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Die Freiheit steht noch aus

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Die Oktoberrevolution und der Aufbau einer Industriegesellschaft in der Sowjetunion auf staatskapitalistischer Basis hat nicht nur das Gesicht dieses Landes, sondern das der gesamten Welt radikal verändert. Der Historiker wird das Ereignis mit der Französischen Revolution vergleichen, der Soziologe wird sich für die Typologie der verschiedenen Formen einer Industrialisierung in England, Frankreich, Deutschland, Japan, Rußland interessieren. Er wird die kulturellen, sozialen, politischen Voraussetzungen, die unterschiedlichen Träger und Methoden des Modernisierungsprozesses miteinander vergleichen, aber er wird vermutlich auf ein abschließendes Werturteil verzichten. Für den Politikwissenschaftler läßt sich ein solches Werturteil kaum umgehen. Zwar wird auch er historische Studien benutzen, um Wesen und Gestalt der Revolution und des anschließenden Transformationsprozesses zu erfassen, zwar wird auch er Typologie und vergleichende Analysen heranziehen, aber am Ende muß er Antwort auf die Frage geben, hat diese Revolution die Anstrengungen und Leiden gerechtfertigt, die sie von den Völkern Rußlands verlangt hat?

Man kann sich die Antwort auf diese Frage leicht machen, wenn man die hochfliegenden Ziele und Hoffnungen der revolutionären Generation von 1917 mit dem Erreichten — unter Stalin, aber auch heute — vergleicht. Aber so einleuchtend und eindrucksvoll ein solches Verfahren auch scheinen mag, ich halte es für unfair und ungerecht. Freilich trugen die meisten Ideologen der KPdSU durch die ständige Selbstanpreisung der (tatsächlich beachtlichen) Errungenschaften der Sowjetunion als „Verwirklichung des Aufbaus des Sozialismus“ und „Erfüllung der Marxschen Prognosen“ nicht unerheblich zur Verbreitung dieser bequemen Methode der Kritik bei. Nimmt man die Hoffnungen und

Erwartungen von Mara: und Engels, von Bebel und Roso Luxemburg — ja selbst von Lenin — zum Maßstab, dann ist auch die heutige Sowjetgesellschaft noch weit genug davon entfernt, diese Hoffnungen erfüllt, diese Erwartungen bestätigt zu haben.

Was ist wirklich geleistet worden? Ein rückständiges, kapitalarmes, von ausländischen Investoren abhängiges Riesenreich ist modernisiert, industrialisiert und zivilisiert worden. Die Sowjetunion steht heute in der technischen und militärischen Weltrangliste an zweiter Stelle, 1905 und 1918 mußte das alte Rußland empfindliche Niederlagen hinnehmen, die nicht zuletzt auf seine Rückständigkeit zurückzuführen waren. In der Sowjetunion ist — zumindest prinzipiell und weithin — jede Schranke gefallen, die den Aufstieg intelligenter Kinder in der Berufshierarchie verhindert. Es bestehen wirklich (von manchen agrarischen Gebieten abgesehen) gleiche Bildungschancen für alle. Es gibt kein vererbbares Eigentum an Investitionsgütern. Das Prin-

zip der „Meritokratie“ „ist (beinahe) realisiert. Sozialinvestdtionen liegen über der vergleichbaren Höhe in anderen Ländern. Das Recht auf Arbeit und Erholung wird (wiederum mit einigen Einschränkungen) gewährt. Das alles stellt eine beachtliche Leistung dar, wenn man bedenkt, daß die Sowjetunion erst Ende der zwanziger Jahre an die beschleunigte Industrialisierung denken konnte, daß sie von Anfang an zu erheblichen Rüstungsausgaben gezwungen war, daß sie durch den Uberfall Nazi-Deutschlands zum großen Teil verwüstet wurde, daß sie seit Beginn des kalten Krieges abermals zum Wettrüsten sich veranlaßt sah. Wenn dennoch niemand ernsthaft mit dem Erreichten zufrieden sein kann, so liegt das vor allem am Fehlen konkreter politischer und kultureller Freiheit oder genauer gesagt, an der unzulänglichen Quantität und Qualität dieser beiden Freiheiten. Natürlich gibt es Formen demokratischer „Mitbestimmung“ — vor allem auf lokaler Ebene —, aber noch immer werden alle wesentlichen politischen Fragen von sehr kleinen Führungsgremien (unter Ausschluß der Öffentlichkeit) diskutiert und entschieden und dann so dargestellt, als folgte die Antwort unmittelbar aus einer korrekten Anwendung der „wissenschaftlichen Theorie“ auf die Gegenwartslage. Die unter Stalin total heruntergekommene marxistisch-leninistische Theorie ist noch immer ein Instrument der Rechtfertigung aller Füh-rungsentsefaeidungen, die — soweit sie prinzipiellen Charakter tragen — einer kritischen Diskussion entzogen sind. Es fehlt an institutionellen Möglichkeiten artikulierter Kritik an Personen und Maßnahmen. Der Bereich des von jeder Kritik prinzipiell Ausgeschlossenen ist weit größer als es für die Aufrechterhaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung erforderlich wäre. Dieser Zustand kann genetisch aus der Geschichte der SDAPR und der KPdSU abgeleitet und verstanden werden, aber das heißt noch nicht, daß er als „unvermeidlich“ hingenommen werden müßte.

Die Oktoberrevolution hat bewiesen, daß es möglich ist, die Gesellschafts- und Eigentumsordnung bewußt zu gestalten. Sie hat gezeigt, daß eine rasche Industrialisierung auf der Basis einer nichtkapitalistischen Eigentumsordnung möglich ist. Der Nachweis der Vereinbarkeit von gesellschaftlichem Eigentum mit konkreter Freiheit der Menschen (als Bürger und als unpolitische Individuen) steht aber noch aus. Auch wenn es der politischen Elite der Sowjetunion unbequem sein mag, werden gerade diejenigen, die das sowjetische Experiment mit Sympathie betrachten, nicht müde werden, auf die baldige Erbringung dieses Beweises zu dringen. Erst wenn das geschehen ist, könnte auch In den entwickelten (demokratischen) Industriegesellschaften die sozialistische Revolution jenes Ansehen zurückgewinnen, das sie einmal besaß. Isaac Deutscher hatte Recht, als er (in „Die unvollendete Revolution“) erklärte, der unerwartete „Erfolg“ der sozialistischen Revolution in Rußland habe ganz erheblich zu ihrem Mißerfolg in den entwickelten Industriestaaten beigetragen, und auch darum sei die Oktoberrevolution eine „unvollendete Revolution“ geblieben.

Die Industriegesellschaften des Westens und die entkolonialisierte „dritte Welt“ sind ebenso von der Oktoberrevolution geprägt wie die Sowjetunion selbst. Die Herausfor-

derung durch das neu entstandene Sesellschafts- und Wirtschaftssystem hat die kapitalistische Wirtschaftsweise modifiziert und „verjüngt“, sie hat die politischen Kräfte dieser „westlichen“ Staaten zu größten Anstrengungen auf dem Gebiet der Konjunktur- und Sozialpolitik gezwungen und dem „laissez-faire“ ein Ende bereitet. Aber sie hat auch dazu oeigetragen, daß nur formelle Demokratie mit gutem Gewissen sich selbst als Nonplusultra von Freiheit ausgeben konnte, weil die Existenz ;iner legalen Opposition und das Angebot einer noch so fragwürdigen

Alternativpartei immerhin gegenüber der Herrschaft von nichtab-wählbaren Monopolisten der Macht als Vorzug und Fortschritt empfunden wurde.

Hat also die Oktoberrevolution Anstrengungen und Leiden gerechtfertigt, die für sie gebracht worden sind? Ich glaube ja, aber nur unter der Bedingung, daß wir sie als eine „unvollendete“ Revolution begreifen, die durch eine kulturelle und politische Emanzipation und die Uberwindung des bürokratischen Systems noch abgeschlossen werden müßte.

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