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Deutschland, Rußland, Ost und West

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Als die hundertköpfige deutsche Mannschaft um Dr. Adenauer sich nach Moskau in Bewegung setzte, folgten ihr mehr als tausend Augen kritischer Beobachter im Westen. In England, Frankreich, aber auch Amerika. Leicht ironisch wurde das Aufgebot an Personal, an Funkern und Köchen, und an Material, an hol-steinschem Katenschinken und Mercedes 300 vermerkt. In eine tiefere Zone der Kritik führten bereits die Hinweise auf die Namen einzelner Persönlichkeiten der deutschen Mannschaft, die einst obstinat Hitlers Ostkampf verteidigt hatten. Es fehlten auch nicht einige Stimmen, die es als beachtenswert vermerkten, daß in dieser „wilhelminischen Mischung von Pomp, Materialglanz und persönlicher Aufmachung“ nicht e i n Priester, zumindest e i n berufen-beruflicher Repräsentant der Kirche vertreten sei, der in Moskau für die Männer des „christlichen Abendlandes“ zumindest beten könne ...

Hinter diesen und jenen, nicht selten maliziösen Bemerkungen verbarg sich eine große Unsicherheit und Sorge; sie trägt mehr als einen Namen. Ihr geläufigster heißt heute noch „das Gespenst von Rapallo“. Gesehen mit den Augen etwa von englischen Wirtschaftern und Militärpolitikern, besagt das den Argwohn: schlägt jetzt nicht bereits in Moskau die Stunde, in der sich eine künftige Begegnung des deutschen und russischen Dynamismus anbahnt? Eine Zusammenarbeit, die der deutschen Wirtschaft die Märkte des Ostens bis tief nach Asien hinein öffnet — jene Märkte, in deren Vorhöfen, in Hongkong, Singapur und Japan, immer noch die Vertreter der englischen und amerikanischen Wirtschaft v/arten, ohne die Erlaubnis teils der Regierungen der östlichen, teils der westlichen Hemisphäre zum Eintritt in das „gelobte Land“, in die riesigen Räume Asiens und zu den Massen und Millarden Menschen, deren Versorgung mit neuzeitlichen Geräten, Maschinen und Bedarfsgütern die Erstellung von Produktionsplänen auf lange Sicht, auf Jahrzehnte hinaus ermöglichen würde.

Hier liegt ja der springende Punkt der neu sich anbahnenden Weltpolitik der westlichen Hemisphäre: wenn, wie es heute bereits praktisch begonnen wird, die Aufrüstung nicht im alten Umfange weitergetrieben wird, dann gibt es für die gigantischen Industrien Amerikas und der westlichen Welt nur eine Alternative: das Eindringen in die aufnahmsfähigen Räume Asiens. Afrikas, Südamerikas. Dieses Eindringen setzt aber Frieden voraus: weltweiten Frieden, der es ermöglicht, daß die hitzigen Kämpfe wirtschaftlicher Konkurrenz-gruppen durch machtpolitische Vereinbarungen in globalem Maßstab abgeschirmt werden, so daß sie nicht ihrerseits allzu schnell zündende Funken kriegerischer Auseinandersetzungen bilden. Die Bürgerkriegssituation in Nordafrika, aber auch, sichtbar und verborgen in weiten Teilen Südamerikas, nicht nur in Argentinien, läßt es nun für die Planer westlicher Weltwirtschaftsgruppen geraten erscheinen, sich für jene Räume in höchstem Maße zu interessieren, in denen bereits große Planungen im Gange sind, die' eben große Mittel' zu ihrer Durchführung erfordern: also in erster Linie die UdSSR, dann China und auch Indien, das nur im Falle einer effektiven Koexistenz bereit ist, sich dem amerikanischen Markt weiter zu eröffnen.

Diese Kreise der westlichen Welt beobachteten sorgfältig, wie sich, im „Schaufenster der westlichen Welt im Osten“, bei der Leipziger Herbstmesse dieses schicksalschweren Septembers, der Ausstellungsraum der westdeutschen Bundesrepublik von 2 9 14 auf 8 14 6 Quadratmeter sprunghaft vergrößert hatte. Wochen zuvor waren bereits, als einzige und erste, westdeutsche Städteplaner und Städtebauer zu einer Rundreise durch die Sowjetunion eingeladen worden: man hatte ihre Kritik erbeten und sich in Moskau sehr freimütig über eigene Mängel ausgesprochen. Es ist also, seit geraumer Zeit bereits, für Kreise westlicher Weltwirtschaft offenbar geworden: Rußland drängt darnach, für seine riesigen inneren Planungen, die, unter anderem, die Kolonisation des heute unter sowjetischer Herrschaft stehenden Zentralasien umfassen, deutsche Experten, Fachleute, Methoden und Materialien zu gewinnen. Die Regierung der Sowjetunion hatte in ihrer wiederholten Einladung an Bonn, Beziehungen aufzunehmen, „kulturelle Beziehungen“ immer wieder unterstrichen. Moskau versteht dabei „Kultur“ durchaus im Sinne der alten Römer: als „Agrikultur“, das heißt als Bebauung und Besiedlung von dünnbesiedelten Ländern und Räumen, die auf diese Weise der politischen Herrschaft gesichert werden sollen.

Als Dr. Adenauer von Moskau nach Bonn zurückkehrte, richtete er als erstes einen eindrucksvollen Appell an den Westen, das Bedürfnis der Sowjetunion nach Sicherheit zu verstehen und zu würdigen. Gleichzeitig fügte er, für seine Deutschen und für seine engsten Anhänger, die, immer noch infiziert von Kreuzzugsträumen, auf dem Höhepunkt seiner Moskauer Verhandlungen triumphierend in Bonn erklärten: es wird keine Botschaft der Moskowiter in Bonn geben, und die, nach seiner Heimkehr, voll Verachtung gegen die „Friedenssehnsüchtler und Koexistenzhascherln im Westen“, gegen „die teuflischen Profiteure unserer sentimentalen Schwächen Bulganin, Chruschtschow und Genossen“ wetterten, nachdrücklich hinzu: er, Adenauer, sei überzeugt, daß die Sowjetunion eine gewisse Zeit der Ruhe und Entspannung in ihren internationalen Beziehungen wünsche, weil sie sich große Aufgaben im Innern gestellt habe. Wörtlich erklärte er: „Die Mächte der freien Welt sollten mit aller gebotenen Vorsicht von dem sowjetischen Wunsch nach Entspannung Kenntnis nehmen und daraus eine Periode der friedlichen Entwicklung entstehen lassen“.

Was steht nun hinter den Moskauer Gesprächen des Bonner Kanzlers: eine neue Verbindung deutscher und russischer Interessen, wie es westliche Kreise argwöhnen, oder, wie Bonner Blätter es ausdrückten, eine einzige große „Erpressung“, wobei der „Gefangenenzwinger als oberster Sowjettrumpf“ erscheint: „Iie Tage in Moskau waren wie ein schlimmer Rückwärtstraum in die Zeit des tausendjährigen Reiches“, wobei wir, wenn wir in Oesterreich diese Worte illustrieren wollten, zur Ansicht kommen müßten, Dr. Adenauer sei in Moskau ebenso, wenn nicht schlimmer behandelt worden als der österreichische Bundeskanzler Dr. Schusehnigg durch Hitler und seine Generale im grauen Februar 1938.

Nun sah aber alle Welt, wie der Bonner Bundeskanzler in Moskau mit allen Ehren aufgenommen wurde. Kein früherer Empfang für ausländische Staatsmänner überstrahlte den seinen, wenn man nicht zurückdenkt an den Empfang Maotsetungs; dieser aber liegt lange zurück, in, wie es scheint, anderen Zeiten... Ebenso aber hörte alle Welt von den ernsten und offenen Auseinandersetzungen zwischen den Staatsmännern des sowjetischen Reiches und dem westdeutschen Kanzler.

Die Moskauer deutsch-sowjetische Aussprache vom September 195 5 — mit Recht vermerkt ein besonnener süddeutscher Kommentator zu ihr, man möge doch nicht vergessen, daß „deren bloßes Inbetracht-ziehen noch vor Jahresfrist von manchen als Hochverrat ausgelegt worden wäre“ — ist ein Glied in der Kette jener Unternehmungen, die von den Sowjets in Wien, Belgrad, Genf eingeleitet wurden, und die alle auf einen großen Ausgleich mit Amerika hinzielen. Monate bereits vor Genf galt die große Sorge Dr. Adenauers diesem kommenden Vergleich. Nicht ganz zu Unrecht hatte man die Bonner Republik, und das heißt ihre wirtschaftliche Entfaltung, das „deutsche Wirtschaftswunder“, und die damit verbundene politische Erstarkung, als ein „Kind des kalten Krieges“ bezeichnet. Nicht nur in Ostdeutschland und Paris hatte man sodann ironisch oder“ höhnend bemerkt: dieses „Wunder“ werde wie ein Luftballon zerplatzen, wenn nun eben der russisch-amerikanische Vergleich zustande komme. Die Nervosität Bonner Kreise — vielleicht hängt ihre unziemliche Behandlung österreichischer Agenden auch damit zusammen — war durchaus begreiflich: wurde nicht in Wien, dann in Genf, damit begonnen, Westdeutschland, ja Deutschland, auf dem Altar der Interessen der eigenen Weltwirtschaft zu opfern? Der sorgenvolle Brief Dr. Adenauers an Staatssekretär Dulles gab dieser Sorge beredten Ausdruck. Die Reise des Bonner Kanzlers nach Moskau hatte demnach auch diesen Sinn: eine Demonstration an die Adresse der westlichen Verbündeten zu sein. Als solche wurde sie, wie gerade englische Stimmen verraten, denn auch deutlich genug erkannt.

Und nun geschah das Interessante, aber durchaus im Sinne großer sowjetischer Weltpolitik liegende: Moskau empfing Dr. Adenauer durchaus als einen Botschafter der westlichen Welt. Die sowjetischen Politiker machten nicht den leisesten Versuch, Dr. Adenauer etwa die NATO auszureden. Zwei Gründe für dieses Verhalten sind besonders beachtenswert: Rußland hat Zeit; der große Vergleich mit Amerika, ist ihm immer noch wichtiger als der in vieler Hinsicht problematische Versuch, Westdeutschland vom Westen zu lösen. Der zweite Grund wurde sehr offen ausgesprochen in Moskau: Moskau fürchtet die deutsche Dynamik, den deutschen Sturm und Drang, der sich im 20. Jahrhundert in technischmilitärischen Formen ausdrückt, ernst und wirklich. Hier begegnet sich nun, in einer letzten Dimension — so merkwürdig das auf den ersten Blick erscheinen mag, der Kreml mit dem Westen (auch mit amerikanischen Kreisen), und mit dem Bonner Kanzler selbst. Es ist verständlich, daß die USA und Bonn diese innerste Ver-bindurigsmöglichkeit nicht allzu offen verlauten lassen. (Wozu aber gibt es eine freie Publizistik, und den freien Raum neutraler Staaten, wenn nicht genau auch zu diesem Zweck, Wirklichkeiten anzusprechen, die den angstgepeitschten, durch Schlagworte verwirrten Massen in den primären Spannungsräumen verborgen gehalten werden?)

Rußland wünscht deutsche Techniker, deutsche Spezialisten, deutsche Maschine, Methoden und Wirtschaftsmittel. Rußland ist aber nicht bereit, einen ihm ungeheuer scheinenden Preis dafür zu • bezahlen: die Einwilligung in ein Großdeutschland neuer Prägung; als ein solches müßte aber das mit amerikanischen Waffen und Kapitalien ausgerüstete Gesamtdeutschland unter der Führung Bonns erscheinen. Rußland hat deshalb demonstrativ Grotewohl und seine Kollegen aus der Deutschen Demokratischen Republik gleich nach Dr. Adenauer nach Moskau eingeladen, das heißt, in der diplomatischen Sprache des Kreml: Die deutsche Wiedervereinigung ist eine Sache der Deutschen, und das heißt in der Sprache der Weltpolitik: Deutschland, das wiedervereinigte, mit den Mitteln des Atomzeitalters ausgestattete Deutschland, ist eine so große, so gefährliche Sache, daß wir darüber nur im Gesamt eines großen Ausgleichs mit dem Westen später einmal verhandeln wollen. Das wissen Amerika und England: eben deshalb verhandeln jetzt die Expertenstäbe der USA, Englands und Frankreichs über einen „großen Plan“, der zweierlei ermöglichen soll: Deutschland zu vereinigen, es zu binden, so daß es nicht zum mächtigen Erreger neuer Weltkonflikte werden soll und Rußland eine Garantie zu geben, ja mehr, eine Hilfe, um seine weltpolitische Rolle zwischen Deutschland und China erfüllen zu können. Man spricht deshalb seit geraumer Zeit bereits in amerikanischen Kreisen von einer Milliarden-Dollar-Anleihe an Rußland, von einer Anerkennung der russischen Vormacht in den Satellitenstaaten Osteuropas, und von anderen weitreichenden Plänen einer Zusammenarbeit.

Hinter diesen Erwägungen steht die Einsicht, zu der sich amerikanische Politiker langsam durchringen. Das deutsche Problem, d i e deutsche Frage ist größer, tiefer und komplizierter, als sie der „böse Hitler“ und der „gute Adenauer“ mit ihrer Erscheinung und Politik personifizieren; auch Dr. Adenauer ist dem ungeheuren Sog ausgesetzt, den die deutschen Massen, die deutsche Wirtschaftsmacht, und nicht zuletzt der deutsche Irrationalismus in allen seinen rechten, linken und mittleren Schattierungen auf jede deutsche Regierung ausüben.

Das aber weiß vielleicht niemand so gut wie der nüchterne Rechner in Bonn. Gerade in diesem Sinne ist der rheinische Kanzler im besten Sinne ein Mann des Westens. Adenauer kennt seine Deutschen. Der Beredsamkeit, mit der er in Moskau bemüht war, das deutsche Volk vom Vorwurf des Nationalsozialismus, Imperialismus und unberechenbaren Dynamismus zu entlasten — gegenüber der hartnäckigen Befragung durch Chruschtschow, der als Volksführer um die innerste Dynamik breiter Massen im 20. Jahrhundert einigermaßen Bescheid weiß —, entspricht genau sein hartnäckiges, verständliches Schweigen um seine eigenste große Sorge: wird das deutsche Volk Ruhe, Geduld, Einsicht genug besitzen, wird es sich, aufpreschend in den Versuchungen des „deutschen Wunders“, des Luxus, der Geltungssucht und Ueberhebung, selbst Maß und Grenze zu setzen wissen, um seine große Chance, weltpolitischer Mitspieler zu sein, richtig nützen zu können?

Der „Alte in Bonn“ kennt seine Deutschen und weiß deshalb seine großen Mitspieler in Washington seit langem zu schätzen: sie sollen ihm ja dazu verhelfen, das deutsche Gewicht zu sichern, in einer Union des Westens, um es vor der ihm innewohnenden Zerstörungskraft zu befreien. In Moskau hat nun Dr. Adenauer seinen großen Gegenspieler wohl ebenso schätzen gelernt (höchstwahrscheinlich ist diese seine Hochschätzung bereits etliche Jahre alt, zumindest seit seiner Rede über neue Ost-West-Gleichgewichte vor zwei Jahren), jedenfalls konnte er diese seine Hochschätzung erst jetzt öffentlich dokumentieren. Er weiß: das „Volk der Mitte“ kann seine Mitte nur finden, wenn es in sehr konkreten Bindungen an den Westen das ganze Gewicht seiner Gegenspieler im Osten ruhig annimmt und erträgt.

Die nächste Station heißt auch deshalb wieder Genf: es wird nachgerade Zeit, für Washington und Moskau, über die incertitudes allemandes, die deutschen Unsicherheiten und Ungewißheiten, zu einer Absprache zu kommen, da für beide neue große Unsicherheiten herandrängen: Südamerika, Afrika, Asien sind im Aufbruch. In jenem Aufbruch unbefriedeter Massen, zu dem jener deutsche „Aufbruch“ ein Vorspiel war, zu dessen Beendigung Dr. Adenauer nach Moskau ging.

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