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Die Bombe Vanoni

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Rom, im Jänner.

Die „Bombe Vanoni“ ist am 8. Jänner geplatzt, als der Minister für den Staatshaushalt vor einigen hundert Journalisten und Wirtschaftsexperten seinen Zehnjahresplan für die Entwicklung der Beschäftigung und des Nationaleinkommens erläuterte. Eine Bombe ohne akustische Begleiterscheinungen — denn die Zuhörer folgten lautlos, fast atemlos, den Worten des Ministers, dessen ruhige, friedliche Redeweise in so scharfem Gegensatz mit der Bedeutung und dem Ernst seiner Erklärungen stand. Aber die ekrasante Wirkung seiner Bombe wird sich schon in den nächsten Wochen zeigen, wenn der Plan im Mittelpunkt öffentlicher wirtschaftlicher und politischer Diskussionen und Polemiken steht.

Vanoni hat ohne Umschweife zu verstehen gegeben, daß Italien mit normalen Mitteln und den bisher eingeschlagenen Wegen nicht länger imstande ist, mit der wirtschaftlichen Entwicklung anderer Länder Schritt zu halten, daß es Gefahr läuft, erdrückt zu werden, wie die zunehmende Verschuldung gegenüber den anderen EZU-Ländern beweist. Die schwere hypothekarische Last von zwei Millionen Arbeitslosen (von den Unterbeschäftigten ganz zu schweigen) ist von keiner Regierung der Nachkriegszeit abgedeckt worden, obwohl sie es sicherlich nicht an Aufmerksamkeit und Opfern haben fehlen lassen. Der Minister drückte sich in wirtschaftlichen Ausdrücken aus, und das Wort Kommunismus kam nicht ein einziges Mal über seine Lippen. Aber allen Zuhörern war klar, daß die zwei Millionen Beschäftigungslosen auch politischen Sprengstoff darstellen, daß Italien heute vor einer Alternative steht: seinem gegenwärtigen Wirtschaftssystem einen kräftigen Impuls zu geben, wozu der „Vanoni-PIan“ ein geeignetes Instrument sein könnte, oder in den Totalitarismus abzugleiten.

Der Zehnjahresplan Vanonis ist eine Folge jener Wünsche und Empfehlungen, die beim letzten Parteikongreß der christlichen Demokraten in Neapel seitens sozialbewußter Politiker erhoben wurden. Der Auftrag zum Studium des Planes ging an Ezio Vanoni, dessen Name bereits mit der Steuerreform verbunden ist und der, ein nicht zu häufiger Fall, den Ministerposten nicht der parteipolitischen Karriere, sondern seiner fachlichen Kompetenz Verdankt. Vanoni zog ein Expertenkollegium italienischer und ausländischer Wirtschaftsstatistiker bei, zum größten Teil Universitätsprofessoren von internationalem Rang. Das Ergebnis ihrer Studien nennt sich nicht Plan, sondern viel bescheidener: „Schema der Entwicklung der Beschäftigung und des Einkommens in Italien im Dezennium 1955 bis 1964“. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Wirtschaftsplan im Sinne der totalitären Staaten, wo der Moloch Staat alle Hebel der wirtschaftlichen und politischen Macht bedienen kann, sondern eher um eine Reihe von Erwägungen und Studien über die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des wirtschaftlichen Lebens in Italien.

Die Analyse der Sachverständigen hat nun ergeben, daß unter dem Impuls des Planes eine Erhöhung des Nationaleinkommens um 5 Prozent pro Jahr möglich sein kann, was zur Befriedigung des Kapitalbedürfnisses ausreichend erscheint, aber nur wenn ein beträchtlicher Teil des Einkommens, jedenfalls in weit höherem Maße als es derzeit der Fall ist. wieder investiert wird. Mehr als ein Drittel des Einkommenszuwachses müßte Neuinvestierungen zugeführt werden, doppelt soviel als dies bisher geschah, während auf der anderen Seite der Gesamtverbrauch des italienischen Volkes nur um 50 Prozent erhöht werden dürfte.

Die „Bombe Vanoni“ liegt in diesen lapidaren Erkenntnissen. Sie bedeuten den Aufruf der Nation zu einer gemeinsamen Anstrengung, wie sie bisher niemals von den Italienern verlangt worden war. Sie bedeuten den Lohnstopp auf zehn Jahre, mit dem freilich auch ein Preisstopp Hand in Hand gehen soll, Steuererhöhungen, um inflationistischen Erscheinungen vorzubeugen, die das Programm kompromittieren würden, die Abschöpfung von Gewinnen in der Industrie, den Ausgleich der verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklung in Nord- und Süditalien, die Notwendigkeit einer Erhöhung der Ausfuhr, die Heranbildung geschulter Arbeitskräfte. Nachdem sich gezeigt hat, daß das italienische Wirtschaftssystem unfähig ist, aus eigenem und automatisch der Expansion anderer Länder nachzufolgen, hat sich der Eingriff des Staates notwendig gezeigt. Und der Staat, dem die Italiener „getreu einer hundertjährigen Tradition ihren Widerstand entgegensetzen“ (wie sich der Minister ausdrückte), ruft nun seine Bürger zur Austerity auf.

Von Austerity in einem Lande zu reden, wo ein guter Teil der Bevölkerung seit undenklichen Zeiten gezwungen ist, sie auszuüben, mag im ersten Augenblick widersinnig erscheinen, besonders wenn zugleich von einer fühlbaren Verbesserung des Lebensstandards gesprochen wird. Aber der Schlüssel zum Vanoni-PIan liegt gerade hier: eine Masse von Menschen, die heute am Rande des Elends leben, soll innerhalb eines beschränkten Zeitraumes zu wirklich lebenswürdigem Dasein geführt werden. Am Ende des Zehnjahresplanes werden vier Millionen neue Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, gerade oder fast soviel wie im Jahre 1964 das Angebot an Arbeitskräften sein wird. Für die bisher Beschäftigungslosen bedeutet dies eine erhebliche Erhöhung ihrer Konsummöglichkeiten, während die gegenwärtig Beschäftigten ihr Einkommen und daher ihren Verbrauch jährlich nur um 2,5 Prozent gesteigert sehen können. •

Die Investierungen erfolgen, dem Programm entsprechend, vor allem in vier Sektoren: in der Landwirtschaft, in den Unternehmen von öffentlichem Nutzen, in öffentlichen Arbeiten und in beschränktem Maße auch im Wohnungsbau, obwohl es sich hier nicht um produktive Investierungen, sondern um eine soziale Notwendigkeit handelt. Der Vanoni-PIan rechnet mit der Möglichkeit, den landwirtschaftlichen Ertrag bis 1964 um 23 Prozent steigern zu können, mit einer Erhöhung des Verkaufswertes der Produktion von 2960 auf 3930 Milliarden. Bonfizierungen. Verbesserungen der landwirtschaftlichen Nutzung,Bewässerungen, Erhöhung des Viehbestandes erfordern eine Investierung von 3467 Milliarden Lire, davon etwas weniger als 60 Prozent zu Lasten der Privatinitiative. Auf dem Sektor der Unternehmen von öffentlichem Nutzen, wie Ausbau der Energiequellen, der Eisenbahnen, der Telephonnetze, sind Investierungen in der Höhe von 4960 Milliarden vorgesehen, aber am Ende des Dezenniums wird Italien über die doppelte Menge elektrischer Energie, nämlich über 66 Milliarden Kilowattstunden jährlich, verfügen können, über eine Produktion von 5 Milliarden Kubikmeter Erdgas, über ein vollelektrifiziertes Eisenbahnnetz und ein vollautomatisiertes nationales Telephonnetz. Für die öffentlichen Arbeiten, wie Flußregulierungen, Verbesserung des Straßennetzes, Bauten von Schulen, Krankenhäusern, Kanälen, Häfen, Friedhöfen usw. sind 2810 Milliarden Lire vorgesehen. Die Gesamtinvestierungen belaufen sich also auf 11.237 Milliarden, nicht viel weniger als das gesamte italienische Nationaleinkommen im Jahre 1954 betrug.

Der Vanoni-PIan verspricht also dem italienischen Volk nach dem Ablauf von zehn Jahren einen modernen, zivilisierten Staat, in dem jeder seinen Arbeitsplatz finden wird. Auf der anderen Seite fordert er von den Arbeitern Schweiß und Entbehrungen, den Verzicht auf weitere Lohnforderungen, von Seiten der privaten Unternehmer den Verzicht auf Konjunkturgewinne. Darin liegt seine wirklich revolutionäre Bedeutung. Die Frage ist nun, ob die politischen Interessenvertretungen, die Gewerkschaften, die Industriellenverbände bereit sind, dem Staate zu folgen und ihre Mitwirkung zu leihen. Dem Staate, wohlgemerkt, und* nicht der Regierung. Denn der Vanoni-PIan ist keine Emanation der Regierung Scelba und nicht der Christlichdemokratischen Partei; jede nachfolgende Regierung kann ihn sich ohne ideologische Hemmungen zu eigen machen, wofern sie privatwirtschaftlich orientiert ist. Hier steigen aber berechtigte Zweifel darüber auf, ob ihn die kommunistisch geführten Gewerkschaften (CGIL) akzeptieren werden. Man kann vielmehr das Gegenteil annehmen, denn er würde den Verzicht auf den Lohnkampf bedeuten, der bisher als politisches Druckmittel gegen den demokratischen Staat verwendet wurde. Anders dürfte die Reaktion bei den freien Gewerkschaften, bei der CISL katholischer Inspiration und bei der sozialdemokratischen UIL, ausfallen, wo schon nach den ersten Andeutungen über den Plan die Bereitwilligkeit zu ernster Diskussion geäußert wurde. Zur Ueberraschung mancher politischer Beobachter konnte man auch feststellen, daß sich die 1 i n k s s o z i a 1 i-stische Partei Nennis weit weniger ablehnend zeigte als die kommunistische. Es ist vielleicht verfrüht, daraus Schlußfolgerungen ziehen zu wollen, aber es ist anderseits auch ein Zeichen mehr, daß die Partei Nennis gegenüber der kommunistischen sichtlich an Autonomie gewinnt. Für den Kommunismus liegt darin eine schwere, vielleicht tödliche Gefahr. Eine Spaltung in der CGIL, ein Auseinanderbrechen der Allianz mit den Sozialisten und die nachfolgende Isolierung würde das Ende der Machtstellung der KPI bringen.

Der Vanoni-Plan wird also die politischen Gewässer in Italien in argen Aufruhr bringen. Der Minister muß für sein Programm sowohl auf der politischen wie auf der wirtschaftlichen Front kämpfen, schon um die für die Finanzierung nötigen Kapitalien aufzutreiben. Welcher Weg dabei gewählt wird, sollen erst die kommenden Besprechungen mit der Regierung und mit den Vertretern der Privatindustrie ergeben. Sicher ist nur, daß die Hauptlast von der Privatinitiative getragen werden soll, etwa nach dem Vorbilde der im Jahre 1954 in Italien erfolgten Investierungen, bei denen der Staat nur mit 7 Prozent beteiligt war. Ferner erwartet man sich eine tatkräftige Hilfe vom Ausland, das, nach Meinung der Regierung Italiens, dem wirtschaftlichen und politischen Bemühen nicht gleichgültig gegenüberstehen kann. Die bevorstehende Reise des Ministers Vanoni nach Washington hat den Zweck, die amerikanische Finanzwelt an seinem Plan zu interessieren. Darüber hinaus klopft Vanoni • an allen Türen, hinter denen er Freunde Italiens vermutet. Er hat dies in. Bonn getan, wird es bei Mendes-France versuchen, in London und in Ottawa.

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