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Der Vertrag von Stockholm

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Wenn in diesen Tagen die erste Ministerkonferenz der EFTA-Staaten nach der Unterzeichnung des Vertrages in der Wiener Hofburg stattfindet, so ist es wohl zweckmäßig, wieder einmal die Grundsätze festzulegen, nach denen sich die österreichische Integrationspolitik ausrichtet. Das ist sicherlich um so notwendiger, als darüber in der Öffentlichkeit keine vollkommene Klarheit herrscht. Ich möchte außerdem damit dem Vorwurf begegnen, der auch während der Parlamentsdebatte im Dezember vergangenen Jahres zum Ausdruck kam, daß die Informationen darüber bisher nicht ausreichend seien. Ein Vorwurf, der interessanterweise auch aus der Publizistik in anderen Staaten immer wieder zu hören ist. Vielleicht ist eine der Ursachen dieses Mangels an ausreichender Information darin zu erblicken, daß einerseits das Problem der Integration sowohl wegen seines Umfanges, als auch wegen seiner vielfältigen internationalen Verflechtungen überhaupt schwer verständlich ist und anderseits die in Zukunft zu beschreitenden Wege und Möglichkeiten keineswegs festliegen. Diese Erklärung enthebt natürlich nicht der Verpflichtung, für eine ausreichende Publizität des jeweiligen Entwicklungszustandes zu sorgen. Dieser Aufgabe mögen die nachstehenden Zeilen dienen.

Zunächst muß als ein österreichischer Grundsatz zu gelten haben, daß die Integration Europas als ein wirtschaftliches Problem und nicht als ein politisches aufzufassen ist. Natürlich haben die Verfechter der politischen Linie recht, wenn sie argumentieren, daß letzten Endes alle Entscheidungen internationaler Natur politische Entscheidungen sind und daß politische Erwägungen und Aspekte letzten Endes einen bedeutenden Motor für die Integration überhaupt darstellen. So gesehen, wollen wir Österreicher gar nicht leugnen, daß das Zusammenwachsen und die Koordination der Volkswirtschaften der freien europäischen Nationen eine der Voraussetzungen für die politische Freiheit dieses alten Kontinents sind.

Nur wenn den freien europäischen Nationen das tägliche Brot in Gegenwart und Zukunft gesichert wird, darf mit Recht angenommen werden, daß auch die Freiheit bewahrt wird. Da aber dieses tägliche Brot der Europäer in Zukunft — schon in naher Zukunft! — von der Automation unserer Betriebe und einer sinnvollen Arbeitsteilung im europäischen Raum abhängen wird, ist die wirtschaftliche Integration eben eine zwingende Notwendigkeit!

Anderseits kann nicht geleugnet werden, daß eine bewußt herausgestellte Prävalenz politischer Tagesfragen einen Hemmschuh für die Entwicklung der wirtschaftlichen Integration bedeuten müßte. Es erfüllt uns daher mit einer gewissen Sorge, wenn maßgeblichste Vertreter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der ersten europäischen Integrationsform, immer wieder den politischen Hintergrund ihrer Gemeinschaft ostentativ in den Vordergrund stellen, weil damit natürlich den Gegnern jeder europäischen Integration Angriffswaffen gratis und franko ins Haus geliefert werden. Je weniger über die politischen Zusammenhänge innerhalb der EWG gesprochen würde, um so rascher könnte es nach meiner Meinung zu einer Bereinigung der wirtschaftpolitischen Relationen in ganz Europa kommen. Es ist erfreulich, daß andere maßgebliche Sprecher der Staaten des Gemeinsamen Marktes diese unsere Auffassung vollinhaltlich teilen.

Um so bedauerlicher ist es daher auch, wenn von bestimmter österreichischer Seite immer wieder über politische Aspekte bzw. Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang gesprochen wird. Um es deutlich zu sagen: Die Frage der österreichischen, völkerrechtlichen und militärischen Neutralität hat im Konzept einer wirtschaftlichen Integration überhaupt keinen Platz! Es gibt keine wirtschaftliche Neutralität! Sie kommt im Kodex des Völkerrechts gar nicht vor; würde man sie erfinden, so wäre das nur der Anfang vom Ende unserer wirtschaftlichen Prosperität! Die strikte Einhaltung unserer völkerrechtlichen und militärischen Neutralität, die vom ganzen österreichischen Volk als reale Basis unserer Souveränität auch in Zukunft anerkannt und begrüßt wird, hat nichts mit für unsere Wirtschaft lebenswichtigen Entscheidungen in der europäischen Integrationsfrage zu tun. Darf damit nichts zu tun haben, weil wir uns sonst selbst Fesseln anlegen würden, von denen sich zu befreien später einmal unmöglich werden könnte.

Noch weniger als die Fragen der Neutralität haben die Probleme der Parteipolitik etwas mit der Wirtschaftsintegration Europas zu tun. Wie und nach welchen parteipolitischen Grundsätzen die freien europäischen Völker ihre Demokratien einrichten, ist ausschließlich Sache dieser Völker selbst. Mit ihnen in guter, wirtschaftlicher Nachbarschaft zu leben und durch Förderung der gegenseitigen Beziehungen die eigene Volkswirtschaft zu stärken, ist Aufgabe und Verpflichtung aller, die für die österreichische Wirtschaft verantwortlich sind. Es ist nicht maßgeblich, welche parteipolitischen Stimmzettel die Wähler in einem EWG-Staat bei demokratischen Wahlen abgeben. Wir müssen nur dafür Sorge tragen, daß unsere österreichischen Waren einen guten und dauernden Absatz im Ausland finden.

Dieser Absatz unserer österreichischen Waren kann zu einem Teil gefährdet werden, wenn die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wie es der Vertrag von Rom vorsieht, innerhalb ihres Bereiches die handelspolitischen und die Zollschranken abbaut, ohne den übrigen europäischen Staaten dieselben Vorteile zuzuwenden. Das wäre der Tatbestand der mit Recht vielzitierten Diskriminierung. Ihn nicht entstehen zu lassen, ist das Ziel unserer Bemühungen um eine multilaterale Assoziation, einen Brückenschlag oder wie immer man diese Konstruktion nennen will.

Der Weg zu diesem Ziel ist zur Stunde keineswegs klar, aber es gibt Instrumente, die geeignet erscheinen, das Ziel erreichen zu lassen. Nach dem Scheitern der Bemühungen um eine Große Freihandelszone ist die Europäische Freihandelsvereinigung ohne Zweifel als ein solches wirksames Instrument anzusehen. Diese Wirksamkeit sehe ich unter anderem darin, daß die EFTA als die Gesamtvertretung von sieben Staaten, denen sich möglicherweise noch der eine oder andere Staat anschließen oder assoziieren wird, natürlich ein bedeutend stärkeres Gewicht in den kommenden Verhandlungen haben wird, als wenn diese sieben Staaten jeder für sich allein in die Verhandlungen eintreten müßten. Schon im Ergebnis der letzten OEEC-Konferenz im Jänner dieses Jahres kann man für diese These den Beweis erbracht sehen. Ferner bedeutet die Tatsache, daß auch die EWG-Staaten, allen voran die Deutsche Bundesrepublik, ein lebenswichtiges Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer Handelsbeziehungen mit den EFTA-Staaten haben, ohne Zweifel eine Verstärkung jener Kräfte innerhalb der EWG, die mit uns gemeinsam eine baldige gesamteuropäische Lösung wünschen.

Weiter darf auch nicht der Umstand außer Betracht bleiben, daß die Verstärkung der Handelsbeziehungen innerhalb der EFTA-Staaten auf Grund der Konvention von Stockholm wirtschaftliche Vorteile bringen wird, die allfällige, aus einer EWG-Diskriminierung entstehende Nachteile zwar bei weitem nicht ausgleichen, jedoch ein wenig vermindern könnten. • Und schließlich ist es von besonderer Bedeutung, daß gerade das, was die EFTA-Staaten sich vorgenommen haben, nämlich die Realisierbarkeit einer Freihandelszone zu beweisen, eine der Voraussetzungen dafür, daß eine ähnliche Konstruktion für Gesamteuropa möglich ist. *

Natürlich mußte die Frage gestellt werden, warum Österreich den Weg nach Stockholm ging und nicht irgendeinen Weg zur EWG, der unserer handelspolitischen Struktur besser entsprochen hätte? Die Antwort auf diese vieldiskutierte Frage ergibt sich von selbst, wenn man weiß, daß diesbezügliche Versuche, die nicht nur von Österreich allein gemacht wurden, bisher samt und sonders negativ verlaufen sind. In diesem Zusammenhang sei zum Beispiel an die Rundreise des dänischen Handelsministers erinnert, der im Auftrage seiner Regierung die Möglichkeiten eines Beitrittes oder einer Assoziierung durch Besuche bei allen EWG-Regierungen geprüft hat und mit einem negativen Ergebnis nach Hause kommen mußte. Bei allen Fühlungnahmen, die österreichischerseits stattgefunden haben, konnte — begreiflicherweise — von Seiten der EWG eine klare Antwort über die zukünftige Entwicklung nicht erhalten werden; man hatte immer wieder den Eindruck, daß die EWG zunächst mit ihren eigenen inneren Schwierigkeiten zu tun hatte und es vermeiden wollte, in diesem Stadium noch zusätzliche Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Es ist klar,daß zum Beispiel ein Teil der von Österreich schon seinerzeit bei den Freihandelszonenverhandlungen angestrebten Ausnahmeregelungen sowie die Frage des Außentarifes gerade in der Anlaufperiode für die EWG grundsätzliche Schwierigkeiten bedeutet hätten. Ich erinnere daran, daß die österreichische Wirtschaft während der Verhandlungen über die Große Freihandelszone ein großes Paket von notwendigen Ausnahmebestimmungen angemeldet hat und daß es weder den österreichischen Unterhändlern noch den Vertretern anderer Staaten, die sich in gleicher Lage befinden, gelungen ist, auch nur eine einzige Zusage für die Einräumung solcher Ausnahmebestimmungen zu erreichen. Das Beispiel vom Kuchen, aus dem sich die eine Große Freihandelszone oder eine Assoziierung anstrebenden Staaten nur die Rosinen herausholen wollen, wurde uns immer wieder serviert.

Das wirft natürlich die Frage auf, was man sich unter einer Assoziierung überhaupt vorstellen kann? Nimmt man den Sinn und die Vorschriften des Vertrages von Rom über die EWG her, so wird man sehr bald zu der Erkenntnis kommen, daß für eine Assoziierung mehr oder minder nichts anderes übrigbleibt als eine Regelung, welche die handels- und zollpolitische Diskriminierung ausschalten soll. Mit anderen Worten: man kommt immer wieder auf den von mir schon im Oktober 1957 erstatteten Vorschlag eines kleinen Programms, das im wesentlichen auf die gegenseitige Inanspruchnahme der Zollvorteile und den gleichmäßigen Abbau der Handelsschranken hinausläuft.

Kann das also innerhalb gegebener Frist erreicht werden? Ich glaube, diese Frage mit einem vorbehaltlosen Ja beantworten zu können, wenn seitens der EWG überhaupt der Wille zu einer wirklich europäischen Lösung gegeben ist, woran wohl nicht gezweifelt werden darf. Die gegebene Frist ist zunächst der 1. Juli 1960, da an diesem Tag die zweite 10% ige Zollsenkung innerhalb der EWG und die erste 20% ige Zollsenkung innerhalb der EFTA eintreten wird. Bisher vermied die EWG die Diskriminierung dadurch, daß sie diese Zollsenkung allen GATT-Mitgliedern angeboten hat. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß immer wieder von verschiedensten Seiten der Vorschlag gebracht wird, es mögen die vorgeschilderten Schwierigkeiten dadurch überbrückt werden, daß sowohl EWG als auch EFTA die am 1. Juli 1960 in Aussicht genommenen Zollermäßigungen auf alle GATT^ Mitglieder ausdehnen. So wenig erfreut wir grundsätzlich darüber sein könnten, daß die europäische Integration nun plötzlich zu einer GATT-weiten werden soll, so wird doch von vielen Seiten — schon mit Rücksicht auf die zur Verfügung stehende Zeit — ein solches Vorgehen als möglich, ja beinahe unvermeidlich angesehen. Allerdings ist auch diese Sache nicht so einfach, wie sie im ersten Augenblick vielleicht aussehen mag. Vor allem wird es nämlich darauf ankommen, ob die EWG bereit ist, diese zweite 10%ige Zollsenkung auch in allen jenen Fällen GATT-weit anzubieten, in denen mit dieser Zollsenkung bei den einzelnen EWG-Staaten der künftige gemeinsame Außentarif unterschritten würde. Sollte die EWG-Zollsenkung nur bis zur Höhe des künftigen gemeinsamen Außentarifs GATT-weit angeboten werden, so würden sich daraus begreiflicherweise gewisse Komplikationen ergeben müssen. Eine zweite Schwierigkeit, die bei einem solchen Vorgang unbedingt zu bereinigen wäre, ist die, daß ein GATT-weites Angebot einer allgemeinen Zollsenkung wohl jene GATT-Mitgliedstaaten ausschließen müßte, die nur St^jshaniftb befieiben. Qat.3hfc.um Österreich im. Verhaltais • zur . Tschechoslowakei . von be-, sonderer Wichtigkeit. Eine dritte Schwierigkeit liegt darin, daß man. von den EWG- und EFTA-Staaten nicht gut verlangen kann, daß sie ihre Zölle auch gegenüber hochindustrialisierten GATT-Mitgliedstaaten senken, ohne daß diese zu einer gleichen Konzession bereit wären. Um auch hier das Kind beim Namen zu nennen: Eine 20% ige Zollsenkung gegenüber den USA würde für Österreich bestimmte Belastungen bringen, wenn nicht auch die Vereinigten Staaten zu einer solchen Zollsenkung bereit wären.

Das alles aber ändert nichts an der Tatsache, daß man mit einer derartigen, auf den 1. Juli 1960 abgestellten Regelung tatsächlich eine handelspolitische Diskriminierung in jeder Richtung vermeiden würde und damit bis zum nächsten Zollsenkungstermin innerhalb der EWG und innerhalb der EFTA, am 1. Jänner 1962, eineinhalb Jahre Zeit hätte, das Gesamtproblem wirklich zu lösen. Diese Gesamtlösung würde dann aber aller Voraussicht nach — man kann nie früh genug darauf verweisen — innerhalb des Bereiches, der seit neuestem vielfach altki“Atlantisch • Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet wird, erfolgen, dzs heißt, es würde eine wirkliche europäische Integration unter Einbeziehung und Anteilnahme der Vereinigten Staaten und Kanadas auf regionaler Bads erfolgen. Eine solche Entwicklung käme nach meinem Dafürhalten ohne Zweifel auch den amerikanischen Interessen entgegen und würde nicht zuletzt die europäischen Staaten in die Lage versetzen, sich an dem Hilfsprogramm für die Entwicklungsländer in verstärktem Maße zu beteiligen.

Es wird dazu allseits viel guten Willens bedürfen, aber ich sehe nicht ein, warum wir diesen guten Willen, der natürlich auch von uns Opfer verlangen wird, nicht aufbringen sollten! Die Ideen einer wirtschaftlichen Autarkie gehören längst zum alten Eisen! Die Technik hat die Welt immer kleiner gemacht, und je mehr die freien Nationen zusammenrücken, um so besser werden sie den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, der heute im wesentlichen die Ausdrucksform des kalten Krieges ist, bestehen können! Es gibt natürlich bei jeder Lösungsform Schwierigkeiten, aber es gibt nichts, was uns daran wirklich hindern könnte, unsere Freiheit zu verteidigen! Und dazu gehört nun einmal die wirtschaftliche Integration Europas. Mit dem Anschluß an die EFTA haben wir vertragsmäßig die Integration bejaht. Es steht daher gar nicht mehr zur Debatte, ob wir die Integration überhaupt wollen. Wir sind mit dem Beitritt zur EFTA schon auf dem Wege zu ihr. Daß dieser Weg zum gewünschten Ziele führe, ist unsere Verpflichtung und Aufgabe.

Dieses gewünschte Ziel ist, immer wieder muß es gesagt werden, die gesamteuropäische Lösung! Deshalb steht in der Präambel zur Freihandelsvereinigung auch, daß „die Republik Österreich“ und die übrigen EFTA-Staaten „in der festen Absicht, die baldige Schaffung einer multilateralen Assoziation zur Beseitigung der Handelsschranken und zur Förderung einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, einschließlich der Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zu erreichen“, folgendes vereinbart haben ...

Mit dieser Präambel wird der Zweck und das Ziel der EFTA eindeutig verkündet. Diese Präambel ist für Österreich ein integraler Bestandteil des ganzen Vertrages! Im Hinblick auf das, was in dieser Präambel ausgesagt wird, sind die österreichischen Vertreter nach Stockholm gegangen und wird das österreichische Parlament diesen Vertrag ratifizieren. Die Europäische Freihandelsvereinigung kann daher für Österreich niemals Selbstzweck sein! Wer den Vertrag von Stockholm so auslegen würde, daß Österreich in ihm allein schon ein Ziel sieht, würde ihn falsch auslegen. Nicht die Europäische Freihandelsvereinigung, an der wir nun mit aller Kraft und mit bestem Willen .mit-arbeiten werden, ist das Endziel, sondern die gesamteuropäische Lösung! Wir werden scharf darauf achten, daß in der zur Verfügung stehenden Zeit dieses Ziel erreicht wird, und wir haben Anlaß, guter Hoffnung zu sein, daß die Präambel des Vertrages von Stockholm zeitgerecht erfüllt wird! Aber: der Vertrag von Stockholm steht und fällt mit der Erfüllung seiner Präambel !

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