt in einem Interview. In einem Propagandafilm der Separatisten wurde der Kampf um Debalzewe zuletzt zum "Marsch des Sieges" hochstilisiert. Doch die Wunden des Krieges sind noch nicht verheilt. Ausgebombte Häuser säumen die Straßen, viele Fenster sind notdürftig mit Plastikfolie verklebt. Debalzewe ist auch heute noch eine Trophäe in Trümmern.

Wenn es nach Sergej Leonidowitsch geht, soll sich das jetzt allerdings ändern. Der gedrungene 53-Jährige ist bei der Stadtverwaltung für den Wiederaufbau zuständig. Er rattert die Zahlen herunter: 199 kommunale Wohnblöcke und 1160 Privathäuser sind infolge des Krieges unbewohnbar geworden, insgesamt 80 Prozent der Wohnfläche. Unter dem Artilleriedonner zerbarsten Dächer, Wände, Fensterscheiben, praktisch kein Haus blieb unversehrt. 46 der kommunalen Wohnhäuser wurden bis dato wieder aufgebaut, 81 weitere sollen bis zum Sommer folgen.

Ein Aufbauprogramm gibt es auch für die vielen Eigenheimbesitzer, wie auch den oben genannten Familienvater Alexander. Er ist davon überzeugt, dass das erst der Anfang war. "Hier ist meine Heimat, und ich möchte nirgendwo anders leben", sagt er. "Ich habe immer auf unsere neue Republik gehofft und bin überzeugt, dass wir hier alles aufbauen werden und dass sich Debalzewe entwickeln wird."

Botschaft des Neuanfangs

Tatsächlich soll in Debalzewe die Botschaft von Neuanfang und Aufbruch transportiert werden. In einem Randbezirk liegt das Prestigeprojekt der Stadtverwaltung: In einem verfallenen Heim aus Sowjetzeiten entstehen 40 neue Wohnungen - vor allem für jene Familien, die ihr Zuhause im Krieg verloren haben. Die offizielle Eröffnung steht wenige Tage bevor, überall wird gehämmert und gebohrt. Von der Tapeten über die Rohre bis zu den Heizkörpern - das gesamte Material stammt aus Russland, erzählt Sergej. "Wir haben auch Hilfe von internationalen Hilfsorganisationen bekommen, wie dem Roten Kreuz", erzählt Sergej. "Aber alles, was Sie hier sehen, kommt aus Russland."

Überhaupt ist die selbstproklamierte "Donezker Volksrepublik" beim Wiederaufbau fast ausschließlich auf Hilfe aus Russland angewiesen. "Das Maß der Zerstörung ist viel größer, als wir derzeit stemmen können", räumte Alexander Kovalenko, der stellvertretende Bauminister der Separatistenrepublik, zuletzt in einem Interview mit der Associated Press ein. "In erster Linie kommt die humanitäre Hilfe aus der Russischen Föderation." In den zerstörten Dörfern entlang der Frontlinie hat der Wiederaufbau noch gar nicht begonnen. Doch in Debalzewe wollen die Separatisten ein Exempel statuieren: Immerhin sei "Debalzewe - die Lokomotive des Donbass", sagt Sergej, mit einem Hang zu sowjetischen Sinnsprüchen.

Dass es vor allem die Separatisten mit maßgeblicher russischer Unterstützung waren, die Debalzewe bei ihrer Offensive in Schutt und Asche legten, hört man hier allerdings nicht gerne. Stattdessen beruft man sich lieber auf den ehemals sowjetischen Glanz, der mit der Unabhängigkeit der Ukraine unter Kiewer Führung verblasst sei. "Das war hier einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte der Sowjetunion", sagt Alexander, der junge Familienvater. "Wie konnte das nur unter Kiewer Führung so verfallen?" Der Bürgermeister Alexander Reingold schlägt in eine ähnliche Kerbe. "Die Ukrainer haben sich 25 Jahre lang nicht für diese Stadt interessiert", sagt er, "die Wasserleitungen sind aus dem Jahr 1926."

Hort des Komforts

Reingold sitzt in seinem Kabinett, flankiert von Porträts des Separatistenführers Alexander Sachartschenko und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der 33-Jährige ist selbst ist erst seit wenigen Tagen im Amt, prophezeiht der Stadt aber schon jetzt eine strahlende Zukunft. Debalzewe solle sich zu einem "Hort des komfortablen Lebens wandeln, wo die Menschen nicht nur leben, sondern sich entwickeln und auch Geld investieren." Mehr noch: So würden sogar Menschen aus dem ukrainisch kontrollierten Territorium nach Debalzewe fliehen. Warum? "Weil die Bedingungen hier nun mal besser sind als dort", wirft der Pressesprecher ein. 17.000 der ehemals 25.000 Einwohner sollen mittlerweile wieder nach Debalzewe zurückgekehrt sein, so der Bürgermeister. Überprüfen lässt sich das nicht. Doch eines ist klar: Mit jedem wiederaufgebauten Haus wird der Machtanspruch der Separatisten über das Gebiet weiter einzementiert.

Leben in der Geisterstadt

Tatsächlich ist wieder Leben in die ehemalige Geisterstadt gekommen. Im Stadtzentrum flanieren Pensionisten und junge Familien mit Kinderwägen. Von Normalität ist Debalzewe trotzdem noch weit entfernt. Die Stadt ist weiterhin maßgeblich auf humanitäre Hilfe angewiesen. Lebensmittelmarken werden verteilt, die Hälfte der Bewohner sind Pensionisten. Arbeit gibt es nur bei der Eisenbahn, eine Fabrik für Maschinenbau, die zuvor in die ukrainische Millionenstadt Charkiw lieferte, steht still. Die meisten Kindergärten sind noch geschlossen, wer trotz der tristen wirtschaftlichen Lage eine Arbeit hat, nimmt seine Kinder zur Arbeit mit. Und immer wieder trägt der Wind aus nördlicher Richtung auch Geschützdonner in die Stadt, die Front ist hier nur sieben Kilometer entfernt. Der nördliche Teil der Stadtgemeinde, Switlodarsk, ist schon auf ukrainischer Seite. Und geschossen wird fast täglich.

So ist es eine verzagte Hoffnung, die aus vielen Anwohnern spricht. In einem Buchladen im Stadtzentrum können Kühlschrankmagnete mit der Aufschrift "Debalzewe - Donezker Volksrepublik" erworben werden. Die patriotischen Symbole der selbstproklamierten Separatisten-Republik seien ein Verkaufsschlager, doch die Stimmung unter der Bevölkerung ist nicht ganz so eindeutig, sagt die Verkäuferin Tanja Iwanowna. "Der eine ist enttäuscht, der andere hofft, dass doch noch alles besser wird", sagt sie. "Ich gehöre zu denen, die hoffen, dass am Ende alles gut wird." Wenige Meter weiter steht Ljuda Wasiljewa hinter dem Verkaufstresen eines Mini-Marktes. "Als ich vor einem Jahr wieder nach Debalzewe zurückgekommen bin, waren am Abend alle Fenster dunkel", sagt sie. "Jetzt ist zumindest überall wieder Licht."

Über die Deutungshoheit der jüngsten Ereignisse möchte die lokale Führung indes keine Zweifel aufkommen lassen. "Im ewigen Gedenken an die Brüder und Schwestern, die in den Jahren 2014 und 2015 ihr Leben ließen, um Debalzewe von den ukrainischen Strafkommandos zu befreien", ist auf einem dunklen Quader im Stadtzentrum eingraviert. Zumindest hier scheint die Interpretation der tragischen Stadt-Geschichte schon jetzt in Stein gemeißelt zu sein.

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