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Die allerletzte Galgenfrist

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Das Wahlergebnis vom 9. Oktober ist noch nicht einmal verdaut und schon ist von vorgezogenen Neuwahlen 1996 die Rede. Da ist von Anfang an der Wurm drin.

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Das Wahlergebnis vom 9. Oktober ist noch nicht einmal verdaut und schon ist von vorgezogenen Neuwahlen 1996 die Rede. Da ist von Anfang an der Wurm drin.

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Die Regierungsverhandlungen beginnen, die Koalition der Verlierer des Wahlsonntags ringt um ein neues, internes Kräfteverhältnis. Die Versuchung, nach der Niederlage in der Wahlzelle einen Sieg am Verhandlungstisch herauszuschlagen, ist groß. Augenmaß ist auch in harten Verhandlungen unverzichtbar.

Daß die Koalition in ihrem bisherigen Sujet nicht fortsetzbar ist, muß allen klar sein. Nur nicht zum ersten Mal steht eine Koalition neuen Stils auf der Tagesordnung. Aber was ist dabei herausgekommen?

Eine neue große Koalition muß bescheiden werden. Das heißt, sie muß sich auf einige wenige konkrete Vorhaben konzentrieren und diese zügig ohne Wenn und Aber gemeinsam umsetzen. Als Sanierungspartnerschaft, die diesen Namen verdient. Nur dafür darf es ein Koalitionskorsett geben.

Eine neue große Koalition muß in allen sonstigen politischen Gestaltungsfragen Mut genug haben, im neuen parlamentarischen Kräftespiel Mehrheitsentscheidungen anzustreben und auch auszuhalten.

Das ist der kritische Punkt: Die Volkspartei hat da gegenwärtig eindeutig die besseren Karten, weil sie mit der FPÖ rechnerisch über die einfache Mehrheit verfügt. Die Angst der Sozialdemokraten, daß es offiziell eine große und inoffiziell eine stille kleine Koalition geben könnte, ist durchaus verständlich. Die Volkspartei wird sich um vertrauensbildende Maßnahmen bemühen müssen. Das sollten vor allem auch die „Scharfmacher“ in der ÖVP bedenken, die jetzt Morgenluft wittern.

Für die Sozialdemokraten rechnet sich augenblicklich nichts. Weder mit den Grünen noch mit dem Liberalen Forum haben sie im freien parlamentarischen Kräftespiel eine Mehrheit in Aussicht. Daher muß die SPÖ - ob sie es will oder nicht - im Parlament eine Gesprächsbasis mit den Freiheitlichen finden. Trotz Haider. Überwindung ist notwendig, um diese Situation zu überwinden. Sonst bremsen sich die Sozialdemokraten selbst aus.

Die Aufwertung der parlamentarischen Demokratie durch die Möglichkeit der freien Mehrheitsbildung paßt so gar nicht zu den Totengesängen, die auf die repräsentative Demokratie zuletzt angestimmt worden sind.

Das freie Spiel der politischen Kräfte-ist aber nur ein Aspekt. Es bleibt „unfrei“, wenn es zu keiner Rückbesinnung auf das freie Mandat kommt, wenn nicht der einzelne Mandatar ungestraft aus seinem Parteikorsett ausbrechen darf. Das gilt für die Regierungsparteien ebenso wie für FPÖ, Grüne und Liberale. Damit sich die Vertreter der Parteien eben nicht irgendeiner politischen Taktik „ihrer“ Partei verpflichtet fühlen, sondern gegenüber dem Staat als ganzen, dem Gemeinwesen.

Für die neue Ara müssen verfei nerte demokratische Spielregeln entwickelt werden. Eine Demokratiereform ist notwendig, die nicht nur das Verbändewesen nicht ausklammert, sondern die insgesamt die Staatsmaschinerie und die Repräsentation umfaßt, die entflechtet und entfilzt. Die auch das einlöst, was die letzte Wahlrechtsreform schuldig geblieben ist: ein Persönlichkeitswahl- recht, das den Kontakt von Wähler und Gewähltem persönlich gestaltet. Auch wenn die Auswertung der Vorzugsstimmen vom 9. Oktober noch nicht vorliegt: dieses System ist eine Augenauswischerei, das dem Wähler keine wirkliche Mitsprache erlaubt hat, in keiner Partei.

Dieser Reformbedarf müßte auch von Bundespräsident Thomas Klestil unmittelbar eingemahnt werden. Sonst liegt es an ihm, die Gespräche zur Regierungsbildung zu beschleunigen, nicht zu verzögern.

SPÖ und ÖVP müssen zumutbare Bedingungen finden, die nicht auf Biegen und Brechen hinauslaufen, die den Verhandlungsspielraum nicht restlos ausreizen. Ohne neue „Geschäftsgrundlagen“ und Inhalte wird es nicht gehen, schon gar nicht ohne neue Köpfe in der Regierung.

Das Bündnis, muß auf die vier Jahre der neuen Legislaturperiode angelegt sein. Ein Scharlatan, wer weismachen will, daß die großen Reformbrocken — vom Gesundheitswesen bis zum Sozialbereich, von der Budgetsanierung bis zum Wohnungsproblem, von der Kammerfrage bis zur Demokratiereform - schon in zwei Jahren abgehakt sein könnten.

Wenn SPÖ und ÖVP ihre Lektion begriffen haben, werden sie in Demut in die Verhandlungen gehen, nicht demütigend: es gibt noch eine kurze Galgenfrist zur Bewährung. Eine allerletzte. Die drei Oppositions-

Earteien und die Wähler sind unarmherzig.

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