Die fortwährende Probe

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Das vielfache Gedenkjahr ist in seiner Hochphase angelangt. An den essenziellen Zukunftsfragen dieses Landes scheint indes kaum jemand interessiert zu sein.

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Das vielfache Gedenkjahr ist in seiner Hochphase angelangt. An den essenziellen Zukunftsfragen dieses Landes scheint indes kaum jemand interessiert zu sein.

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Auf den Tag genau vor 60 Jahren, in FURCHE Nr. 18 vom 30. April 1955, blickte Friedrich Funder (1959) in einem Leitartikel unter dem Titel "Die dritte Probe" hoffnungsfroh dem Staatsvertrag entgegen: "Endlich scheint nun aber doch der Tag nahe zu sein, da für Oesterreich und sein Volk die Befreiungsstunde schlägt."(siehe auch "Anno dazumal", S. 24). Nach der ersten Probe der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 und der "Bewährung" in den folgenden Jahren der Besatzung werde Österreich, so der Gründungsherausgeber dieser Zeitung, "auch diese dritte Probe bestehen, wenn man ihm die Freiheit läßt, auf seinem Posten, verantwortungsbewußt an dem Frieden Europas mitzuwirken".

Österreichs Neubeginn und seine Rolle in Europa -das war das Lebensthema des alten Funder, welches er in zahlreichen Kommentaren umkreiste. Heute, 60 Jahre danach, 70 Jahre nach Kriegsende und Geburt der Zweiten Republik, 20 Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union, ist dieses Thema nicht minder aktuell, die von Funder apostrophierte "dritte Probe" dauert an.

Fehlende Vorstellungen und Leitbilder

Man möchte sagen, diese Herausforderung stellt sich, seit etlichen Jahren schon, in neuer Schärfe. Denn schmerzlich vermisst man eine öffentliche Debatte über Selbst-und Fremdbild dieses Landes, einen Wettstreit der Ideen, wohin sich Österreich entwickeln könnte, welches sein Platz in diesem schwierigen Gebilde "Europäische Union" und darüberhinaus sein könnte. Solche Vorstellungen und Leitbilder zu entwickeln, wäre eigentlich vornehmste Aufgabe der Politik. Sie schüfe sich so erst ihre eigene Voraussetzung, die Grundlage, auf der konkrete Entscheidungen zu treffen, Maßnahmen zu setzen wären. Aber da ist nicht viel, weder in den Regierungs-noch den Oppositionsparteien. Der letzte Bundeskanzler, der Führungsqualitäten und politischen Gestaltungswillen in diesem Sinne hatte, war Wolfgang Schüssel, vor ihm jedenfalls Bruno Kreisky und auch Josef Klaus, die Nachkriegskanzler Figl und Raab sowieso, schon aus der Not der Zeit heraus. Vranitzky hatte immerhin das Projekt EU-Beitritt, welches er auf Schienen brachte, Gusenbauer hätte wohl Ideen gehabt, wenn ihm deren Umsetzung nicht doch zu anstrengend gewesen und als mit dem Leben eines Bonvivants unvereinbar erschienen wäre.

Stattdessen taumelt ein Land unter Führung von Gemeinde Wien, ORF und ÖBB in einer bislang beispiellosen (Selbst-)Inszenierung einem europaweiten Liederwettbewerb entgegen. Der staatliche Rundfunk informiert uns täglich, wie viele Tage es noch bis zum großen Ereignis sind, Lokomotiven und Straßenbahnen werden "gebrandet"(fungieren als Werbeträger für den Eurovision Song Contest/ESC), die Kulturschickeria applaudiert, auch solche, die es nicht nötig hätten, lassen sich vor den Karren der gigantischen PR-Maschinerie spannen, in deren Scheinwerferlicht sich jede Menge B-Promis tummeln.

Relaunch der II. Republik

Man wünschte sich, ein Bruchteil der Energie flösse in eine Art Relaunch der Zweiten Republik, in die Neubestimmung, -positionierung und -orientierung dieses Landes. "Building Bridges" - nichts wäre dringlicher, nichts eine lohnendere Aufgabe für Österreich, als Brücken zu bauen, freilich nicht in dem halbseidenen, glamourös-dekadenten Sinn, in welchem es als Motto des Song Contests firmiert. Sondern im Sinne der virulenten Zukunftsfragen des Landes - der Sicherung von Freiheit, Wohlstand und Frieden, welche ohne Bereitschaft zu Anstrengung und Verzicht nicht zu haben sein werden. Wie kann Österreich wieder aus dem in die Sonne blinzelnden Mittelmaß herausfinden, seine Standortqualität und seine Wettbewerbsfähigkeit, nicht nur im ökonomischen, auch im geistig-kulturellen Sinn, verbessern, als qualifizierte Stimme im Chor der EU-Länder wahrgenommen werden? Nicht nur, dass es auf diese Fragen keine Antworten gibt - man hat den Eindruck, die politischen Eliten stellen sie sich nicht einmal.

rudolf.mitloehner@furche.at

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