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Die 5. Republik sucht einen Erben
„Was für ein Mensch wäre ich, wenn ich nicht die Konsequenzen ziehen würde...“
So vernahmen es am 9. April die französischen Fernseh- und Rundfunkhörer aus dem Mund des Staatspräsidenten. Noch in der Nacht vom 27. auf den 28. April zog Charles de Gaulle diese Konsequenzen. Aus dem Elysee-Palast zog er zurück in seine Einsiedelei von Colombey-les-Deux Eglises. Nun triumphiert die Kritik, die dem alternden Staatsoberhaupt vor allem seit dem Mai 1968 ans Herz gegriffen hatte. Die aus Spöttern und vermeintlichen Modernisten und linken Anarchisten bestehende Front der Pariser Bühne hatte schon lange vorher den Boden gelockert, auf dem das Generalsregime zu ruhen glaü 3.
Und de Gaulles Kritiker im Europa können nun all das aus den Tischladen ziehen, was bereits in geheimen Dossiers für den Sturz des Regimes bereitlag. 'Wird es jetzt leichter sein, mit Frankreich jenen Akkord zu erzielen, den Europa braucht?
Aber auch außerhalb Europas kann Kanadas Premier nun ebenso aufatmen wie Israels Verteidigungsminister: Frankreichs Glorie ist matter geworden, und schon hofft man auch, Frankreich wieder endgültig vom Tische der Großen zu verdrängen, an den sich de Gaulle mit der Selbsitversitändlichkeit seines gallischen Selbstbewußtseins gesetzt hatte.
Der unbequeme Mann ist fort. Und schneller als erwartet, hat er sieh selbst in dem Netz gefangen, das er für seine Gegner spannte. Der Anlaß des Rücktritts ist — nimmt man alles in allem — geradezu lächerlich. Nach den Sommerunruhen des letzten Jahres hatte de Gaulle die „Participation“ zum Leitmotiv seiner Politik gemacht, ohne je definiert zu haben, was Mitbestimmung und Mitbeteiligung konkret bedeuten würder. Die Reformen in dieser Richtung zogen sich schleppend hin, und nur Unterrichtsminister Faure konnte Teilerfolge durch das Parlament bringen. So mag es angesichts einer zunehmenden Irredenta vor allem in der Bretagne zuerst ein glücklicher Einfall gewesen sein, Frankreich von den zentralistischen Schlacken das Pariser Mittelpunktes zu befreien und dem Provinzen und Regionen unter dem Schlagwort „Participation“ mehr Autonomie zu geben. Auch der Umbau einer zweiten Kammer zu einem Instrument der Sozialpartnerschaft (in anderen Ländern in verschiedenen Formen schon praktiziert) sollte eine neue Partnerschaftsebene ermöglichen. Diese beiden Dinge in einem Referendum zu verquicken, war freilich kein kluger Rat. So stellten sich auch gutwillige Franzosen zum Teil gegen die Föde-ralisierung, zum Teil nur gegen die Senatsreform. Aber diese Gruppen, die aus unterschiedlichen Motiven entweder das eine oder das andere oder aber die Verbindung beider Fragen ablehnte, waren zusammen groß genug, dem General hart zuzusetzen. Und plötzlieh wurde in de Gaulles Augen die Sachfraige des Referendums plötzlich zum Prestigefall für seine Person.In der Not der Kritik von rechts und links (und auch seiner eigenen Partei) griff der General zum bewährten „de-Gaulle-Effekt“: Er stellte sich seibat in Frage und wollte ein „Alles oder Nichts“ — kurzum, er versuchte, die Franzosen neuerlich damit zu erpressen, entweder ihn und sein Referendum oder das Chaos zu wählen. Der Trick gelang nicht mehr; die Franzosen wollten sich nicht mehr einreden lassen, bei jeder Sachfrage gleichsam Präsidentschaftis-wahlen durchzuführen. Der Abgang von der Bühne war wenig erfreulich und der Größe des Mannes nicht entsprechend. Über de Gaulle wird die Geschichtsschreibung urteilen. Er bescherte Frankreich in den sechziger Jahren Ordnung, Aufstieg und eine neue Renaissance der französischem Politik, französischer Kultur und französischen Geistes in der Welt. Und was immer seine Kritiker behauptet haben mögen: er sah vor allem Frankreich, doch dieses Frankreich mit den Augen eines Europäers und dieses Europa mit den Augen eines Mannes, den man vielleicht den letzten Staatsmann nennen wird. Nach ihm mag die Zeit der Technokraten kommen. De Gaulle übergibt ein zwar im Mai 1968 erschüttertes, aber in seinen Grundfesten nicht zerstörtes Frankreich seinem Nachfolger. Es ist müßig, zu spekulieren, ob es eine Nebenabsicht de Gaulles gewesen sein mag, noch vor der Zeit das Steuer des Schiffes zu verlassen. Denn an und für sich hat er sich seinen Nachfolger schon selbst erwählt. Freilich hat er nur noch wenige Chancen, in das Spiel um die Naohfolge selbst einzugreifen. Aber Georges Pompfdou hat ein Jahr Zeit gehabt, sich seinen Lands-leutem zu präsentieren und präsent zu machen.
Pompidous große Chance liegt nun im Schock, der den Franzosen nach de Gaulles Abgang in die Glieder gefahren ist. Der Wähler in Frankreich kann sich das Land ohne den Generalpräsidenten nach so langer Amtszeit schon fast nicht mehr vorstellen. So kann Pompidou aus der vielzitierten Angst vor dem Chaos doch den größten Nutzen ziehen — — vor allem dann, wenn es zu keiner Föderation der alten Parteien mehr kommt.
Pompidous Hoffnung auf einen spektakulären Sieg sind also berechtigt, wenngleich man einzukalkulieren hat, daß die UDR, die Partei der Gaullisten, nicht geschlossen hinter dem Ministerpräsidenten der Mairevolte des Vorjahres steht.'
Die Sozialisten wiederum haben wenig Chancen, einen spektakulären Präsidentschaftskandidaten ins Gefecht zu schicken: Mollet, Defferre und Mitterand sind abgekämpfte Routiniers, und hinter dem Kommunisten Waldeck-Roehet baut sich kein. „Papabile“ auf, Lecanuet und Giscard d'Estaing haben nur kleine Gefolgschaften.
Was immer also im Theater an der Seine in den nächsten Monaten vorbeizieht: in Frankreich hat die Szene gewechselt, die Rollen werden getauscht, ein neuer Akt beginnt. Bleibt die Fünfte Republik auf der Bühmie?
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