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Die Bürde eines großen Erbes

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Es mag dahingestellt bleiben, ob die aus der nächsten Umgebung Sir W i n s t o n Churchills stammende Mutmaßung zutrifft, daß sein seit langem erwogener Rücktritt durch die Veröffentlichung der amerikanischen Aufzeichnungen über die Gespräche von Jalta beschleunigt worden ist. Jedenfalls ist die Uebertragung seiner Premierschaft in die Hände Sir Anthony Edens zu einem Zeitpunkt erfolgt, wie er im Hinblick auf das nahende Ende der gegenwärtigen Legislaturperiode vom konservativen Standpunkt aus nicht hätte glücklicher gewählt werden können. •

Sir Anthony übernimmt, parteipolitisch gesehen, ein konsolidiertes Erbe. Die eben durchgeführten Gemeinde- und Grafschaftsratswahlen haben gezeigt, und andere Anzeichen deuten in derselben Richtung, daß die Konservativen eine gute Chance haben, bei den bevorstehenden Parlamentswahlen ihre heutige Position nicht nur zu behaupten, sondern zu verstärken; eine weit bessere Chance ohne Zweifel, als ihnen zu irgendeinem Termin der letzten zwei oder drei Jahre hätte zugesprochen werden können. In diesem merklichen „Zug nach rechts“ ist freilich nicht nur ein Erfolg der anfangs äußerst unpopulären und erst allmählich als fruchttragend erkannten Finanz- und Wirtschaftspolitik der Regierung Churchill zu erblicken; er ist zu einem guten Teil eine Folge auch der gerade jetzt vor aller Augen demonstrierten inneren Zerfahrenheit der Labour Party, der es nicht gelungen ist, die in den Jahren der Opposition ständig wachsende Spannung zwischen ihrem radikalen Flügel und der nach Ansicht dieser Sturmgeister allzu behutsamen Führung zu überwinden und die es daher auch nicht vermochte, ein Programm zu entwickeln, aus dem die Absichten und Pläne der Partei für den Fall ihrer Wiederkehr zur Macht klar ersichtlich wären.

Paradoxerweise ist es gerade diese innere Schwäche der sozialistischen Opposition, die dem neuen Premier einer konservativen Regierung ernste Sorgen bereiten muß. Edens Erfahrungen an der Spitze des Foreign Office reichen, mit Unterbrechungen, über nahezu zwanzig Jahre zurück, bis in die Amtszeit des zweiten Kabinetts Baldwin. Er weiß zu genau, wie wertvoll es für ihn als Außenminister war, ebenso wie für Ernest Bevin und Herbert Morrison, die dieses Amt in der Regierung Attlee bekleideten, daß in allen entscheidenden Fragen der Außenpolitik eine weitgehende Uebereinstimmung zwischen den beiden großen Parteien geherrscht hat, ungeachtet ihrer scharfen Gegensätze auf anderen Gebieten, um nicht zu wünschen und zu hoffen, daß die Bemühungen radikaler Elemente, die bedächtigen Männer in der Fraktionsführung und Exekutive der Labour Party aus dem Sattel zu heben, vergeblich bleiben. Das müßte ihm fast noch wichtiger erscheinen, als ein eventueller Gewinn von zwanzig oder dreißig Parlamentssitzen für die Konservativen; denn wenn der Labour-Kurs den unberechenbar fluktuierenden Stimmungen der bunt zusammengewürfelten Gruppe der „Bevaniten“ unterwerfen würde, dann würde es, ganz abgesehen von den für das Land verhängnisvollen Folgen bei einer neuerlichen Machtübernahme durch die Sozialisten, auch einer parlamentarisch noch so solide fundierten konservativen Regierung schwerfallen, das Vertrauen der Freunde und Bundesgenossen Großbritanniens in die Kontinuität der britischen Außenpolitik aufrechtzuerhalten.

Ob sich auf dem im Herbst stattfindenden Jahreskongreß der Labour Party dieses Problem lösen oder noch bedrohlicher gestalten wird, bleibt abzuwarten. Indessen sind es wirtschaftsund währungspolitische Fragen, denen die neue Regierung unverzüglich ihr vollstes Augenmerk wird zuwenden müssen. Aus der desolaten Lage heraus, in der sich die britische Volkswirtschaft bei Amtsantritt der Regierung Churchill 1951 befand, nahm die Aufwärtsentwicklung bis Ende 1954 einen ungemein günstigen Verlauf.Seither aber ist ein Rückschlag eingetreten, der sich, von der breiteren Oeffentlichkeit zunächst unbemerkt, als erstes dem Schatzamt durch einen scharfen Rückgang der Gold- und Dollarreserven ankündigte; der Verlust betrug zwischen Jahresbeginn und dem 28. Februar 81 Millionen Dollar, wogegen für dieselbe Periode des Vorjahres ein Zuwachs von 65 Millionen zu verzeichnen war. Erst durch die energischen Maßnahmen des Schatzkanzlers — Hinaufsetzung des Bankzinsfußes auf den seit 1932 nicht dagewesenen Stand von 4,5 Prozent und Einschränkung der Kreditgewährung bei Ratenkäufen — wurde die Oeffentlichkeit darauf hingewiesen, daß die Folgen eines Krieges, der England um fast die Gesamtheit seiner überseeischen Kapitalinvestitionen gebracht hatte, eben doch noch nicht überwunden waren und daß es zur Zeit keinen anderen Ausweg gab, sollte die Kaufkraft des Pfundes nicht in ernstliche Gefahr geraten, als den etwas vorschnell gestiegenen Lebensstandard der Nation durch Abstriche am Konsum nicht lebenswichtiger Güter, und vor allem nicht lebenswichtiger Importe, den Verhältnissen anzupassen. Bei einem Teil der großen Arbeitnehmerorganisationen, deren Mitgliedschaft einschließlich der dazugehörigen Familien gut ein Drittel der britischen Gesamtbevölkerung umfaßt, hat dieser Hinweis keine merkliche Beachtung gefunden. Manche Gewerkschaften, und oft gerade jene hochbezahlter Berufsgruppen, scheinen sich die Devise zu eigen gemacht zu haben: „Jeder für sich, und den letzten mag der Teufel holen.“ Sie wechseln einander ab mit überspannten Lohnforderungen und unverantwortlichen Streiks — der jüngste Ausstand der Elektriker und Mechaniker der Londoner Zeitungsbetriebe ist dafür ein Schulbeispiel —, ganz als ob def schwere wirtschaftliche Schaden, den das Volksganze dadurch erleidet, sie gar nichts anginge und letzten Endes nicht von jenen selbst, deren Interessen sie vertreten sollten, durch Geldentwertung und erschwerte Lebenshaltung mitbezahlt werden müßte. Es ist nicht allein der kommunistische Einfluß in manchen Gewerkschaften, auf den diese gefährliche Entwicklung zurückzuführen ist, sondern vielfach auch das mangelnde volkswirtschaftliche Verständnis durchaus nichtkommunistischer Gewerkschaftsführer. Wenn es der Regierung Eden gelingt, in diesen Kreisen ein lebendigeres Bewußtsein der Verantwortlichkeit gegenüber den Erfordernissen des Gemeinwohls zur Entfaltung zu bringen, so wäre das ein besonders wertvoller Beweis ihrer Befähigung, mit den schwierigsten innen- und sozialpolitischen Aufgaben fertig zu werden.

Unter den heute vorliegenden außen- und weltpolitischen Problemen, an denen die neue Regierung ihr Geschick wird erproben müssen, ist keines, mit dem der Premier von seiner außenministeriellen Tätigkeit her und, mehr noch, durch seine enge Zusammenarbeit langer Jahre mit Churchill, dem großen Lehrmeister der Staatskunst, nicht durchaus vertraut geworden wäre. Er wird sich daher keiner Illusion hingeben über die Möglichkeit, neue, noch un-beschrittene Wege ausfindig zu machen, die zum wichtigsten, alle anderen überragenden Ziele globaler Bedeutung führen könnten — zu einer wahren und dauernden Entspannung zwischen West und Ost. Er wird auch kaum der Versuchung unterliegen, die unstreitigen Erfolge, die er in vielen zwischenstaatlichen Verhandlungen, so mit Persien, Aegypten und anderen arabischen Staaten, oder bei der mit seinem Namen so enge verknüpften und in ihrer Auswirkung so wenig glücklichen Genfer Konferenz erringen konnte, als Beweis dafür anzusehen, daß mit Ruhe, Geduld und persönlicher Konzi-lianz, verbunden mit Festigkeit und einer in alle Einzelheiten gehenden Beherrschung der Materie, auch dort eine Verständigung zu erreichen ist, wo auf der Gegenseite ein ehrlicher Verständigungswillen fehlt. Es darf vielmehr damit gerechnet werden, daß er seine starke diplomatische Begabung und die großen persönlichen Sympathien, die er in allen Ländern des Westens kaum weniger als im eigenen Lande genießt, für die Befestigung und den weiteren Ausbau der einzigen Grundlage einsetzen wird, auf der eine wirkliche Verständigungsbereitschaft auch im Osten zur Entwicklung gelangen kann: für eine immer engere Gestaltung der westlichen Allianz, und zwar keineswegs nur im militärischen Sinn, sondern, mehr noch vielleicht, im Sinne einer Belebung und Vertiefung des Bewußtseins einer westlichen Kulturgemeinschaft, die ausschließlich friedlichen Zwecken dienen will, aber zugleich unerschütterlich ist in ihrer Entschlossenheit, jeder Bedrohung und jedem Angriff von außen standzuhalten.

Anthony Eden ist kein zweiter Winston Churchill. So wenig er ihm äußerlich ähnelt, so verschieden ist er von ihm in Charakter, Temperament und in seiner ganzen Persönlichkeit. Man könnte ihn, in bezug auf seinen großen Vorgänger, nicht mit Unrecht als eine komplementäre Erscheinung betrachten. Aber vielleicht ist es gerade dieser Unterschied in Naturell und Begabung, der es ihm erleichtern wird, der gewaltigen Verantwortung, die ihm nun zugefallen ist, gerecht zu werden. Unterstützt von einem Team hervorragender Mitarbeiter aus Churchills Schule wird er alle Kräfte aufbieten, um das Vertrauen, das sein Volk, sein Lehrmeister und seine Königin in ihn setzen, nicht zu enttäuschen. Und er wird dabei die Gewißheit haben, daß die guten Wünsche der halben Welt ihn auf seinem schweren Weg begleiten.

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