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Der Zweikampf um die Freihandelszone

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Seit Monaten stocken die offiziellen Verhandlungen, die zur Schaffung einer europäischen Freihandelszone führen sollen. England, das nach dem überraschend schnellen Zusammenschluß der „Sechs“ der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)1 die Führung der restlichen elf OEEC-Staaten' übernommen hatte, gab jedoch auch in dieser Zeit das Rennen um den größeren europäischen Markt nicht auf. Mit der den Angelsachsen eigenen Zähigkeit reiste der britische Freihandelszonenherold Sir Reginald Maudling von einer Hauptstadt Westeuropas zur anderen, um wenigstens die zweiseitigen Gespräche über das für England so wichtige Thema nicht gänzlich erlahmen zu lassen, und es wurde dafür gesorgt, daß bei dem Treffen der europäischen Staatschefs und Minister der letzten Zeit stets auch das Thema auf der Tagesordnung stand.

Was ist nun die Ursache, daß die offizielle Stelle, die einen Freihandelszonenvertrag zu entwerfen hat, nämlich das Maudling-Komitee, bisher nicht mehr zusammentreten konnte? Das vor vielen 'Monaten angekündigte und so sehnlich erwartete Memorandum, auf einen Gegenvorschlag Frankreichs zum englischen Freihandelszonenplan basierend, das die Haltung der „Sechs“ endgültig festlegen soll, will sich nicht einstellen. Begreiflich! Es soll ja ein solches aller „Sechs“ sein und nach außen hin deren Geschlossenheit und Eintracht zeigen.

Frankreich kann aber während seiner innerpolitischen Krise, die auch durch die Präsidentschaft de Gaulies nicht behoben ist, derzeit von seiner starren, die Freihandelszone ablehnenden Haltung schwer abgehen. Hat es doch Risiken genug. Und sosehr sich auch Deutschland um eine loyalere Haltung bemüht, Frankreich blok-kiert, von Italien unterstützt, das so sehnlich erwartete Memorandum, und ein Fehlen dieses wiederum hemmt die Arbeit des Maudling-Komitees.

Wohl erklärte Ministerpräsident de Gaulle die Europavertretungen zu respektieren und nahm integrationsfreundliche Politiker, wie Pinty, Pflimlin, Mollet und den Außenminister Couve de Murville, in sein Kabinett auf. Doch bei der schwierigen finanziellen Lage des Landes und der Ablehnung der Freihandelszone durch die französische Wirtschaft dürfte er zumindest vor der Volksabstimmung und den Wahlen im Herbst kaum wagen, durch reale Zugeständnisse Stimmen aufs Spiel zu setzen. Nachdenklich stimmt auch, daß nicht nur Freunde der Europaeinigung in seiner Regierung sitzen, sondern auch ausgesprochene Gegner, wie zum Beispiel der Justizminister Michel Debre.

Wie mag de Gaulle selbst zur europäischen wirtschaftlichen Einigung stehen? Offiziell hüllt er sich, wie bei fast allen entscheidenden Fragen, die von ihm noch gelöst werden sollen, außer der bereits erwähnten Grundsatzerklärung, in Schweigen.

In Pariser offiziellen Kreisen gibt es die verschiedensten Meinungen. Sicher ist, daß der General in erster Linie französische und dann erst europäische Politik machen wird. Diese fällt zusammen, wenn man unter europäischer Politik die kleineuropäische der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft versteht. Doch liegt es in der Natur de Gaulies, sich großzügigen Plänen nicht zu verschließen, und es ist durchaus möglich, daß er deshalb „angesichts der Geschichte und Größe Frankreichs“ für einen gesamteuropäischen über die EWG hinausgehenden gemeinsamen Markt eintreten wird. Darin liegt eine Chance für die Freihandelszone. Er wird die von Briand am klarsten akzentuierte, aber schon seit Jahrhunderten gezeigte französische Sympathie für ein Paneuropa — einst zur Ueber-windung des österreichisch-spanischeji. Habss-burgerimperiums, später des Bismarck-Reiches gedacht — zweifellos bejahen. DazUj kommt, daß die bisherigen wirtschaftlichen Zusammenschlüsse in der OEEC für Frankreich, das zumeist seine Sonderwünsche durchsetzen konnte, sehr vorteilhaft waren. Aber es ist eine Frage der Zeit, wann dieses mit der algerischen Hypothek belastete Land wirtschaftlich in der Lage sein und vor allem wann es seine Regierung riskieren wird, auch eine de Gaulies, das Wagnis der wirtschaftlich sich mehr und mehr öffnenden Grenzen auf sich zu nehmen.

Was sind eigentlich die Forderungen Frankreichs, die derzeit die Bildung einer Freihandelszone verzögern oder sogar gefährden?

Abgesehen von dem sachlich unbedeutenden Begehren nach einer anderen Bezeichnung — es möchte den großen Markt „Europäische Wirtschaftsvereinigung (EWV)“ nennen — dem kaum jemand ernstlich widersprechen wird, beharrt es auf zwei gefährlichen Postulaten. Es soll eine Freihandelszone oder, wie immer der größere Markt heißen soll, erst zwei bjs vier Jahfe nach Wirksamwenitcjer Euiqpäjen.cjrtfcbafts,--gemeinschaft der „Sechs“ in Kraft treten und es soll der Abbau der handelshemmenden Maßnahmen getrennt nach Industriesektoren erfolgen.

Die erste Forderung würde für einige Jahre eine Diskriminierung der übrigen elf OEEC-

Staaten, also auch Oesterreichs, bedeuten, die andere viele Möglichkeiten zu einer Verwässe-rung des Ganzen bieten, so daß der Freihandelszonenvertrag ein Stück wertloses Papier wäre.

Selbstverständlich versucht Frankreich seine unnachgiebige Haltung moralisch zu rechtfertigen. Es wirft vor allem England vor, daß es mit seinem Freihandelszonenplan beabsichtige, die Arbeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu stören und in einem künftigen größeren Markt doppelten Nutzen zu ziehen: nämlich weiterhin billig seine Rohstoffe dank der ihm eingeräumten Präferenzen aus dem Commonwealth zu beziehen, um diese dann nach der Verarbeitung zollfrei auf dem europäischen Kontinent abzusetzen. Frankreich und die übrigen europäischen Staaten müßten hingegen die Rohstoffe teurer einkaufen und wären somit nicht konkurrenzfähig.

Kürzlich ging nun Sir Christopher Steel, britischer Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, anläßlich einer Tagung der Industrie- und Handelskammer Essen auf dieses Argument ein. Er stellte fest, daß die Vorzugszölle gegenüber den Commonwealth-Ländern zu 90 Prozent lediglich landwirtschaftliche Erzeugnisse betreffen. England aber eine industrielle Freihandelszone vorgeschlagen habe. Anderseits sei Großbritannien verpflichtet, diesen Ländern Investitionskapital zur Verfügung zu stellen. Es stehe allen europäischen Staaten frei, sich den gleichen bevorzugten Zugang zum Commonwealth zu verschaffen, sie müssen aber auch bereit sein, die gleichen Verpflichtungen zu tragen.

So entwickelt sich das Ringen um die Freihandelszone immer mehr zu einem Duell zwischen den derzeit politisch bedeutendsten Ländern Europas, England und Frankreich.

Auch das Treffen MacMillans mit General de Gaulle in Paris war von diesem Zwist überschattet. Während der Brite immer wieder auf die politischen Folgen, die ein Scheitern des Fieihandelszonenplanes heraufbeschwören müßten, hinwies — Spaltung Europas, Schwächung des Westens —, legte der französische Ministerpräsident das Schwergewicht ausschließlich auf wirtschaftliche Fragen. Es gab viele schöne Worte für den Gast von der Insel, aber keine Zugeständnisse.

Noch weniger Ruhm erntete dem Vernehmen nach Maudling bei seinem letzten Gespräch mit dem französischen Finanzminister Pinay. Dieser zeigte sich über das Freihandelszonenprojekt wohl absichtlich nicht sehr informiert. Er erklärte vorwurfsvoll, es wäre England jederzeit freigestanden, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten, under fände es etwas ; pltj, sjch te#tr,5aiDäiTiJen |es Kuchens“ zu beteiligen.

Es ist nicht verwunderlich, daß sich unter diesen Umständen auch die Haltung Großbritanniens versteift. Man legt plötzlich ein sichtbares, vielleicht ein zu sichtbares Desinteressement an dem Zustandekommen der europäischen Integration an den Tag.

Maudling gab in London bekannt, daß er sich einstlich mit Rücktrittsabsichten trage. Er warte nur noch die Ergebnisse der Ende Juh in Paris tagenden Sitzungen des Intergouvernementalen Komitees (Maudling-Komitee) und des OEEC-Ministerrates ab.

Interessant ist es, das Tauziehen zwischen Frankreich und England auch im scheinbar kleinen zu beobachten. Weigerte sich doch Frankreich hartnäckig, auf die Tagesordnung der OEEC-Ministerkonferenz formell den Punkt Freihandelszone zu nehmen. Aber es besteht kein Zweifel, daß dieses Problem unter Punkt 1, allgemeine wirtschaftliche Lage, und nicht nur auf englische Initiative hin behandelt werden wird.

An Stelle der nun scheinbar doch etwas müde gewordenen Engländer werden bei der nur zwei Tage früher stattfindenden Sitzung des Maud-ling-Komitees die Schweden einspringen. Die schwedische Regierung, der im Wahlkampf vorgeworfen wurde, sie sei auf. dem Gebiete der europäischen Einigung zuwenig initiativ, beabsichtigt nämlich, den seinerzeitigen Vorschlag Präsident Hallsteins aufzugreifen, ab 1. Jänner 1959, also mit Wirksamwerden deT Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, einen Freihandelszonen-Interimsvertrag in Kraft treten zu lassen. Sie will einen Vertragsentwurf vorlegen, der eine Diskriminierung der übrigen elf OEEC-Staaten vermeiden würde und die bereits bekannten Vorschläge enthält: lOprozentige Zollsenkung. 20prozentige Aufstockung der Globalkontingente sowie eine „declaration d'intention“, den endgültigen Vertrag innerhalb einer bestimmten Zeit abzuschließen.

Dieser Plan gibt England die Möglichkeit, nach seinem eingehenden Bemühen wenigstens einen vorläufigen Erfolg für sich zu buchen, Frankreich, was das wesentliche ist, Zeit, seine innerpolitische Lage zu stabilisieren — Wahlen, Verfassung, Währung — und Oesterreich Gelegenheit, Hand in Hand mit Schweden initiativ zu werden und als Unparteiischer im Zweikampf um die Freihandelszone die Versöhnung anzubieten.

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