6719635-1965_07_01.jpg
Digital In Arbeit

Desatellisierung

Werbung
Werbung
Werbung

Die Periode des kalten Krieges stand sowohl im Osten als auch im Westen unter dem Zeichen der Blockbildung: Getreu dem militärischen Denken, vor dem die Politik weitgehend kapituliert hatte, organisierte man auf beiden Seiten seine „Heerscharen“, suchte das Auseinanderstrebende zusammenzuzwingen, unter eine zentrale Leitung zu bringen und sowohl ideologisch wie politisch, ökonomisch und militärisch zu vereinheitlichen. Hie Moskau, hie Washington. Was dazwischen war, das war von Übel. Beide Seiten richteten die Scheiterhaufen für ihre Ketzer, der Osten für seine Titos, der Westen für seine Kennans.

Ungefähr mit dem XX. Parteitag der KPdSU jedoch begann der Wind der Weltpolitik sich zu drehen. Ob es einem paßte oder nicht — und manchen in Ost und West paßt es noch heute nicht —, das Boot, in dem die Menschen dieser Erde seit der Erfindung der Atombombe gemeinsam sitzen, wurde abgedreht und nahm nun Kurs auf „Entspannung“. In dem Maße, wie der äußere Druck nachließ, verlor nun aber auch der innere Zwang zur Blockbildung, Vereinheitlichung und Zentralisierung an Überzeugungskraft und Potenz. Die Desintegrationserscheinungen im Westen sind allzu bekannt — man denke bloß an de Gaulle —, als daß wir hier besonders auf sie hinweisen müßten. Aber den darob in Verzweiflung geratenden Freunden eines kompakten Westblocks bleibt zumindest der Trost, daß es im Osten nicht viel besser geht. Ja, die Desintegration im Ostblock hat teilweise bereits zu gefährlichen inneren Spannungen geführt — Beispiel: der Konflikt Moskau-Peking —, wie sie der Westen nicht kennt.

Aber diese östliche Desintegration ist nicht nur in Asien, sondern auch in Europa' sehr deutlich erkennbar. Wer heute mit offenen Augen durch osteuropäische Staaten reist, der stellt ohne besondere Anstrengung fest, daß jeder dieser Staaten, mehr oder weniger ausgeprägt, einen eigenen Weg zu gehen versucht und teilweise auch schon geht. Nationale und nationalistische Traditionen, die zur Zeit der Sowjetherrschaft unterdrückt waren, leben wieder auf und verschaffen sich zusehends Geltung.

Gleichzeitig hat man aber auch begonnen, auf eigene Faust zu experimentieren, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Wirtschaftsstruk-tur Polens unterscheidet sich teilweise sehr weitgehend von derjenigen etwa Ungarns. Während Bulgarien im Innern wie nach außen noch stark an das sowjetische Vorbild und die Sowjetunion gebunden ist, sucht Rumänien — wo keine sowjetischen Truppen mehr stationiert sind — selbständig, seine wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit dem Westen auszubauen. Der Grad der geistig-kulturellen „Liberalisierung“ ist von Land zu Land verschieden. Was in Ungarn und teilweise in der Tschechoslowakei heute möglich ist, ist in Bulgarien unmöglich. Falls diese Entwicklung andauert, könnten in Osteuropa sieben verschiedene Gesellschaftsformen den „Ostblock“ repräsentieren.

Um diese Entwicklung zu charakterisieren, ist ein weiteres neues Wort geprägt wopdem: Man kennzeichnet sie als „Desatellisierung“. In der Tat ist es .heute kaum mehr möglich, die osteuropäischen Staaten als Satelliten Moskaus zu bezeichnen. Moskau hätte es zwar noch immer in der Hand, notfalls einen rebellischen osteuropäischen Staat militärisch zur sowjetischen Ordnung zu rufen. Aber die politischen Folgen — man denke an die Reaktion Pekings, die Auswirkung auf die Unterentwikkelten, die Beziehungen zum Westen, ja, auch auf die Stimmung im eigenen Land — wären so verheerend, daß eine solche Intervention beinahe undenkbar geworden ist. Um die Polen wegen der Ausbootung Chruschtschows zu beruhigen, begaben sich Kossygin und Breschnjew zu einem Treffen mit Gomulka an die sowjetisch-polnische Grenze; Gomulka wurde nicht nach Moskau „zitiert“. Und die Rumänen werden von Moskau, trotz gewisser offen antisowjetischer Maßnahmen, mit Samthandschuhen angefaßt.

Das Mittel, mit dem Moskau die osteuropäischen Staaten an sich zu ketten versucht, ist wirtschaftlicher und militärisch-strategischer Natur. Abgesehen von Rumänien sind die osteuropäischen Staaten wirtschaftlich weitgehend von Moskau abhängig, sowohl was die Lieferung von Rohmaterialien als auch was die Gewährung von' Investitionskrediten anbelangt. Auch in Sachen Verteidigung und Rüstung sind die osteuropäischen Staaten weitgehend auf den Schutz und die Lieferungen des „großen Bruders“ angewiesen. Das Gefühl der Bedrohung durch die westliche Militärpolitik — vor allem durch die Funktion, die darin Westdeutschland hat — war und ist der stärkste Verbündete Moskaus in seinem Versuch, Osteuropa politisch bei der Stange zu halten. Nichts könnte den Prozeß der osteuropäischen Desatellisierung mehr fördern als ein feierlicher Verzicht Bonns auf Atomwaffen und eine Bereitschaft Bonns, die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa zumindest aufrichtig zu diskutieren. Das ist der bestimmende Eindruck, den ich noch von jeder Reise in den Osten in den letzten zehn Jahren zurückgebracht habe.

Freilich wird man nun einwenden: Aber die Ideologie? Die Antwort darauf muß lauten, daß gerade die Ideologie eine der wesentlichsten Ursachen der hier nachgezeichneten Entwicklung im Osten ist. Wer die theoretischen Diskussionen im Osten aufmerksam verfolgt, der gelangt zu der Überzeugung, daß der Marxismus-Leninismus sich in voller Krise befindet. Die Säulen seiner Grunddogmen wanken, und man hat alle Hände voll zu tun, um die Theorie einigermaßen glaubwürdig mit der Praxis in Einklang zu bringen beziehungsweise die Theorie so zu entwickeln, daß sie gleichzeitig den Anforderungen einer modernen Gesellschaft im Zeitalter der Automation, Kybernetik, Soziologie, Psychologie, Massenkommunikation usw. entspricht und doch noch ein einigermaßen marxistisches Gesicht wahrt. Man ist gezwungen worden, sich mit Fragen der Ethik, der Moral, der „Philosophie vom Menschen“ zu befassen, da man bei den sogenannten Klassikern des Marxismus auf die Fragen, die einem die eigene Jugend immer ungeduldiger stellte, keine Antworten fand.

Der marxistische Revisionismus befindet sich in voller Entwicklung, und einer seiner führenden Köpfe, Polens Parteiphilosoph Adam Schaff — Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Polens —, erklärte kürzlich in einer Diskussion in Köln, es gebe heute innerhalb des Marxismus einen „Pluralismus von Philosophien“, was durchaus den Tatsachen entspricht. Diesem Pluralismus der Philosophien aber entspricht der Pluralismus der politischen Wege, die die einzelnen osteuropäischen Staaten nun vorsichtig einzuschlagen begonnen haben.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung