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Die gesellschaftliche Umschichtung in Ungarn

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Der erste und dr zweite Weltkrieg hat nur allzu deutliche 1 rennungstriche durch die geistige und soziale Struktur Ungarns gezogen. Sie scheiden die Aera der Doppel-jnonardiie von der Periode des „Königreiches ohne König“, und diese von der zweiten ungarischen Republik. Beide Kriege bewirkten eine soziale Umschichtung; deren Umfang und die Tragweite der gegenwärtig im Zuge befindlichen Umänderung ist nicht einmal abzuschätzen. Es ist heute noch nicht in jedem Fall zu entscheiden, ob es sich nur als Übergangserscheinung mit ephemerer Lebensdauer oder um eine Dauerwirkung auf lange Sicht handelt.

Ungarn ist ein typischer Agrarstaat; dem Boden und seinen Besitzern kommt eine Bedeutung zu, wie in wenig andern Ländern. Es gilt hier also noch viel mehr als anderswo der Grundsatz: Wem der Boden gehört, der beherrscht das Land. Die sich daraus ergebenden Forlgerungen erscheinen deutlich während jeder Phase der Entwicklung. Es ist unleugbar, daß sich der Boden in der Politik als konservativer Faktor auswirkt: die grundbesitzende Klasse vom Kleinbauern bis zum bisherigen Latifundienbesitzer ist konservativ, und zwar sowohl im guten als auch im schlechten Sinne; wobei es aber nicht angängig ist, allgemein „konservativ“ mit „reaktionär“ gleichzusetzen, wie dies nicht selten aus durchsichtigen Gründen geschieht. (Zum Beispiel liegt darin auch die Erkärung, warum aus den Wahlen des Vorjahres trotz mancher begünstigender äußerer Umstände auf der Gegenseite, die Partei der Kleinen Landwirte zahlenmäßig als stärkste hervorging. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß aber festgestellt werden, daß diese Gruppe ihrem Ursprünge und Programme nach eine Linkspartei ist, die nur infolge Ausscheidens der durch Zusammenarbeit mit der Hitler-Macht kompromittierten Rechtsparteien aus dem öffentlichen Bilde, auf der Parteienskala neben den Kommunisten und Sozialdemokraten die rechte Flanke abgibt.)

Der Industriearbeiterstand war in dem gesellschaftlichen Organismus bis zum Ende des ersten Weltkrieges fast nur sehr schwach vertreten. Denn in der Doppelmonarchie bildete das industrielle Österreich die volkswirtschaftliche Ergänzung des agrarischen Ungarn. Nach 1918 begann Ungarn sich eine eigene Industrie aufzubauen und auch der Bergbau gewann immer mehr an Bedeutung. Abgesehen von den Bergwerksgebieten von SalgtS-Tarjan, Tata, den Eisenwerken von Diösgyör und wenigen anderen, weist allein Budapest als einzige Großstadt eine größere Zahl von Vertretern des vierten Standes auf. Allerdings hatten sich schon in letzter Zeit viele Stimmen gegen die Konzentrierung fast der gesamten Industrie in der Hauptstadt ausgesprochen, doch ist eine Industrialisierung der Provinzstädte augenblicklich noch Zukunftsmusik. Das, was dem „vierten Stand“ Ungarns dennoch Gewicht verleiht, ist aber neben dieser Arbeiterschichte die große Masse des landwirtschaftlichen Proletariats. Dazu darf man den Großteil der Landarbeiter und die große Menge der Zwergbauern zählen, die letzteren Ausdruck eines Mißverhältnisses, das seit vielen Jahrzehnten schon Gegenstand der öffentlichen Kritik einsichtiger Männer gewesen ist, ohne aber zu ernsten Reformen zu führen. Gerade diese proletarischen Kreise sind es aber, bei denen die Geburtenzahl die größte ist, wodurch die sozial schwächste, mit den härtesten Lebensbedingungen kämpfende Schichte zahlenmäßig immer mehr anwächst, während bei den bäuerlichen Familien, besonders in Transdanubien, das Einkindersystem gepflegt wird, um eine Zersplitterung des väterlichen Besitzes zu verhüten. Die bestehenden sozialen Gegensätze werden dadurch nur um so stärker unterstrichen.

Neben den grundbesitzenden Klassen und dem Arbeiterstand tritt das Bürgertum sowohl der Zahl als auch seiner politischen Bedeutung nach zurück. Man vermißt im Staatsleben seine traditionelle 'Vermittlerrolle, es fehlt der Übergang und die Gegensätze werden dadurch schroffer. Vielleicht liegt in diesem Fehlen der Grund für die innere Unausgeglichenheit des Landes, die dann natur-. gemäß auch auf die politische Plattform übergreift.

Vor dem ersten Weltkrieg waren es zwei Gesellschaftsschichten, die dem öffentlichen Leben Ungarns den Stempel aufdrückten: der Hochadel — die „Magnaten“ — die besonders im Oberhaus und in der Armee tonangebend waren, und die „Gentry“, der landbesitzende niedere Adel, der im Parlament und in der Komitatsverwaltung das Wort führte; beide Gruppen teilten sich auch in den höchsten Regierungsstellen. Im Vordergrund des politischen Interesses standen zur Zeit der Monarchie staatsrechtliche Fragen, insbesondere die sonderrechtliche Stellung Ungarns im Rahmen des Habsburgerstaates. Gegenüber diesen Probemen, die, Ursache der schwersten Konflikte mit der Krone und Österreich, endlos und unfruchtbar diskutiert wurden, war die in Österreich längst zur Debatte stehende soziale Frage zweiter Ordnung. Die Industrialisierung steckte noch in den Kinderschuhen und das Arbeiterproblem schien weit davon entfernt, akut zu sein. Dies ist auch der Grund, weshalb 1918 die Oktoberrevolution, ausgelöst durch den verlorenen Krieg und den Zerfall der Monarchie, eigentlich auf Budapest beschränkt blieb und die kurzlebige Republik Graf Michael Karolyis dem gleichfalls ephemeren Rätestaat Bela Kuns Platz machte, der gerade Zeit genug hatte, schweren Schaden anzurichten.

Die Periode unter Reichsverweser Horthy sah das Land mit mannigfachen politischen und ökonomischen Schwierigkeiten ringend. Der verlorene Krieg, die Verengung seiner Grenzen und nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise trieben das Land in eine zunehmende Verarmung. Sie traf die einzelnen Schichten verschieden hart. Besonders schwer den Mittelstand einschließlich der „Gentry“. Diese Schwächung einer Schichte, die als Verbindungsglied und Ausgleich hätte dienen können, verschärfte erneut die sozialen Gegensätze. Die wenig zahlreichen Familien des Hochadels, die noch immer einen relativ hohen Prozentsatz des Bodens in ihrem Besitz hatten, konnten, gestützt auf ihr Vermögen, die Krise leichter überstehen, als etwa der Kleinadel, der vollkommen verschuldete, aber es fast zur Mode machte, seine Söhne, anstatt sie zu ernster Pflege der Landwirtschaft oder in freie wirtschaftliche Berufe zu führen, die Offizierslaufbahn ergreifen zu lassen oder in den Staatsdienst zu senden. Dadurch, daß die Gentry den Verwaltungsapparat und zum Großteil auch die Legislative beherrschte, sicherte sie sich den maßgeblichen Einfluß auf die Staatsführung, aber befangen in gefährlicher Einseitigkeit, die zu nichts Gutem führen konnte. Neben der Gentry zeichnete immer noch auch der Magnatenstand verantwortlich für die Gestaltung des politischen Lebens. Manche veraltete staatsrechtliche Institution blieb erhalten; dem oberflächlichen Beobachter hätte es sogar scheinen können, Ungarn sei eine Zufluchtsstätte für Überreste mittelalterlichen Feudalismus geworden. Was aber diesen beiden Ständen mit Recht zur Last gelegt werden kann, ist, daß sie das zentrale Problem Ungarns, die Frage der Bodenreform zwar diskutierten, sie aber trotz der eindringlichen Vorstellungen der Besten des Landes, so vor allem des Bischofs Dr. Prochazka, zögerten oder sich nicht imstande zeigten, eine wirkliche Landreform durchzuführen. Immerhin erschien das Land rückschrittlicher, als es tatsächlich war, wenn auch zum Beispiel die Sozialgesetzgebung mit der allgemeinen europäischen Entwicklung nicht völlig Schritt hielt.

Der Hocbadel war entschieden westlich orientiert, während die „Gentry“ in allem betont national war und ihr nur allzuoft der europäische Horizont fehlte. Das Land hat daran hart getragen. Die Katastrophe des zweiten Weltkrieges traf Ungarn in einem Zustand der Unausgeglichenheit und der latenten sozialen Spannungen an. Der schließliche Zusammenbruch bewirkte nicht nur den vollkommenen wirtschaftlichen Ruin nnd in seiner Folge die immense Inflation, er begrub auch die ganze bisherige Gesellschaftsordnung unter seinen Trümmern. Wenn auch dieser Umbruch auf äußeren Anstoß erfolgte, so wurde er doch mit Voranstellung der Interessen des Bauerntums und der Arbeiterschaft sehr gründlich durchgeführt: den früheren herrsdienden Klassen wurde durch eine radikale Bodenreform, die einer vollständigen Expropriierung teilweise recht nahe kommt, die wirtschaftliche Basis ihrer bisherigen Machtstellung entzogen. Als sichtbares Zeichen wurden die politischen Parteien, auf die sie sich stützten, aufgelöst. Diese Stände sind somit heute so gut wie ausgeschaltet und es wäre noch verfrüht sagen zu wollen, ob sie sich jemals von diesem schweren Sdilag erholen werden, zumal dabei die innen- und außenpolitische Lage des Landes den Ausschlag geben wird. Audi die Stellung des Bürgertums und der Intellektuellen sind noch ungeklärt. Es ist noch alles in diesem Staate im Flusse. Viel wird davon abhängen, welche Fähigkeiten dem politischen Nachwuchs innewohnen werden. Denn es handelt sich um nicht weniger, als daß die neuen Männer, vorausgesetzt daß es wirklich neue sein werden, vor der schweren Aufgabe stehen werden, die gesamte soziale Ordnung auf eine neue Grundlage zu stellen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und das Land aus einem Chaos herauszuführen.

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