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Die Krankheiten des Proporzsystems

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Die Gründe, die Queuilles Urteil sowie jenes einer immer mehr sich verstärkenden öffentlichen Meinung bestimmten, hat der unermüdliche wissenschaftliche Verfechter der Mehrheitswahl, der Professor der politischen Wissenschaften an der Notre-Dame-Universität in. den USA, F.A. Hermens, in seinem jüngst auch in deutscher Sprache erschienenen tiefschürfenden Werk „Demokratie oder Anarchie“ (Verlag Wolfgang Metzner, Frankfurt am Main) zusammenfassend gekennzeichnet. Hermen, der seine Untersuchungen auf alle Staaten mit Proporzsystemen erstreckt, sieht zumal in Frankreich als Wirkungen der Verhältniswahl gegeben: die doktrinäre Erstarrung der Parteien, die Ubersteigerung der Macht der Parteibürokratie, die Entthronung des Wählers, eine Parteienherrschaft, in der jede Partei die ihr zufallenden Ministerien als eine Art feudales Lehen verwaltet und in ihnen ihre eigene Politik treibt. (In Parenthese bemerkt: Die instruktive Untersuchung Hermens' verdient auch in Österreich, das mit dem Proporz seine guten, aber auch schlechten Erfahrungen hat, mit Aufmerksamkeit studiert zu werden.) Das Bestreben, den von dem gelehrten Fachkenner bezeichneten Übeln zu begegnen, drückt auch der verschwommene und durch einen sehr komplizierten Wahlmechanismus halb verdeckte Versuch aus, den das jüngst vom französischen Parlament verabschiedete Wahlgesetz darstellt:

In solchen Departements, wo weder die Liste einer einzelnen Partei noch die Liste koaherter Parteien mindestens fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht, tritt für die Verteilung der Mandate der Proporz in Kraft, während sonst sowohl für Einzellisten wie für e.ne Koalitionsliste das Erreichen von fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen den Wahlsieg auf Grund der bloßen Mehrheit im ersten Wahlgang sichert. Paris und die Departements Seine und Oise sind in kleine Wahlkreise zerlegt worden und haben eine Sonderstellung erhalten, in der die Verhältniswahl dominiert. Im allgemeinen Ist die wahlgesetzliche Konstruktion darauf gerichtet, Listenverbindungen zu begünstigen, aber derartige Wahlbündnisse nur unter solchen Parteien zuzulassen, die in mindestens 30 Departement Bewerber aufstellen, eine Maßregel gegen die Splitterparteien und zum Vorteil der großen. Immerhin erwartet man eine Stärkung der Fronten wider „die Feinde der Republik“. Sehr ins Gewicht fallen wird dabei, inwieweit die Wahlbündnisse zwischen Sozialisten ^und MRP gelingen. Den Gegnern einer solchen Wahlkoalition, die allerdings recht breite Wassergräben zwischen ihren Partnern zu überwinden hat — namentlich in der Schulfrage —, rief Ramadier zu, die Sozialisten stünden fest zusammen „gegen Pest und Cholera“ — womit Kommunismus und Gaullismus gemeint waren —, und es tue not, sich gegen die Feinde der Republik „auch mit dem Teufel zu verbünden“, eine Wendung, die das MRP nicht übelnehmen möge.

Ob die Neuwahlen die erstrebte Erlösung aus den Wechselfiebern der politischen Dauerkrise bringen werden, steht noch dahin. Geschähe es, so wäre diese Konsolidierung ein Beitrag für den Frieden Europas.

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