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Die Beziehungen zu den Nachbarn

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Nachdem im vergangenen Jahrzehnt der Westen die Chance hatte, Oesterreichs Substanz sich durch die wirtschaftlichen Beziehungen einzuordnen, ist nunmehr durch den Staatsvertrag diese Chance auf den Osten übergegangen. Von diesem Wechsel der Vorhand aus gesehen könnte man sagen, Amerika habe Oesterreich um anderer Ziele willen, vor allem um der deutschen Wiederaufrüstung willen, an Rußland überantwortet und preisgegeben. Historisch freilich hat in erster Linie die österreichische Staatsführung selbst diesen Wechsel der Vorhand aus freien Stücken erwählt. Wenn Oesterreich den Staatsvertrag nicht aus einem geistigen Grund gewollt hätte, aus dem Grunde der nationalen Freiheit, die alle bloßen Brotfragen weit hinter sich läßt, so könnte man in der Tat die Frage aufwerfen (wie einige amerikanische Publizisten auch österreichischer Herkunft es getan haben), ob es wirtschaftlich nicht weiser gewesen wäre, überhaupt keinen Staatsvertrag abzuschließen als gerade den abgeschlossenen, der eine so schwere, überdies auch noch keineswegs vollkommen übersehbare wirtschaftliche Belastung einschließt, aus der Oesterreich sich nur allmählich wird befreien können. Denn jede wirtschaftliche Selbstbefreiung setzt nicht nur voraus, daß das österreichische Volk einen außerordentlichen Fleiß und eine einzigartige Sparsamkeit entfalte, sondern auch noch dazu, daß seine politische Führung eine überdurchschnittliche Weisheit nicht bloß vorübergehend bekunde, vielmehr sich auf lange Sicht die höchsten Ziele steckt.

Die relative, temporäre Zugehörigkeit zur russischen Großraumwirtschaft, die sich aus dem

Staatsvertrag für Oesterreich ergeben kann - zu mildern nur durch einen auf lange Sicht abstellenden nationalen Willen, auch wirtschaftlich unabhängig zu werden -, ist freilich vom ersten Augenblick an dadurch in eine positive Bahn gelenkt, daß es sich darin durchaus auch um gesteigerte Sonderbeziehungen Oesterreichs zu seinen unmittelbaren Nachbarn, den Nachfolgestaaten, handeln wird. Hier liegt in der TatOesterreichsHauptauf gabein allernächster Zukunft. Geistig, politisch und wirtschaftlich befindet sich Oesterreich wieder in einer historischen Lage, vergleichbar mit den spätmittelalterlichen Jahrhunderten, in denen die Alpenländer mit Wien einerseits im Westen, damals vorzüglich in Vorderösterreich und der Schweiz ihren rechtsseitigen Partner, anderseits im Osten, damals in den jagelloni-schen Ländern Böhmen-Ungarn-Polen ihren linksseitigen Partner hatten. Auch wenn zugegeben werden muß, daß die einstmalige, natürliche großösterreichische Autarkie (die im Barocco Philipp Wilhelm Hörnigks „Oesterreich über alles, wenn es nur will“ gepriesen hat), nachdem sie noch 1918 weitgehend bestand, seither in steigendem Maße durch die Industrialisierung der früheren donauländischen Agrarstaaten überholt worden ist, so besteht nichtsdestoweniger nach wie vor eine weitgehende Komplementarität der Donaunationen auch in ihren intensiver gewordenen Wirtschaftspersönlichkeiten. Innerhalb der österreichischen Wirtschaft kann immer noch die Landschaft, die Wissenschaft, die Kunst, das Buch, die Geschmacksindustrie, die Qualitätstechnik eine große Anziehungskraft gerade auf die Nachfolgestaaten ausüben, für die Wien immer noch, wenn nicht heute erst recht, Wien ist, da es doch selbst für die Russen, die früher nicht viel davon wußten, in zehnjähriger Besetzung Wien geworden ist.

Auch liegt es in den Händen einer konstruktiven Wirtschaftspolitik, die ihre natürlichen Partner finden und an sich ziehen will, in denselben jene Produktionen zu stimulieren, die für einen qualitativen Austausch am wertvollsten sind. Das muß durchaus nicht dazu führen, daß man im Partner die einseitigen Stapelproduktionen befürwortet, die man wegen der Gefahr der Dauerabhängigkeit für sich selbst nicht konzediert. Gerade der krisenfeste Partner mit vielseitiger Qualitätsproduktion wird auch für die eigene Krisenfestigkeit von größerem Vorteil sein. Man wird in Wien immer auch die qualitativen Besonderheiten der donauländischen Nationen selbst verwerten und erst recht dem Westen anbieten können. Auch wenn der „eiserne Vorhang“ fällt, wird es dabei bleiben, daß Wien der günstigste geistige Vorort des Westens ist, wo die Ostvölker Handel treiben können, wie es umgekehrt bei einigem Geschick auch der Vorort des Ostens werden kann, der östlichste Punkt, bis zu welchem die Westvölker vordringen. Eine weise österreichische Staatsführung kann gerade auf diesem Wege der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachfolgestaaten, die im Zeichen der russischen Großraumwirtschaft mitlaufen, neue Grundlagen schaffen, die weit in die Zukunft hineinwirken.

Auch wenn darin an sich keine Spitze gegen irgend jemanden liegen muß, daß Oesterreich sich mit seinen Nachbarn politisch und wirtschaftlich verständigt, so darf doch alle Welt wissen, daß in einer solchen Reintegration des historisch-organischen Gebildes, das die Koexistenz der Alpen, Karpaten und Sudeten an der Donau vorzeichnet, auch noch im Zeitalter der Atomwaffen und der Atomindustrie das natürlichste, selbstverständlichste und wirkungsvollste Gegengewicht gegen jede Wiedergeburt eines deutschen Nationalismus gegeben wäre.

In der wirtschaftlichen Beziehung Oesterreichs zu Rußland und den Nachfolgestaaten, namentlich, wenn darin ein österreichischer politischer Plan wirksam ist, gewinnt der Sektor der verstaatlichten österreichischen Industrien einen besonderen staatspolitischen Sinn. Diese Bemerkung will in keiner Weise ein diffiziles Problem der österreichischen Innenpolitik von der Ferne her anschneiden oder gar darüber aburteilen. Worum es sich hier handelt, ist nur die Binsenwahrheit, daß wirtschaftliche Verträge mit Nationen, die ein Staatshandelsmonopol besitzen, auf die Dauer nicht von der Privatwirtschaft dominiert oder auch nur konzipiert werden können. In den Handelsverträgen zwischen estlichen Staatswirtschaften und westlichen Privatwirtschaften bedürfen die letzteren einer gewissen staatspolitischen öffentlich-rechtlichen Umformung und Konzentration, um überhaupt konkurrenzfähig zu bleiben. Vor allem aber besteht für den intendierten Aufbau einer Donauraumwirtschaft ein natürlicher Kausalnexus zwischen dem planwirtschaftlichen Sektor der österreichischen Wirtschaft und dem konstruktiven Einsatz, den Oesterreich in historischer Verantwortung für ein aktives Programm der Reintegration machen will. Gewiß können verstaatlichte Unternehmen, die nichts anderes sind als von Staatsbeauftragen kaufmännisch geleitete Privatunternehmen, von geringerer planwirtschaftlicher Bedeutung sein als privatwirtschaftliche Unternehmen unter bewußter staatlicher Zusammenfassung für die Gesamtvertretung nach außen. Wenn aber erst einmal aus der vorzüglichen Richtung der Handelsbeziehungen die Notwendigkeit einer stärkeren Staatsplanung sich ergibt, dann kann dafür eine bereits vorhandene verstaatlichte Industrie die brauchbarste erste Unterlage bilden. Ohne einen planwirtschaftlichen Sektor jedenfalls, der die privatwirtschaftlichen Interessen zusammenorganisiert, gibt es für Oesterreich keine aktive Donaupolitik. Die Wahl ist unvermeidlich. Entweder ist Oesterreich ein kapitalistisches Musterland an der Ostgrenze des Westens, dessen Wirtschaft an der Hochkonjunktur der westöstlichen Handelsbeziehungen (auf ihrem geraden Weg in die amerikanisch-russische Atomkraftzivilisation hinein) einen durch die Vorzugsrente der geographischen Lage und der historischen Substanz des Landes (die Intelligenz und den Fleiß seiner Bevölkerung) bedingten legitimen Anteil hat, sonst aber keinen weiteren Bemühungen nach irgendeiner regionalen Reintegration nachhängt — oder aber Oesterreich, weder kapitalistisch noch kommunistisch, bildet eine weithin unabhängige Wirtschaftseinheit, auch wenn sie klein ist, in der dann freilich die Privatwirtschaften planwirtschaftlich zusammengefaßt und vertreten werden müssen. Nur in dem letzteren Konzept kann einerseits bei aller Offenheit nach beiden Hemisphären und bei aller Unvermeidlichkeit relativer Einordnung in die west-östliche Atomkraftweltwirtschaft eine bestimmte nationale Eigenart auch in der Wirtschaft (die Qualitätsindustrie und das freie Bauerntum) dauernd bewahrt bleiben, und können diese Werte anderseits in die Waagschale einer donauländischen regionalen Blockbildung geworfen werden. Wenn aus geistigen und politischen Gründen für Oesterreich in der Tat nach wie vor die donauländische Aufgabe besteht, dann ist auch um ihretwillen die planwirtschaftliche Aufgabe als Kompromiß der beiden staatspolitischen Weltanschauungen nicht abzuweisen.

Es müssen sich daher schon heute die Meister und Lehrer in Oesterreich, seine geistigen und politischen Führer, mit dieser Zukunftsfrage befassen. Darin liegt das eine Notwendige für ein neutrales Oesterreich. Es ist kein bloß diplomatisches oder wirtschaftliches Problem, sondern eine geistesgeschichtliche Aufgabe, zu deren Vollstreckung unser Zeitalter aufgerufen ist. Es handelt sich dabei um historische und soziale Probleme, die weit über Oesterreich hinaus die ganze Welt bewegen, auf unserem Boden aber in beispielhafter Form gelöst werden können. Wenn Amerika als kapitalistisch, Rußland aber als kommunistisch erscheint, so handelt es sich für Oesterreich — und für Europa in weiterer Folge — keineswegs um deren „Synthese“, Verquickung und Zusammenleimung, so sehr gerade die amerikanisch-russische Atomkraftzivilisation eine solche Interpretation der österreichischen Neutralität nahelegen mag. Es ist ein gänzlich anderer Boden, auf dem wir stehen, der allein die „neue Schöpfung“ tragen kann, die keines der beiden Phantome widerspiegelt, die heute die Welt schrecken. In der Mitte wird man immer gut tun, die beiden Extreme als gar nicht allzu weit voneinander entfernt anzusehen. Die amerikanische Wirtschaft und Politik mag kapitalistisch sein, die russische Politik und Wirtschaft kommunistisch (obwohl diese Terminologie starker Einschränkungen unterliegt, sobald wir strukturell analysieren, was sich hinter den Klischees verbirgt) —, in ihren internationalen Tendenzen sind sie beide ebenso imperialistisch, wie in ihrem inneren Aufbau beide industrialistisch (zwangsläufig und unvermeidlich als Ausdruck ihrer gigantischen Größenverhältnisse). Vor diesen Eigenschaften aber müssen sich die Kleinen, die neutral bleiben wollen, noch mehr hüten als vor den Gespenstern „Kapitalismus“ und „Kommunismus“.

Es gehört zu den wesentlichsten Elementen wirtschaftlicher Freiheit gerade in unserem

Zeitalter der automatischen Industrialisierung in Weltdimensionen, die alsbald auch noch vom Atomkraftindustrialfsmus mit voller Wucht aufgegriffen werden wird, daß es noch irgendwo geistige, ja auch wirtschaftliche Bereiche gibt, die davon unbetroffen bleiben. Das mag ein wirtschaftliches Wunder sein, aber gerade darauf ist abzustellen. Darin liegt die vorzüglichste Aufgabe auch der österreichischen Wirtschaft, an der im Interesse des nationalen Ganzen beide parteipolitischen Gruppen zusammenarbeiten müssen: die einen, die gefühls- und interessenmäßig für das größere Tempo weiterer Industrialisierungen stehen, die Arbeiter, deren politische Macht aber doch primär mit der österreichischen Qualitätsindustrie steht und fällt, zusammen mit den anderen, den Bauern, deren urgegebenes inneres und äußeres Interesse gegen den absoluten Primat der Industrialisierung gerichtet ist.

Wenn die Zeichen von Genf nicht trügen, dann steht die Welt am Vorabend einer ökumenischen, amerikanisch-russischen Ätomkrnfr-zivilisation, der sich kein Volk wird vollständig entziehen können. Doch scheint es immerhin von providentieller Bedeutung, daß Oesterreich noch gerade knapp vorher den Status der Neutralität errungen hat, der es zwar nicht ausnehmen kann von den Konsequenzen des Zeitalters, ihm aber doch vielleicht nahelegt und ermöglicht, dem bedingungslosen Enthusiasmus der übrigen Welt einige Zurückhaltung entgegenzubringen. Nachdem es sich nicht zuletzt um das Schicksal der österreichischen Qualitätsindustrie und des freien Bauerntums handelt, die sich im selben Boot befinden und die ein Koalitionsregime nur gemeinsam retten kann, ist es doch vielleicht nicht gänzlich unrealistisch, wenn man den östlichen Alpenländern an dieser Zeitenwende vielleicht die größte Chance zuspricht, von der Atomindustrialisierung des Zeitalters doch nicht völlig hinweggespült zu werden.

(Weitere zwei Aufsätze folgen.)

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