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Die einzige Alternative

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Zwei Jahrzehnte ist die Koalition alt, und fast ebenso lang ist die Kette der Koalitionskrisen. Besonders seit der Erringung der vollen Souveränität, seit 1955, schien es oft, daß sich die Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ in der Regierung einem toten Punkt nähern würde, aber immer wieder konnte die Koalition gerettet werden. Vor jeder Nationalratswahl betonten beide Parteien, nachher werde man wieder gemeinsam regieren. Was aber neben den unbestreitbar großen Erfolgen der „schwarz-roten“ Koalition am meisten für sie sprach und noch spricht, ist der Mangel an Alternativen. In einem System, in dem sich die Regierung auf eine Mehrheit im Parlament stützen muß, muß sich eine Alternative im Parlament abzeichnen, muß man mit neuen Mehrheitsbildungen kalkulieren können.

Legt man derartigen Überlegungen die (gegenwärtigen Stärkeverthältnisse im Nationalrat zugrunde, so ist theoretisch ein Zusammengehen einer Großpartei mit der FPÖ möglich, während die andere Großpartei in die Opposition geht. Diese Idee wurde schon sehr früh von verschiedenen Kreisen in der ÖVP aufgegrif-■ fen, konnte jedoch, da sich die Mehrheit in der Partei für eine Koalition mit den Freiheitlichen nicht erwärmen konnte, nie einer Realisierung nähergebracht werden. Später, dafür aber intensiver, kam der SPÖ der Gedanke einer „rot-blauen“ Koalition. Spätestens Mitte 1964 verlor dieser Plan aber alle reellen Chancen auf eine Verwirklichung. In der Volkspartei und bei den Sozialisten ■weiß die Mehrheit der verantwortlichen Politiker um die Gefährlichkeit all dieser Kombinationen von „kleinen“ Koalitionen. Die Gräben des Jahres 1934 sind nur durch den relativen Wohlstand überdeckt, gegenseitige Verdächtigungen und Mißtrauen sind im Übermaß vorhan-ien, und so hat man berechtigte Angst, daß sich die Entwicklung einer bewußten Steuerung entziehen könnte. Auch gibt es in diesem Land noch Politiker, die meinen, einer Partei, bei welcher der Großteil der Spitzenfunktionäre von ehemaligen Nationalsozialisten (zum Teil hohen und höchsten NS-Funktionären) gestellt wird, die nicht müde werden, ununterbrochen völlig unnötige Bekenntnisse zum „Deutschtum“ abzulegen, einer solchen Partei dürfe keine Schlüsselposition eingeräumt werden. Das aber wäre der Fall, würde im Status quo die große Koalition auseinanderbrechen.

Je schwieriger die Situation in der Koalition wird, und je größer die Zahl der Probleme, welche die Koalition noch nicht lösen konnte, desto intensiver muß aber eine echte Alternative gesucht werden zu einer Koalition, die sehr viel geleistet hat und noch sehr viel leisten könnte. Diese echte Alternative bietet sich uns an in der Form einer Umstrukturierung des Parteisystems. Der herrschende Trend zum Zweiparteiensystem macht eine solche Umstrukturierung leicht. Diese wird nicht erreicht durch einen starren und komplizierten Apparat von Normen, sondern durch das Wirksamwerden von Mechanismen, die automatisch das Parteiensystem entscheidend formen„ durch das relative Mehrheitswahlsystem. Das Mehrheitswahlsystem britischen Typs bietet eine größtmögliche Garantie für die Ausbildung eines parlamentarischen Zweiparteiensystems, wobei immer eine Partei über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Irgend eine, deren politische Entfaltung sonst nicht beeinträchtigt ist, Außenseitergruppe könnte daher die Funktion eines Schiedsrichters zwischen den demokratischen Großparteien im Parlament nicht erlangen.

Führt aber ein solches parlamentarisches Parteiensystem, das immer der stärkeren Partei eine absolute Mehrheit sichert, nicht zu der Radikalisierung, die es zu verhindern gilt? Werden nicht gerade dadurch die Wunden der Vergangenheit zum Aufbrechen gebracht, die Gräben des Bürgerkrieges wieder sichtbar? Man kann diese Fragen, die der eigentliche Haupteinwand gegen die skizzierte Umstrukturierung sind, mit einem Nein beantworten, nein deswegen, weil ein auf der Mehrheitswahl basierendes Zweiparteiensystem die Tendenz mit sich bringt, die Parteien zum Maßhalten zu zwingen. In beiden Parteien erhalten die Flügel, die der Mitte zuneigen, also aneinander grenzen, gegenüber den „Außenflügeln“ eine beherrschende Stellung.

Das ist eine Folge der Form der Konkurrenz, die bei einem Zweiparteiensystem zwischen den Parteien eine ganz andere ist als bei einem parlamentarischen Vielpar-teiensystem. In diesem stehen die Großparteien nicht nur in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern auch zu den (meist extremistischen) kleineren Parteien. Im Zweiparteiensystem hingegen ist eine Konkurrenz nur zwischen den Großparteien gegeben.

Die beiden Möglichkeiten der Konkurrenz in einem vereinfachenden Modell:

Vorteil, nur nach einer Seite kämpfen zu müssen, während die Großparteien nach zwei Seiten hin in Konkurrenz stehen, so sind die Großparteien ihrer „Außenflügel“ im Zweiparteiensystem sicher, da diese nicht abwandern können, ohne ihre Stimme wegzuwerfen. Die Konkurrenz zueinander aber führt zum Kampf um die Mitte, der nur durch eine Politik, die der Mitte, also der Mäßigung angenähert ist, erfolgreich sein kann.

Man sage nicht, das sei graue Theorie. Die Wirklichkeit sieht nicht anders aus; vielmehr sind die Denkmodelle der Konkurrenz von der Wirklichkeit induziert. Das britische Zweiparteiensystem kann als Beweis dafür gelten. Sowohl der als erzkonservativ ' verschrien gewesene Douglas-Home als auch der angeblich linkssozialistische Wilson leiteten als Regierungschefs mit größter Selbstverständlichkeit eine Politik der Mäßigung. Nicht, weil die Reaktionäre und Empire-Romantiker auf der einen, die Linkssozialisten auf der anderen Seite zahlenmäßig schwach sind, sondern weil jeder Parteiführer, der die nächste Wahl gewinnen will, weiß, daß entscheidend die Mitte ist, die unter Umständen die andere Partei wählt, nicht aber die extremen Flügel, die keine realistische Ausweichmöglichkeit haben. In den USA gewann Johnson deshalb die Wahlen von

1964 so leicht wie noch nie ein Kandidat vor ihm, weil er sich gegen Goldwater, der sich in einer selbstmörderischen Strategie nicht an die Mitte, sondern an den rechten Flügel wandte, nur als Mann der Mäßigung vorzustellen brauchte. Und steckt in der Interpretation der österreichischen Bundespräsidentenwahlen (der einzigen Wahl in Österreich nach Majorzsystem) nicht sehr viel Wahrheit, der Kandidat der ÖVP habe

1965 letztlich deshalb verloren, weil sich seine Wahlkampftaktik zu sehr nach „reohtsaußen“ richtete, während sich der sozialistische Kandidat, der Stimmen der Kommunisten sicher, an die Mitte wenden konnte?

Immer wieder, auch von Politikern beider Großparteien, hört man die Klage, in Österreich fehle die politische Mitte. Das Fehlen einer breiten Mitte, die keineswegs eine fluktuierende Wählerschicht sein muß, ist tatsächlich ein Strukturfehler der österreichischen Demokratie. Strategie und Taktik der Parteien haben aber nicht allzuviel für den Aufbau einer Mitte auf breiterer Basis getan. Die propagandistische Stoßrichtung beider Parteien war, die kleinen Parteien aufzusaugen, zu „inhalieren“ (Julius Raab). Um dies zu erreichen, mußte man die Bösartigkeit des großen Konkurrenten deutlich herausstreichen. Verteufelungen, Heimwehrfaschismus- und „Rote-Kati.e“-Verdächtigungen sind nur der Ausdruck der großangelegten Kampagne beider großen Parteien, Wähler aus dritten und vierten Lagern zu gewinnen. Der Versuch jedoch, potentielle Wähler aus den Reihen der jeweils anderen Großpartei zu gewinnen, wurde im größeren Umfang nicht gemacht. Dann nämlich wären Verteufelungs-feldzüge unmöglich gewesen. Die ÖVP wird einen sozialistischen Wähler nicht damit gewinnen können, daß sie ihm einzureden versucht, er habe jahrelang den Bolschewismus unterstützt, und ein ÖVP-Wähler wird mit der Behauptung, er habe die Geschäfte des Neofaschismus besorgt, ebenfalls nicht erfolgreich zu einem sozialistischen Wähler gemacht werden.

Hören aber dritte und vierte Parteien auf, Konkurrenten zu sein — und das wird nur durch eine Änderung des Wahlsystems erreicht werden können — und werden Politik und Wahlkampftaktik vom Kampf um die Mitte bestimmt, so wird eben diese noch kaum vorhandene Mitte aufgewertet. Die zentripetale Form der Konkurrenz, die dann an die Stelle der zentrifugalen tritt, bewirkt eine Stärkung der Mitte, unabhängig davon, ob diese Mitte fluktuiert, also in der Stimmabgabe wechselt, oder aber sich parteipolitisch gebunden gefühlt und Mitte in dem Sinn ist, daß sie von einem weiten Bereich des Konsensus umfaßt wird.

Ernst Karl Winter hatte schon in der Ersten Republik die große Koalition gefordert. Seine Idee war, einen Konsensus, eine weitgehende Ubereinstimmung über die Grundlagen des Staates, die nicht vorhanden war, mit einer großen Koalition zu erzwingen. Die Zweite Republik hat auch in diesem Punkt ihrem Propheten Recht gegeben. Die Koalition zwischen den beiden politischen Hauptströmungen ermöglichte die Entwicklung von Staatsbewußtsein und Patriotismus. Das ist das eigentliche große Verdienst der Koalition. Nicht mehr übersehen werden können aber auch die Anzeichen eines weitgehenden Immobilismus dieser Koalition. Die wechselseitige Kontrolle in der Koalition ist fast zu einer gegenseitigen Aufhebung geworden. Jede Demokratie benötigt aber eine Regierung, die voll handlungsfähig ist, sonst sucht sich die gesellschaftliche Dynamik zum Schaden der Demokratie andere politische Kanäle, durch die sie abströmen kann.

Jeder, dem das Schicksal unserer Republik am Herzen liegt, wird wünschen, daß die Koalition wieder eine arbeitsfähige und halbwegs harmonische Gemeinschaft wird. Jedes aufrichtige Bekenntnis eines Politikers zur Koalition ist daher zu begrüßen. Aber der Ausblick nach einer Alternative, die dann, sollte die Koalition einmal wirklich nicht mehr flottzumachen sein, Österreich eine Möglichkeit bietet, neue Wege zu gehen, ohne daß die Demokratie gefährdet wird, ist, will man nicht kurzsichtig sein, unbedingt notwendig. Eine Lösung, die zu erblicken ist, die nicht die Zukunft im Nebel gefahrvoller Ungewißheit erscheinen läßt, ist die Herausbildung eines parlamentarischen Zweiparteiensystems. Der Parteiendualismus, das „eherne Gesetz der einfachen Mehrheitswahl“, der eine Gesundung der Konkurrenz, eine Aufwertung der politischen Mitte und eine Stärkung des Konsensus nach sich ziehen würde, ist die einzige wirkliche Alternative zur Koalition.

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