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Die hartenBänke der Opposition

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Sir Winston Churchill ist tot. Dieses Ereignis überschattet alle innenpolitischen Geschehnisse Großbritanniens. Die gewiß nicht harmlose Niederlage des britischen Außenministers Patrick Gordon Walker in einer Nachwahl, die seinen Rücktritt nach sich zog, erscheint nahezu nebensächlich. Winston Churchill hatte den Grund zur 13jährigen Tory-Herrschaft gelegt, die im Oktober mit einer knappen Wahlniederlage ihr Ende fand. Es wird sich in den nächsten Monaten noch zeigen, ob der gegenwärtige konservative Oppositionsführer Sir Alec Douglas-Home mit der Rekonstruktion der Partei einen ähnlichen Erfolg erzielen wird wie sein großer, nunmehr toter Vorgänger.

Eine erste Maßnahme, von vielen Konservativen als überfällig bezeichnet, setzte der Parteiführer am 21. Jänner, als er den 40 Jahre alten Mr. Edward du Cann zum neuen Chairman der konservativen Partei ernannt hat. Mr. du Cann gehört nicht dem oft erwähnten „magischen Kreis“ der Tories an. Seine Bestellung hat nicht geringe Überraschung ausgelöst und wird von den meisten innenpolitischen Kommentatoren als ein Zeichen für eine grundlegende Änderung der konservativen Politik angesehen. Gleichzeitig sollen die konservativen Ziele den Wählern wirkungsvoller erklärt werden. In seiner neuen Stellung, die man am ehesten mit jener eines Generalsekretärs einer österreichischen Partei vergleichen kann, wird er versuchen, in erster Linie den Parteiapparat auf einen solchen Stand zu bringen, daß dieser jederzeit für eine allgemeine Parlamentswahl gerüstet ist. Der neue Parteivorsitzende ist rasch die politische Stufenleiter hinaufgestiegen. 1956 zum erstenmal in das Unterhaus gewählt, wurde er nach verschiedenen minderen Regierungsämtern 1962 Staatssekretär für Wirtschaftsfragen im Finanzministerium und 1963 Staatssekretär im Handels- und Industrieministerium, wo er Edward Heath wertvolle Dienste in der Planung und parlamentarischen Durchsetzung des Gesetzes gegen die Preisbindung der zweiten Hand leistete. Mr. du Cann unterscheidet sich von seinem Vorgänger nicht nur durch sein geringeres Alter. Während Lord Bla-kenham als Sohn des 4. Earl of Listowel der Aristokratie des Landes entstammt, die berühmte Schule von Eton besuchte und in Oxford studierte und in jeder Hinsicht dem Establishment angehörte, ging der neue Parteivorsitzende in ein gewöhnliches Gymnasium, studierte zwar auch in Oxford, aber entsproß einer typischen Mittelklassefamilie und damit nicht dem „Establishment“. Die soziale Herkunft eines Politikers sollte von zweitrangiger Bedeutung sein. Für die Konservativen wurde sie allerdings zu einer echten Frage, da unter den Wählern vielfach der Eindruck entstand, daß die Tories nur den Großgrundbesitz und das Großkapital politisch vertreten. Diese Meinung erklärt sich vielleicht daraus, daß der weitaus überwiegende Teil der einflußreichen konservativen Politiker aus dieser Schichte kommt und vielleicht auch daraus, daß den Tories in letzter Zeit das politische Fingerspitzengefühl für die echten Bedürfnisse des Mittelstandes abhanden gekommen zu sein schien.

Der innere Kreis der Oppositionspartei konnte vor allem den an Bedeutung zunehmenden . jüngeren Wählern den konservativen Standpunkt nicht mehr glaubhaft machen. Wenn man nicht gerade einen Bankbeamten oder einen Wirtschaftsprüfer fragt, findet man unter ihnen kaum Verständnis für die heftigen Angriffe gegen die sozialistischen Vorschläge einer wirksamen Kapitalertragssteuer und Körperschaftssteuer. Vielleicht stellt Mr. du Cann den politischen Kurs richtig. Eine solche Annahme ließe sich immerhin aus einzelnen Bemerkungen auf der ersten Pressekonferenz im konservativen Hauptquartier rechtfertigen. Er betonte, er gehöre zum „salariat“, das heißt, zum neuen Mittelstand, der sich zwar aus Arbeitnehmern zusammensetzt, aber aus solchen mit rasch steigendem Einkommen. Du Cann nimmt damit eine Parole auf, die der ein wenig in den Hintergrund geratene Ian Macleod schon einige Zeit verbreitet. Die Vernachlässigung dieser neuen Mittelstandsschichte war nach Macleod eine der Hauptursachen für die Wahlniederlage im Oktober; das Land habe nämlich nur sehr bedingt Sympathien für sozialistische Experimente gezeigt; die Niederlage sei ausschließlich durch Hinwendung der entscheidenden Wählerschichten zur Liberalen Partei hervorgerufen worden.

Dieser Standpunkt wird durch die Ergebnisse der beiden Nachwahlen von letzter Woche in gewisser Hinsicht bestätigt. In Leyton wurde Patrick Gordon Walker mit einer Mehrheit von 205 Stimmen völlig unerwartet geschlagen; der konservative Kandidat konnte gegenüber Oktober 1964 einen Stimmengewinn von rund neun Prozent erzielen. In Nuneaton, wo der sozialistische Kandidat, Minister Frank Cousins, ein Vertrauensvotum für Harold Wilson und die sozialistische Politik verlangt hatte, gaben um fünf Prozent mehr Wähler konservative Stimmzettel ab; der Vorsprung der Arbeiterpartei vom Oktober 1964 hat sich auf diese Weise um die Hälfte verringert. Sicherlich dürfen diese Ergebnisse nicht überschätzt werden, da beide Wahlkreise unter Sondereinflüssen standen. In Leyton dürften die lokalen Sozialisten über die Art verärgert gewesen sein, in der die Parteizentrale den langjährigen Unterhausabgeordneten Sorensen zum Lord und damit zum Oberhausmitglied kürte, um für den in der allgemeinen Parlamentswahl unterlegenen Mr. Walker einen „sicheren“ Sitz freizumachen. Der gesunde demokratische Instinkt des Engländers bewies sich wieder einmal und lehrte die Parteistrategen, daß Herr Jedermann mit sich nicht gern manipulieren läßt. Cousins wiederum gilt vielen, auch sozialistischen Wählern, als Vertreter eines doktrinären marxistischen Flügels mit ideologisch überholten Zielen, wie Verstaatlichung. Jedenfalls zog der Premierminister aus diesem Ergebnis die Konsequenzen, indem er anordnete, daß künftig Unterhausmandate nicht künstlich vakant gemacht werden sollen. Er kann sich auch kaum ein weiteres Risiko leisten, weil seine Mehrheit auf drei Abgeordnete zu> sammenschmolz.

Wenngleich die ersten Nachwahlei zu einer innenpolitischen Sensatioi geführt haben, dürfte keine entscheidende Änderung der Regierungspolitik zu erwarten sein. Auch ein frühei politischer Tod Harold Wilsons unc seines Kabinetts erscheint als durchaus unwahrscheinlich. Die Konservativen werden es daher nicht vermeiden können, Apparat und politisch Taktik auf die ungewohnte Opposition umzustellen. Dies wird erschwert durch die Tatsache, daß die Tories 13 Jahre lang ununterbrochen Regierungspartei waren. Ein weiterer Umstand, der eine rasche Anpassung verhindert, dürfte die gesellschaftliche Dynamik sein, die sicr. zur Zeit in Großbritannien beobachten läßt. (Anzeichen dieser Dynamik gibt es fast in allen Bereichen, in der Literatur — Osborne, Pinter, Gol-ding —, Theater und Film — Burton und O'Toole —, Wissenschaft und in einer ganz anderen Einstellung zum Leben der jungen Generation.) In einem solchen gesellschaftlichen Umbruch muß es einfach als Anachronismus empfunden werden, wenn nur zwei Prozent der Bevölkerung die Hälfte des Volksvermögens gehört. Das haben auch die Tories erkannt, allerdings zu spät. Andrew Shonfield, der Studiendirektor des Royal Institute of International Affairs, faßt dies im „Encounter“ in folgende Worte: „Die gerechte Klage gegen die letzte Regierung ist nicht etwa, daß ihre Wirtschaftspolitik überhaupt falsch war..., sondern daß sie die richtigen Ziele mit unzureichender Energie, Überzeugung und Benachteiligung (gewisser Schichten) anstrebte.“ Einflußreiche Tories stemmen sich auch noch jetzt gegen wirtschaftspolitische Instrumente, welche die Vermögensverteilung gerechter gestalteten.

Der wichtigste Grund für die Schwierigkeit der Konservativen, sich als eine wirkungvolle Opposition auszuweisen, dürfte aber weniger im geistig-politischen als im organisatorischen Bereich liegen. Alle positiven Schritte, wie die Einsetzung einer Kommission, welche mit Hilfe mathematischer Statistik den Ursachen der Wahlniederlage, wissenschaftlich auf die Spur kommen soll — alles, was bisher darüber gesagt wird, gründet sich auf Intuition und Spekulation —, wie die Wahl du Canns zum Parteivorsitzenden und die Gewissenserforschung auf Wahlkreisebene, können den nachteiligen Einfluß der noch immer schwelenden internen Führungskrise kaum wettmachen. Als mögliche Nachfolger Alec Homes gelten derzeit Edward Heath und Reginald Maudling und als Außenseiter Jan Macleod. Sir Alec Home hat zwar eine Reform des Verfahrens angeordnet, mit dem die Tories bisher ihren Parteiführer kürten. Diese Reform ist allderdings noch nicht verwirklicht, ihre Grundzüge unbekannt. Alle Anzeichen deuten derzeit freilich auf eine Wiederholung der erbitterten Kämpfe um die Parteiführung hin, wie sie sich 1956 zwischen Macmillan und Butler und 1963 zwischen R. A. Butler, Quintin Hogg, Reginald Maudling und Alec Douglas-Home, damals noch Earl of Home, abgespielt haben. Über die besten Ausgangsstellungen verfügen zwar Edward Heath, der einem Komitee vorsteht, welches die politischen Ziele der Tories neu formulieren soll, und Reginald Maudling, der für die in Großbritannien so wichtig gewordene Wirtschaftspolitik zuständig ist; als Geheimtip vieler Publizisten scheint jedoch der Sprecher für innenpolitische Fragen, Sir Ed-vmrd Boyle, auf.

Wenngleich es dem neuen Parteivorsitzenden, Mr. du Cann, gelingen mag, die Eruption der Nachfolgekämpfe zu verhindern, dürfte er es schwer haben, eine einheitliche Linie der Konservativen bei den jetzt zur Diskussion stehenden innen- und außenpolitischen Fragen herbeizuführen. Gegen das sozialistische Projekt, einen einzigen Mittelschultyp zu schaffen und die vorhandenen public schools zu schließen oder zu verstaatlichen, konnten die konservativen Abgeordneten im Parlament bisher keine gemeinsame Sprache finden. Ein Teil von ihnen wendet sich nur gegen den Einheitstyp einer höheren Schulbildung, während der andere Teil mit heftigen Worten gegen die Abschaffung der public schools argumentiert. Auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik, auf dem ein großer Teil der Tories romantischen Empirevorstellungen nachgeht, mehren sich doch die Stimmen, welche die fixe Idee Sir Alec Homes, nämlich die nationale atomare Bewaffnung Großbritanniens, als auf die Dauer zu kostspielig ablehnen.

Einen gemeinsamen Nenner konnte die Oppositionspartei am ehesten noch in der Wirtschaftspolitik finden. Aber auch auf diesem Sektor gibt es kritische Stimmen. So geißelt Ian Macleod besonders Maudling mit den sarkastischen Worten, weil sich dieser mit dem Hinweis auf eine gesunde Volkswirtschaft im Parlament mehrfach gegen die Kapitalertragssteuer gewandt hat. Macleod beweist seinen Instinkt für den im Gange befindlichen Umwandlungsprozeß, indem er auf den Umstand hinweist, daß im heutigen Großbritannien es nur eine zahlenmäßig unbedeutende Gruppe gibt, die von einer Kapitalertragssteuer getroffen werde, aber viele Angestellte mit wachsendem Einkommen. Diese Gruppe habe zwar nichts für sozialistische Experimente übrig, aber auch nichts für eine Konservierung einer feudalen Gesellschaftsordnung.

Wer immer als Führer der Tories Erfolg haben will, die Mehrheit der Wählerschaft zum konservativen Standpunkt zu bekehren, wird wie Sir Winston Curchill über jene starke Einbildungskraft verfügen müssen, damit er das Wesen der Gegenwart und der Zukunft erfaßt und in politische Tat umsetzen kann.

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