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Der Weg der orthodoxen Kirche

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Der innerrussischen Entwicklung, der raschen Veränderung des russischen Lebens wird im Ausland viel zuwenig Beachtung geschenkt. Wir laufen Gefahr, in einigen Jahren einem neuen, uns gänzlich unbekannten Rußland gegenüberzustehen, dessen inneres Kräftespiel schon heute für uns ein Geheimnis ist. Es ist erklärlich, daß alles, was in der russisch- orthodoxen Kirche vor sich geht — innere Kämpfe und Spannungen —, gar nicht oder nur gelegentlich und nur bruchstückweise an die Oberfläche gelangt. Dabei ist der Weg, den die russisch-orthodoxe Kirche bis heute gegangen ist, auch gerade über das Religiöse hinaus von besonderem Interesse. Paragraph 126 der Sowjetverfassung bestimmt, daß den leitenden Kern einer jeden Vereinigung von Staatsbürgern die Kommunistische Partei zu bilden hat. Nicht nur die großen Gewerkschaften und andere Massenvereinigungen haben eine leitende kommunistische Fraktion, sondern auch jeder kleine Sportverein im Dorf oder jede Gruppe für Liebhabereien. Die einzigen Organisationen der Werktätigen, in welchen keine kommunistischen Fraktionen bestehen, sind die Kirchen- und Religionsgemeinschaften. Dadurch, daß die Kommunistische Partei ihrerj Mitgliedern Atheismus vorschreibt und die Mitgliedschaft bei religiösen Gemeinschaften verbietet, verzichtet sie selbst auf jede innere Einflußnahme auf das religiöse Gemeinschaftsleben. Es hat sich die Situation herausgebildet, daß eigentlich für die Religionsgemeinschaften nur der Sowjetstaat besteht, dem sie Loyalität schuldig sind, nicht aber die Kommunistische Partei, welche diesen Staat beherrscht. Auf dem Gebiete der Religion ist tatsächlich eine weitgehende Spaltung zwischen Partei und Staat eingetreten. So äußerte sich einmal Nikita Chruschtschow: „Als sowjetischer Mi

nisterpräsident Jiabe ich nicht nur .die. Interessen der Atheisten, sondern auch diejenigen der Gläubigen wahrzunehmen.“ Tatsächlich, während die Parteiorganisation sich weiterhin ablehnend gegen jede Religion verhält, ist das Verhältnis zwischen dem Staat und den meisten Religionsgemeinschaften auf einer grundsätzlich gesetzlichen Basis geregelt, gewöhnlich durch eine Art von Koordinierungskommission von Vertretern aus Kirche und Staat. Die Staatsorgane sind angewiesen, den Geistlichen mit dem notwendigen Respekt entgegenzutreten, und die hohe Hierarchie, zum Beispiel der russisch- orthodoxen Kirche, wird mit jener

Ehrfurcht behandelt wie zur Zeit des Zarismus. Das interessante ist nur, daß trotz zweier Weltkriege, einer furchtbaren Revolution und wiederholten Verfolgungen der Religion und der Geistlichkeit die russisch-orthodoxe Kirche nicht einmal in Äußerlichkeiten sich irgendwie der modernen Zeit angepaßt hat. Für die russisch-orthodoxe Kirche gilt immer noch der alte Julianische Kalender. Daß die Sowjetregierung schon 1918 zum Gregorianischen Kalender übergegangen ist sowie diesen der Westen und die ganze Welt hat, das nimmt das Moskauer

Patriarchat gar nicht zur Kenntnis. Das kirchliche Rußland feiert Weihnachten und die Mehrzahl der gesqpiteftj: sf:’’ Hcbn, konsequent dreizehn’Tagerspäter als die übrige Welt. Jedoch auch der Patriarch hat nach Wiedereinführung des Patriarchats, 1917, den alten, historischen Titel angenommen: „Patriarch von Moskau und des ganzen Rußland." Dieser Titel beinhaltet ein ganzes Programm. Für die orthodoxe Kirche ist die heutige Sowjetunion eben noch das alte Rußland und nicht ein neuer Föderativstaat. Die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats erstreckt sich, genau wie zur zaristischen Zeit, auch über die Ukraine und die weißrussische Republik, und nach der gewaltsamen Liquidierung der griechisch-katholischen

Kirche in Ostgalizien, in der Karpato- llkraine und der Nordbukowina auch über diese „Rußlands“. Der Patriarch ist also das geistliche Oberhaupt für alle vier Rußland: das Große, das Kleine (Ukraine), Rotrußland (Galizien) und das Rußland an den Karpaten. Die russische Kirche ist viel zentralistischer als der Sowjetstaat selbst, und für sie gibt es nur ein prawoslawes Kirchenvolk und keine einzelnen Völker innerhalb des russischen Reiches. Selbst die rumänisch sprechenden Moldauer haben keine eigene autokephale Kirche, und der

Erzbischof von Kischinew untersteht dem Moskauer Patriarchat ebenso wie (ein beliebige?.

Mission nach Westen ■

Doch die russische Kirche hat noch mehr, dank der sowjetischen Außenpolitik, gewonnen: Für die griechisch- orthodoxen Kirchen, wie die rumänische oder die bulgarische, präsentiert das Moskauer Patriarchat jetzt jene geistliche Autorität, die früher der ökumenische Patriarch in Istanbul innehatte. Darüber hinaus wurden von Moskau aus neue autokephale orthodoxe Kirchen gegründet, so die polnische und die tschechoslowakische. Polonisierte Ukrainer und Russen bilden in Polen eine orthodoxe Minderheit. Die neue autokephale Kirche ist ein Sprungbrett, von dem aus das Moskauer Patriarchat im gegebenen Augenblick eine geistige Offensive lancieren kann. Die tschechischen orthodoxen Gemeinden datieren aus der Zeit, als viele Tschechen aus Sympathie für Rußland und aus pan- slawistischer Überzeugung zum griechisch-orthodoxen Glauben übertraten. Die geistige Abhängigkeit dieser, auto- kephalen Kirchen vom Moskauer Patriarchat kann auch hier in Zukunft Gelegenheit geben, gegen die westlichen Kirchen vorzustoßen. Doch damit nicht genug. In Ost-Berlin residiert jetzt ein russisch-orthodoxer Erzbischof mit dem Titel eines Exarchen für ganz Mitteleuropa. Die byzantinische Kirche hat eine unendliche Geduld. Doch organisatorisch hat sie alles vorgekehrt, um in einem gegebenen historischen Zeitpunkt auf dem Wege vorzustoßen, um aus Moskau das „dritte Rom“ zu schaffen.

Im Vergleich zur zaristischen Zeit scheint die russisch-orthodoxe Kirche heute weit zurückgedrängt zu sein. Der kirchliche Prunk begleitet nicht mehr jede Staatshandlung wie einst. Die Zahl der Kirchen und Klöster hat sich gewaltig vermindert. Trotzdem, mit mehr als 30.000 Geistlichen, mit 20.000 Gemeinden und etwa 20.000 Angehörigen des niederen Klerus, ist die russische Kirche immer noch eine große geistige Macht. Sie verfügt über acht Lehranstalten, davon zwei theologische Hochschulen. Das erscheint bedeutend weniger als zur zaristischen Zeit. Doch früher besuchten zahlreiche Schüler das Priesterseminar nur, um so auf billige Weise die Matura zu erlangen, ohne in den geistlichen Stand einzutreten. Heute dienen

Mittel- und Hochschulen nur noch der Ausbildung des geistlichen Nachwuchses. An Geld mangelt es der russischen Kirche nicht. Die einfachen Geistlichen und der niedere Klerus sind heute, im Gegensatz zur zaristischen Zeit, fest besoldet und die Kirche hat auch Geld für ein Millionenbudget der geistlichen Akademien, an denen genau so wie an den staatlichen Hochschulen die Studenten nicht bloß ganz unterhalten, sondern auch eine Entlohnung bekommen. Seit Jahren schon anerkennt die Sowjet- regierung nach außen hin die besondere Stellung des Patriarchen. Nicht bloß das Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit in Sagorsk bei Moskau ist das Verwaltungszentrum der russischen Kirche geworden, in dessen zahlreichen Gebäuden Verwaltungskanzleien, Druckereien, ein Priesterseminar und die Moskauer geistliche Hochschule untergebracht sind, sondern auch in Moskau selbst residiert der Patriarch durchaus seinem hohen Rang entsprechend: im Diplomatenviertel ist ihm die ehemalige Residenz des deutschen Botschafters zur Verfügung gestellt worden.

Disziplin und Strafgesetz

Wenn schon rein äußerlich die Bedeutung der russischen Kirche unterstrichen wird, so nimmt es nicht wunder, daß in langsamer, aber stetiger Arbeit, mit unendlicher Geduld die Erben Byzanz’ in Moskau ihre Stellung ausweiten. Im vorigen Jahr ist in dieser Hinsicht etwas sehr Charakteristisches passiert: Sechs Geistliche sind aus der Kirche ausgetreten, mit der Begründung, daß das Patriarchat jeden Fortschritt innerhalb der Kirche unterbinde und sich nicht der neuen Zeit anpassen wolle. Sie gaben sich als Sowjetpatrioten aus. Als nun auch noch ein sehr bekannter Theologieprofessor der Leningrader geistlichen Akademie mehr aus persönlichen Gründen (man hat ihm die Scheidung und die zweite Eheschließung kirch- licherseits sehr verübelt) von der Kirche abfiel, begann diese Gruppe, die sich. ätf. forBfehrittlieft bezeichflei eine antikirchliche Pressekampagne mit persönlichen Angriffen gegen hohe Hierarchen der Kirche. Doch diese Kampagne entfaltete sich nicht. Die großen Moskauer Zeitungen brachten die Artikel nicht. Statt dessen veröffentlichte das Amtsblatt des Patriarchats die Exkommunikation der sieben Abgefallenen. Noch mehr! Der Patriarch dekretierte, daß jede Unterstützung atheistischer Propaganda den Betreffenden außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen stelle. An diesem Vorgang ist das Folgende besonders interessant: Das alte Religionsgesetz verbot nämlich die Publizierung von Exkommunikationen, selbst auch nur von der Kanzel herunter, angeblich, weil solche Exkommunikationen die Gewissensfreiheit beeinträchtigen. Dieses für die Bolschewiki wichtige Gesetz ist also stillschweigend fallengelassen worden. Ebenso wie die russische Kirche heute in aller Öffentlichkeit Absetzungen und Strafversetzungen von Klerikern vornimmt. Der Metropolit Nikolai, lange Jahre gewissermaßen der Außenminister des Patriarchats, ist auch aus der Heiligen Synode ausgeschlossen worden und von der Kirche aus und nicht etwa vom Staat nach dem Kaukasus verbannt worden. Metropolit Nikolai scheint das Haupt einer Partei im russischen Klerus gewesen zu sein, die nach einer weitgehenden Reform des kirchlichen Lebens strebte. Gesiegt hat die konservative Richtung, und es ist besonders bezeichnend, daß, im Gegensatz zu früher, der Sowjetstaat die abtrünnigen oder reformfreudigen Kleriker keineswegs mit offenen Armen aufnahm und sie keineswegs etwa für antikirchliche Zwecke benützte. Gerade das Gegenteil ist eingetroffen. Wie als Antwort auf die diffamierenden Artikel der abgefallenen Kleriker erschien am 8. Jänner 1961 ein richtunggebender Artikel im Zentralorgan der Partei, in der „Prawda“. Der Artikel verbot jede Diffamierung der russischen Kirche und ihrer Geistlichkeit, mahnte zu strenger Berücksichtigung der religiösen Gefühle und begründete das damit, daß man in Zukunft keine Feindschaft säen dürfe zwischen Ungläubigen und Kirchenangehörigen. In allen neueren Ausgaben, so auch in der großen Sowjetischen Enzyklopädie, sind alle Artikel verschwunden, welche die russische

Kirche diffamierten oder angriffen. Jetzt wird auf die geschichtlichen und kulturellen Verdienste der russischen Kirche in der Vergangenheit hingewiesen und der heutigen Kirche attestiert, daß sie im zweiten Weltkrieg vieles getan habe, um den Sieg an die russischen Fahnen zu heften. Nicht umsonst hatte der Patriarch neben mehreren Medaillen auch zwei hohe Orden erhalten. Wenn jetzt in der Sowjetpresse über ein Vordringen der Kirche dann und wann geklagt wird, so geschieht dies beinahe im Ton der Resignation. So hat die So- wjetpresse in den letzten Wochen ohne große Kommentare die Tatsache fest- gestellt, daß jetzt beinahe alle Kinder, die von russischen Eltern stammen, nach der Geburt getauft werden. Treibende Kraft in der Familie seien dabei die Großmütter. Das ist eine wichtige Feststellung, denn die Großmütter in den zwanziger Jahren hatten ihre Erziehung noch im zaristischen Zeitalter, und ihre Anhänglichkeit an die Religion war daher verständlich. Die heutige Generation der Großmütter war bei Ausbruch der Revolution erst halbwüchsig oder sehr jung, und war das beliebte Objekt der vehementen antireligiösen Propaganda. Die Feststellung der Sowjetpresse ist an und für sich richtig. Die Russen, Ukrainer und Weißrussen taufen ihre

Neugeborenen. Allerdings sind nicht allein religiöse Gründe dafür maßgebend. Wesentlich ist die Tatsache, daß außen- und innenpolitisch die Sowjetunion einen russisch-nationalen Kurs segelt. Man kommt als Russe besser vorwärts als Beamter und im Zivilapparat denn als Angehöriger einer anderen Nationalität. Die Eltern wollen die Zukunft der Kinder sicherstellen. Der Name seihst besagt nichts, denn man kann ihn wechseln. Seit jeher jedoch gehören Russentum und Prawoslawie zusammen. Der Taufschein der rechtgläubigen russischen Kirche soll eben dem Neugeborenen später einmal beweisen helfen, daß er als Russe von russischen Eltern geboren wurde.

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