6611600-1955_03_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Koexistenz in der Furcht

Werbung
Werbung
Werbung

Der allgemeine, einfach aus der Beobachtung der Tatsachen gewonnene Eindruck ist der, daß die hauptsächliche Grundlage, auf die sich der gegenwärtige Zustand verhältnismäßiger Ruhe stützt, die Furcht ist. Jede der Gruppen, in welche die Menschheitsfamilie geteilt ist, duldet das Bestehen der andern, weil sie nicht selbst zugrunde gehen will. Die verhängnisvolle Gefahr auf diese Weise vermeidend, leben die beiden Gruppen nicht zusammen, sondern bestehen zugleich. Es ist kein Kriegszustand, aber auch kein Friede: es ist der Zustand kalter Ruhe. In jeder der beiden Gruppen herrscht nervöse Furcht vor der militärischen und wirtschaftlichen Macht der anderen und in beiden ist die Besorgnis wegen der vernichtenden Wirkungen der neuesten Waffen lebendig. Mit geradezu angstvoller Aufmerksamkeit verfolgt jede Gruppe die Entwicklung der Rüstungstechnik und die wirtschaftliche Produktivität der anderen, während sie der eigenen Propaganda die Aufgabe zuweist, aus der Furcht des Partners Nutzen zu ziehen und ihre Wirkung noch zu erhöhen und zu verbreitern. Auf dem Feld der praktischen Politik, so scheint es, rechnet man nicht mehr mit anderen Grundsätzen, nämlich solchen der Vernunft oder Sittennorm. Nach so vielen Enttäuschungen scheinen sie von einem vollständigen Zusammenbruch in Skeptizismus hinweggefegt.

Die offensichtlichste Sinnlosigkeit, die sich aus einem so erbarmungswürdigen Zustand der Dinge ergibt, ist diese: die heutige politische Praxis fürchtet zwar den Krieg als schlimmste Katastrophe, gewährt ihm aber doch volles Vertrauen, als ob er der einzige Ausweg zum Lieberleben und die einzige Richtschnur der internationalen Beziehungen wäre. In gewissem Sinne vertraut man auf das, wovor man in höchstem Maß zurückschreckt.

Nun hat aber eine so geartete politische Praxis viele — auch unter den Regierenden selbst — zu einer Ueberprüfung des ganzen Problems von Frieden und Krieg geführt und dazu, daß sie sich aufrichtig fragen, ob die Vermeidung des Krieges und die Sicherung des Friedens nicht in höheren und menschlicheren Regionen zu suchen seien als in jener ausschließlich vom Schrecken beherrschten. So ist die Zahl derer gewachsen, die sich aufbäumen gegen den Gedanken, man müsse sich mit der bloßen Koexistenz begnügen und auf lebendigere Beziehungen zu der anderen Gruppe verzichten, und man sei gezwungen, alle Tage des eigenen Daseins in einer Atmosphäre entnervender Furcht zu verleben. So sind sie wieder dazu gekommen, die Frage „Friede oder Krieg?“ als Gegenstand einer höheren, einer christlichen Verantwortung vor Gott und dem Sittengesetz zu betrachten. Gewiß spricht auch in dieser veränderten Form der Fragestellung das Element „Furcht“ mit als Rückhalt gegen den Krieg und Antrieb zum Frieden; aber es handelt sich dabei um die heilsame Furcht Gottes, der der Flüter und Rächer der sittlichen Ordnung ist, und folglich, wie der Psalmist lehrt (Ps. 110, 10), um den Beginn der Weisheit.

Hat man die Frage auf diese höhere und der Vernunftwesen einzig würdige Ebene verlagert, so stellt sich der Widersinn jener Lehre wieder klar heraus, die in der politischen Schulung der letzten Jahrzehnte tonangebend war: der Krieg sei eine der vielen erlaubten Formen des politischen Handelns, die notwendige, fast natürliche Art, nicht beizulegende Zwistigkeiten zwischen zwei Ländern auszutragen. Der Krieg sei also etwas außerhalb jeder sittlichen Verantwortung Liegendes. Als ebenso widersinnig und unannehmbar hat sich der gleichfalls lange gültige Grundsatz erwiesen, wonach der Regierende, der einen Krieg erklärt, nur der Möglichkeit ausgesetzt sei, einen politischen Fehler zu begehen: wenn nämlich der Krieg verloren wird — daß er aber keinesfalls einer sittlichen Schuld oder eines Verbrechens angeklagt werden könne, wenn er. obwohl er es gekonnt hätte, den Frieden nicht gewahrt habe.

Gerade diese unsinnige und unsittliche Auffassung des Krieges ließ in den verhängnisvollen Wochen des Jahres 1939 Unsere Bemühungen scheitern, die darauf ausgingen, in beiden Parteien die Bereitschaft zum Verhandeln aufrechtzuerhalten. Der Krieg wurde damals wie ein Würfelspiel betrachtet, das mit größerer oder geringerer Vorsicht und Geschicklichkeit zu spielen ist, nicht als eine sittliche Tat, die an das Gewissen und die höhere Verantwortung pochte. Es bedurfte des riesigen Ausmaßes von Gräbern und Ruinen, damit sich das wahre Gesicht des Krieges enthüllte: Nicht ein mehr oder weniger glückliches Interessenspiel, sondern die noch mehr seelische als materielle Tragödie von Millionen von Menschen, nicht der Einsatz einiger materieller Werte, sondern der Verlust von allem — eine Sachlage von ungeheurer Schwere.

Wie ist es möglich — so fragten sich damals viele mit der ehrlichen Einfalt des gesunden Menschenverstandes —, daß, während ein jeder die sittliche Verantwortung für die eigenen ganz gewöhnlichen Handlungen lebendig in sich fühlt, die entsetzliche Tatsache des Krieges, die doch auch die Furcht freier Bestimmung in irgendwelchen Menschen ist, sich der Herrschaft des Gewissens entziehen können soll, und daß es keinen Richter gäbe, an den sich die unschuldigen Opfer wenden könnten? In jener auflebenden Wiederbesinnung des Volkes fand Unser Ruf: „Krieg dem Krieg“ weite Zustimmung, der Ruf, mit dem Wir im Jahr 1944 dem leeren Formalismus politischen Handelns und den von Gott und Seinen Geboten losgelösten Lehren vom Krieg den Kampf ansagten. Jene heilsame Wiederbesinnung hat sich nicht verflüchtigt, sie hat sich im Gegenteil vertieft und Boden gewonnen in den Jahren des kalten Krieges, vielleicht deshalb, weil die anhaltende Erfahrung die Sinnlosigkeit eines von der Furcht überwachten Lebens noch deutlicher gezeigt hat. So hat es also den Anschein, driß der kalte Friede selbst mit seinen Ungereimtheiten und Nöten die ersten Schritte zu einer wirklich sittlichen Ordnung und zur Anerkennung der hohen Lehre der Kirche vom gerechten und ungerechten Krieg, vom erlaubten und verbotenen Griff nach den Waffen darstelle.

Es wird gewiß dazu kommen, wenn man von der einen wie der anderen Seite mit aufrichtigem, gleichsam religiösem Sinn wieder lernt, den Krieg als Gegenstand der sittlichen Ordnung zu sehen, deren Verletzung wirklich eine Schuld schafft, die nicht ungestraft bleibt. Es wird dazu kommen, wenn in konkreter Wirklichkeit die Staatsmänner, noch bevor sie die Vorteile und die Gefahren ihrer Entscheidungen abwägen, sich als persönlich verantwortlich vor den ewigen sittlichen Gesetzen bekennen und die Sache des Krieges als eine Gewissensfrage vor Gott betrachten. In der gegenwärtigen Lage gibt s kein anderes Mittel, die Welt von dem beklemmenden Alp zu befreien, als die Hinwendung zur Gottesfurcht, die den nicht erniedrigt, der sie in sich aufnimmt, die ihn vielmehr vor der Schande des unmenschlichen Verbrechens bewahrt, das ein nicht aufgezwungener Krieg ist. Und wer könnte sich darüber wundern, daß sich Friede und Krieg als dermaßen eng mit der religiösen Wahrheit verbunden erweisen? Die ganze Wirklichkeit ist von Gott, und gerade im Loslösen der Wirklichkeit von ihrem Ausgangspunkt und Endziel liegt die Wurzel jeden Uebels.

Daraus wird auch offensichtlich, daß eine pazifistische Bemühung oder eine Friedenspropaganda, die von ausgesprochenen Gottesleugnern ausgeht, immer höchst zweifelhaft und nicht geeignet ist, das angstvolle Gefühl der Furcht zu mindern oder zu beheben, wenn sie nicht gar absichtlich als taktischer Einsatz verwendet wird, um Aufreizung und Verwirrung zu stiften.

Die gegenwärtige Koexistenz in Furcht hat demnach nur zwei Möglichkeiten vor sich: entweder erhebt sie sich zur Koexistenz in Gottesfurcht und dann zum Zusammenleben in wahrem Frieden, beseelt und überwacht von Gottes sittlicher Ordnung; oder aber sie zieht sich immer mehr zu einer eisigen Lähmung des internationalen Lebens zusammen, deren schwere Gefahren schon jetzt vorauszusehen sind. Die natürliche Lebensentfaltung der Völker auf die Dauer zu unterbinden, könnte diese nämlich zuletzt zu dem gleichen verzweifelten Ausweg führen, den man vermeiden will, zum Krieg. Ueberdies würde kein Volk auf unbeschränkte Zeit den Wettlauf des Rüstens ertragen, ohne von ihm verheerende Wirkungen auf seine normale wirtschaftliche Entwicklung zu verspüren. Nutzlos wären selbst Vereinbarungen über eine Begrenzung der Rüstungen. Wenn die sittliche Grundlage der Gottesfurcht fehlt, würden solche Vereinbarungen, wenn je zustande gekommen, zur Quelle neuen gegenseitigen Mißtrauens werden.

Es bleibt also als leuchtende Hoffnung der andere Weg, der, von der Furcht Gottes ausgehend, mit Seiner Hilfe zum wahren Frieden führt: der aber ist Aufrichtigkeit, Wärme, Leben, und dadurch würdig dessen, der uns geschenkt wurde, damit die Menschen in Ihm, und zwar in Fülle, das Leben hätten (vergleiche Joh. 10, 10).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung