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Die Koalition „nach Lücke”

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Die Große Koalition wird nicht mehr sein, was sie war. Auf diese Formel hat ein guter Kenner der Bonner Verhältnisse die Situation nach dem Rücktritt von Bundes- innenminister Paul Lücke gebracht. Dieser Rücktritt erschien nach außen hin zwar für ein paar Tage als ein unübersehbares Hin und Her. Tatsächlich stand Lückes Entschluß, zurückzutreten, von Anfang an fest.

Für den bisherigen Bundesinnenminister geht es darum, daß ein Mehrheitswahlrecht für die Bundesrepublik unerläßlich ist. Er sieht seit geraumer Zeit mit Sorge die Entwicklung auf den linken und rechten Flügeln und fürchtet, es könnten in der Bundesrepublik ähnliche Zustände wie in der Weimarer Republik eintreten. Deshalb hat er schon 1962 gemeinsam mit dem jetzigen Parlamentarischen Staatssekretär im Bundeskanzleramt von Guttenberg in Gesprächen mit Herbert Wehner die Große Koalition angestrebt.

Mehrheitswahlrecht gefordert

Die Große Koalition war jedoch in Lückes Augen nie ein Selbstzweck, sondern stets nur ein Mittel zum Zweck. Sie sollte das Mehrheitswahlrecht einführen, weil sie über die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit verfügte. Dann sollte die eine oder die andere der zwei großen Parteien in die Opposition gehen. Allenfalls gab man der FDP noch eine Chance, unter diesem Mehrheitswahlrecht im Bundestag vertreten zu sein.

Das Mehrheitswahlrecht hat auch bei der Bildung der Regierung Kiesinger eine wichtige Rolle gespielt. Sie ist in der Regierungserklärung ausdrücklich erwähnt. Allerdings hat in der anschließenden Aussprache im Bundestag der SPD-Sprecher Helmut Schmidt sogleich darauf aufmerksam gemacht, seine Partei werde entsprechende Vorschläge prüfen, sei aber nicht festgelegt. Dieser Vorbehalt ist seinerzeit in der Euphorie der Gründungsstunde der Großen Koalition nicht genügend beachtet worden. Schmidt hatte der SPD bereits die Hintertür aufgestoßen.

Große oder Kleine Koalition

Schon seit einigen Monaten war zu erkennen, daß die Mehrheit im Bundestag für ein Mehrheitswahlrecht immer mehr dahinschmolz. Namentlich bei der SPD war die Neigung für dieses im Fußvolk sehr gering. Man rechnete sich aus,, daß der Gewinner einer Wahl nach dem Mehrheitswahlrecht die CDU/CSU sein würde. Die SPD ist aber nicht umsonst seit 1930 im Reich und im Bund nicht in der Regierung gesessen, bis sie Ende 1966 endlich das Ziel erreichte. Sie will sich nun von der Macht nicht mehr verdrängen oder hinauseskamotieren lassen. Vielmehr hat sie innerlich bereits zum Sturmlauf angesetzt, um mit Hilfe des Verhältniswahlrechtes 1969 oder spätestens 1973 die CDU/CSU zu überflügeln. Falls dies nicht gelingt, dürfte die Mehrheit der Partei entschlossen sein, auch mit den Freien Demokraten eine Regierung zu bilden. Fäden zwischen beiden Seiten werden ständig gesponnen.

Der erwartete Zusammenstoß

Unter diesen Umständen mußte sich auch Kiesinger fragen, ob er sich nicht die Bahn für eine Kleine Koalition wieder öffnen sollte. Dabei war ihm das Mehrheitswahlrecht im Wege, ebenso Lücke, der mit eiserner Grundsatztreue darauf bestand. Infolgedessen kann man davon ausgehen, daß der Kanzler und sein Innenminister in diesem Punkt 6chon seit geraumer Zeit verschiedene Ziele verfolgten. Der Zusammenstoß der Ansichten mußte unweigerlich eines Tages kommen. Er wurde dann in der Tat ausgelöst, aber durch den Sozialdemokratischen Parteitag, der entgegen der Koalitionsvereinbarung beschloß, das Mehrheitswahlrecht nicht mehr für 1973 schon vor 1969 im Grundgesetz zu verankern, sondern erst 1970 endgültig darüber zu beschließen.

Explosivstoffe…

Das war kein Affront gegen den Bundesminister, eher schon gegen die Große Koalition und insbesondere gegen die Union, nicht zuletzt aber auch gegen die eigene Parteispitze. In Nürnberg hat sich immerhin das groteske Schauspiel zugetragen, daß Willy Brandt mit überwältigender Mehrheit wieder zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, daß aber kurz zuvor nur mit vier Stimmen Mehrheit eine Entschließung abgewehrt werden konnte, die nachträglich die Billigung der Großen Koalition versagen sollte. Dies zeigt an, unter welchen schwierigen Verhältnissen Brandt künftig seine Partei führen muß. Sie trägt erhebliche Spannungen mit sich herum.

Paul Lücke hat den Nürnberger Parteitagbeschluß als eine persönliche Enttäuschung bezeichnet. Dies war ein Kriterium, mit dem er freilich in der Öffentlichkeit keine Seide spinnen konnte. Aber Lücke sah wahrscheinlich auch, daß die Koalitionsvereinbarung, einmal verletzt, auch nochmals und nochmals verletzt werden könnte. So sind sich SPD und Union bezüglich der Ostpolitik keineswegs vollinhaltlich einig. Die SPD möchte Pankow weit mehr entgegengehen als die Union. Das gleiche gilt für den Atomsperrvertrag. Hier liegen weitere Explosivstoffe. Wahrscheinlich hat sich Lücke gesagt, daß infolgedessen den Anfängen gewehrt werden müsse. Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, daß er angesichts der Stimmung für die Wahlrechtsreform schwerlich im Bundestag, ja nicht einmal in der eigenen Fraktion eine Mehrheit hinter sich bringen würde.

Kiesinger hat in diesen Stunden ein taktisch elegantes Spiel gespielt.

Ob es ihm in der Öffentlichkeit viel eingetragen hat, bleibt freilich offen. Er hat zunächst dem Bundesminister zugestanden, daß dieser seine Überlegungen, ob er zurücktneten sollte, in der Öffentlichkeit durchsickern ließe. Damit war eigentlich die Entwicklung für einen Rücktritt Lückes freigegeben. Nur wenig später hat dann Kiesinger offen ausgesprochen, daß er nicht beredt war, die Verletzung der Koalitionsabsprache durch den SPD-Parteitag zu einer Kabinettfrage zu machen.

Diese Haltung Kiesingers ist sofort in der Bundesfraktion der Union, aber auch draußen im Lande auf Widerstand gestoßen. Gleichwohl hat Kiesinger seinen Standpunkt durchgestanden. Schließlich hat er in einer dramatischen Auseinandersetzung mit Lücke vor der Unionsfraktion des Bundestages die Koalitionsvereinbarung praktisch fallen gelassen. Er erklärte, wer in der Wahlrechtsreform eine Schicksalsfrage des deutschen Volkes sehe, der habe seinen Beruf als Politiker verfehlt. Diese Tonart mußte Lücke tief verwunden, weil er ein wirklich echtes Anliegen hatte. Deshalb trat er kurzerhand zurück, mit einem Schreiben an Kiesinger, das an Kühle und Kürze nichts zu wünschen übrig ließ.

Die entscheidende Unterredung

Daraufhin hat Kiesinger den Innenminister nochmals zu sich gebeten. Lücke hätte besser getan, in dieser Unterredung nach wenigen Minuten zu erklären, seine Entscheidung sei gefallen. Statt dessen hat er sich von Kiesinger bewegen lassen, die Entscheidung aufzuschieben. Kie- sdnger hat bei dieser Gelegenheit von der Möglichkeit gesprochen, daß mit der SPD doch noch eine Einigung erzielt werden könnte. Was ihn zu dieser optimistischen Bemerkung bewogen hat, ist schwer zu durchschauen. Im Grunde wußte jedermann, daß die Entschließung des SPD-Parteitag es nicht revidierbar war.

Im Zusammenhang mit dem Gespräch Kiesinger-Lücke war sodann kurz die Rede davon, die SPD könnte noch vor 1969 einen neuen Parteitag veranstalten, um ihren Nürnberger Beschluß rückgängig zu machen — welch irreale Vorstellung — oder Lücke könne die Gewähr erhalten, daß nach 1969 sofort über die Wahlreform im Bundestag verhandelt werden würde. Aber wie das, wenn 1969 eine Kleine Koalition zwischen Union und FDP oder eine Mini- Koalition zwischen SPD und FDF gekommen wäre?

Lücke machte daher ausdrücklich den Vorbehalt, nur zu bleiben, wenn Fühlungnahmen mit der SPD in seinem Sinne günstig verlaufen würden. Daß dies nicht möglich war, zeigte sich bald. So kam es zum Rücktritt. Dieses Ausscheiden Lttk- kes, der eine Zeitlang sogar als Kanzlerkandidat der CDU galt, wird fraglos noch seine Rückwirkungen auch in der Union haben. Vielleicht wird dies nicht sofort sichtbar werden. Aber langfristig werden sich wohl Wirkungen zeigen. Das gleiche gilt für die Große Koalition. Immerhin ist mit Lücke ein Wegbereiter und Taufpate der Großen Koalition ausgeschieden, Im übrigen bisher erst der zweite Bun- desmindster, der geht, weil seine Konzeption nicht durchsetzbar ist.

In der Zukunft werden Kiesinger und seine Partner an der Spitze der SPD noch mehrmals vor ähnlich entscheidenden Fragen stehen, wie Lücke sie aufgeworfen hat Kiesinger wird sich dann immer wieder fragen, ob er um einer Grundsatzentscheidung willen, die von der SPD anders gewollt wird als von der Regierungserklärung oder von der Union, die Große Koalition aufrechterhalten will. Wenn er dies bejaht, wird er sich zunehmend den Vorwurf einhandeln, um der Koalition willen wichtige Grundsätze der Union preisgegeben oder in einem fatalen Kompromiß vergraben zu haben. Man wird 1hm Vorhalten, praktisch regiere die SPD, nicht die Union. Auf der anderen Seite ist unverkennbar eine starke Strömung auch in der Union vorhanden, die es als oberstes Ziel ansieht, die Große Koalition auf jeden Fall bis zum Ablauf der Legislaturperiode im Herbst 1969 zusammenzuhalten — und möglichst noch darüber hinaus.

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