Die Gesichter der Türkei

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Zur Diskussion über einen EU-Beitritt des Landes.

Von der gegenwärtigen EU/Türkei-Debatte ein Blick zurück ins 18. Jahrhundert: In Mozarts Oper "Die Entführung aus dem Serail" wird uns exemplarisch die Konfrontation der europäischen mit der islamischen Welt vorgeführt. Im Gefolge der Türkenkriege des 16. und 17. Jahrhunderts kam bekanntlich türkisches Kolorit in Mode - Musik und Inhalt der "Entführung" sind nur das bekannteste Beispiel dafür. Zwei Gesichter der "Türkei" lernen wir in diesem Singspiel kennen: Bassa Selim, den aufgeklärten Humanisten - und den Aufseher Osmin, den verstockten, rabiaten Fanatiker. Osmin, der seine europäischen Widersacher "erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen" sehen möchte, dem die "Engländer ... Toren" sind, weil sie ihren "Weibern den Willen" lassen, muss sich - widerwillig und ohne Einsicht - zum Schluss von Bassa Selim buchstäblich eines Besseren belehren lassen: Dem Sohn des Todfeindes wird vergeben, die Würde der Frauen respektiert, Freiheit und Selbstbestimmung obsiegen über Zwang und Gewalt.

All dies ist seiner Entstehungszeit verhaftet, die Personen sind überzeichnet: So europäisch-humanistisch gesonnen wie der Bassa uns am Ende entgegentritt, waren und sind die wenigsten Europäer; und Osmin erscheint uns heute, so wenig man den Hass auf alles "Westliche" in breiten Schichten islamischer Länder unterschätzen sollte, in seiner Mischung aus Machogehabe, Bösartigkeit und Hilflosigkeit, natürlich als zeitbedingte Karikatur "des Muselmanns".

Aber die zwei Gesichter der Türkei, die bestimmen auch die Auseinandersetzung über eine EU-Mitgliedschaft des Landes. Die einen warnen vor den "Osmins", während die anderen darauf setzen, dass das Programm des "Bassa Selim" mehrheitsfähig wird. Genauer gesagt: Sie setzen darauf, dass eine Integration der Türkei genau diesen Prozess befördert, also den "Bassa Selims" den Rücken stärkt, während ein Draußen-vor-der-Tür-Lassen die "Osmins" bestätigen und ihnen rasanten Zulauf verschaffen würde.

Unterstellen wir einmal, dass es so ist: Lassen wir also die diversen strategischen (Nato-Mitglied Türkei), außenpolitischen (Skepsis gegenüber Vertiefung der EU-Integration), innenpolitischen (türkische Minderheiten im eigenen Land) Motive der Befürworter eines Türkei-Beitritts außer acht; und vermuten wir nicht hinter jedem Skeptiker einen Kreuzzügler oder Xenophoben. Dann sind wir im Prinzip bei der alten Frage nach den Grenzen Europas angelangt. Die aber ist nicht plausibel zu beantworten, jedem einschlägigen Versuch haftet etwas Willkürliches an: Europa ist im Wortsinn undefinierbar, nicht abgrenzbar (lat. finis = die Grenze), jedenfalls nicht nach Osten (manche meinen, auch nicht nach Westen, insofern die USA ein Kind Europas sind). Dass indes die EU auch im "Endausbau" nicht den gesamten eurasischen Kontinent und womöglich noch dazu den Mittelmeerraum wird umfassen können, versteht sich auch von selbst.

Viel spräche daher dafür, die Türkei - und wohl auf lange Sicht auch Russland - als das zu nehmen, was sie ist: ein Scharnier zwischen zwei Welten - im aktuellen Fall der Türkei: als einen auszubauenden Brückenkopf zur islamischen Welt, als ein mögliches Modell für einen "europäischen" Islam, eine islamische Zivilgesellschaft; das alles sind auch europäische Schicksalsfragen. Doch dabei handelt es sich um Projekte mit einem großen Zeithorizont, die langen Atem brauchen - und die vielleicht auch nur einen Teil der Türkei umfassen werden können. Auf dem Weg dorthin sollte man die gewaltigen praktischen Probleme eines allfälligen Beitritts nicht übersehen.

Aber es hat den Anschein, dass die ganze Debatte nur noch eine virtuelle ist: Der Beginn der Beitrittsverhandlungen dürfte beschlossene Sache sein. Wie so oft zeigt sich: Wer A sagt, muss auch B sagen - aus der seinerzeitigen Zuerkennung des Kandidatenstatus an die Türkei folgte, dass man mittelfristig auch über einen Beitritt würde reden müssen; das A freilich wird oft leichtfertig ausgesprochen. Nun gilt es wohl, mit Geschick, Ehrlichkeit und dem Prinzip Hoffnung folgend, in Beitrittsverhandlungen das Beste daraus zu machen.

rudolf.mitloehner@furche.at

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