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Die Krise der französischen Mittelklasse

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Unter dem Titel „Le Rouge et le Noir“ veröffentlichte der Londoner „E c o n o m i s t“ einen Bericht seines Pariser Korrespondenten über die innenpolitische Situation Frankreichs, der einen guten Einblick in die Verhältnisse und Strömungen gewährt, die für das Frankreich von heute charakteristisch sind. Der britische Betrachter sieht ein Kernproblem der französischen Innenpolitik in der Frage, wie sich das französische Bürgertum, die „Mittelklasse“, angesichts der Ansprüche der sozialistischen und der kommunistischen Linken, den französi-Staat zu prägen, verhalten wird. Steht in Frankreich die Bildung einer Rech-ten von politischem Gewicht bevor?

„Solange General de Gaulle da war“, so lesen wir, „war Frankreichs Rechte unsichtbar, desorganisiert und ihrer selbst unsicher. General de Gaulies Schulung und die allgemeinen Linien seiner Politik waren für die Rechte günstig und sie konnte es nicht über sich bringen, ihn anzugreifen. Nur einige wenige auf der Rechten glaubten, daß er eine ,radikale Lösung' anstrebe. Sogar jene, die davon überzeugt waren, und sie waren wahrscheinlich die große Majorität, daß nur eine blutige Revolution der Linken de Gaulle zu einem Staatsstreich veranlassen könnte, glaubten, daß er auf lange Sicht ihr Spiel spiele. Ihre Opposition gegen seine Regierung im Parlament sowohl als in der Presse zeigte sich daher selten, erfolgte nur mit halbem Herzer. und war nicht überzeugend. In der Nationalversammlung war die Rechte ohne Bedeutung.

Der ganze Nachdruck lag bei den drei Hauptparteien. Die Kommunisten, die Sozialisten und die MRP waren die Linke, das Zentrum und die Rechte. Aber geschichtlich gesehen, sind alle drei Linksparteien, die sich zum halbsozialistischen Programm des Nationalrates der Widerstandsbewegung, zur Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und der öffentlichen Einrichtungen und zur Ver-

antwortung des Staates für die Alten und Kranken und zu vielem anderen noch bekannten, was bis heute nicht in der Politik des französischen Konservativismus gefunden werden konnte Aber zwischen ihnen bestanden große Differenzen und die Sozialisten wurden faktisch zur Mitte zwischen jenen, die links oder rechts von dieser Mitte standen.

Die Sozialisten sind noch immer gespalten und der Riß in Doktrin und Tradition der Partei ist tief. Aber sie nehmen nicht mehr das Zentrum der Bühne ein; ihre Verlegenheit ist auf die MRP übergegangen. Dies wurde von dem Augenblick an klar, in dem der General zurücktrat, und die darauffolgenden Ereignisse haben dies bestätigt. Die größte Schwierigkeit erwuchs für Gouin daraus, die MRP zum Verbleiben in der Koalition zu überreden und die größte Schwierigkeit der Führer der MRP bestand wieder darin, die Partei davon zu überzeugen, daß ihre Haltung sie in den Augen der katholischen, antikommunistischen Wähler nicht unmöglich mache“. Während der Besetzungszeit hätten die Führer der MRP ihren Mut gezeigt. Ihr Entschluß, in der Koalition zu verbleiben, dessen letztes Motiv tatsächlich die Furcht war, in eine reaktionäre Position gedrängt zu werden, die für die Partei von üblen Folgen sein könnte, ist nach dem Urteil des Briten ein Zeichen ihres Wertes. Wie Schumann erklärte, waren die Führer der MRP entschlossen, ihre Verbindung mit der Arbeiterklasse nicht zu verlieren.

„Aber die Partei kämpfte einen verlorenen Kampf. In den vergangenen Monaten haben ihre Anhänger bei verschiedenen Gelegenheiten gefährliche Anzeichen erkennen lassen, daß sie der Partei entgleiten.

Dies geschah im Februar. Romarony und Mutter, führende Politiker der Rechten, haben die Bildung einer neuen Partei, der Republikanischen Partei der Freiheit (PRL) bekanntgegeben. Die PRL hat jetzt eine Gefolgschaft von unge-

fähr 30 Deputierten in der Nationalversammlung; ihre Führer glauben fest daran, daß ihre Partei bei den allgemeinen Wahlen zu nationaler Bedeutung aufsteigen wird. Es sind Anzeichen dafür vorhanden, daß sie gut organisiert ist, über genügend Mittel verfügt und genau weiß, was sie will. Ihre unter-stüzenden Mitglieder haben eine imponierende Liste von öffentlichen Versammlungen in Paris und in der Provinz einberufen. Ihre Ziele werden meistens mit den Worten: ,Versöhnung', ,Wiederaufbau' und ,Reorganisation' umschrieben. Aber in Wirklichkeit, wenn man der Sache auf den Grund geht, sind sie auf einen klaren Kampf mit den Kommunisten aus.“

Die Partei hat verschiedene Splittergruppen des rechten Zentrums und der Rechten zusammengefaßt, unter ihnen auch alte Anhänger des Obersten de la Roque, Mitglieder des Croix de Feu. Bei Versammlungen der PRL besinnen sich die Redner keinen Augenblick den Oberst ehrend zu erwähnen. (De la Roque arbeitete nicht mit den Deutschen zusammen, er befindet sich im Augenblick in halber Freiheit in seinem Haus in Versailles. Die PRL hat volle Freiheit für ihn verlangt.)

„Durch das Entstehen der PRL ist die MRP an Stelle der Sozialisten zur Zentrumspartei geworden. Und gerade weil die PRL offen antikommunistisch ist, was die MRP als Koalitionspartei nicht sein kann, wird ihre Stellung immer mehr und mehr ungemütlich“, berichtet der Korrespondent des „Economist“. Propheten sagen bereits eine Parteispaltung für die Wahlzeit voraus. Eine wichtige Folge dieser Entwicklung sei die Tatsache, daß Sozialisten und Kommunisten näher zusammenrücken und daß die Furcht der Sozialisten, in den Kommunisten aufzugehen, abgenommen habe.

Es ist nach der Meinung des britischen Betrachters zu früh, um zu bestimmen, in welchen Formen der Wahlkampf geführt werden wird. Der Krieg habe erstaunlich wenig geändert. „Der ausschlaggebende

poEtfedie Konffikt Ist wefeerHn du I !e* licker Klassenkampf. Die Parok der Wahlen in Frankreich heißt auch weiterhin Mittelklasse gegen Arbeiterklasse. Nor die Schlagworte haben sich etwas geändert. Vahrend des Krieges glaubten die Komm-nisten, daß die geschichtliche Entwickhmg den Patriotismus zu ihrem Bundesgenosse* habe werden lassen. Die Bauern, Arbeiter und anderen, die sie zum Widerstand geröhrt hatten, waren überzeugt, für ihr Laad zu kämpfen. Ihnen anderes zu erzählen, hätte geheißen, auf ihre Unterstützung zu •verzichten. Die Sowjetregierung selbst hatte erklärt, daß dieser Krieg ein patriotischer Krieg wäre. Jacques Duclos, ein führender französischer Kommunist, sagte vor kurzem, daß der Faschismus und der Krieg dem Nationalismus eine neue Bedeutung gegeben hätten.

Die Mittelklasse fand ebenfalls, daß die Tischordnung geändert worden war. Patriotismus war ihr Monopol, ihre beste Karte. Überrascht durch die Okkupation fanden sie sich einem klaren Interessenkonflikt gegenüber: entweder mit den Deutschen oder mit den Alliierten zusammenzuarbeiten. In beiden Fällen mußte ihre Einstellung scharf antinational werden. Mit den Deutschen zu arbeiten, war roher Betrug; mit den Alliierten zusammen zu arbeiten, hieß, sich in die Illegalität zurückzuziehen und sich ia die Hände der Kommunisten zu überliefern.

Der Krieg teilte die Mittelklasse in Frankreich in Vichy-Anhänger und Widerstandskämpfer. Die Vichy-Anhänger haben wenig gelitten, weder materiell noch geistig. Heute haben sie das beruhigende Gefühl, daß sie, indem sie die Deutschen an Stelle

der Alliierten — das heißt, wie sie es zu sehen vorziehen, der Kommunisten — gewählt haben, sowohl weise als vorsichtig gehandelt haben. Sie sind der Ansicht, daß Mister Bevin fast dasselbe an ihrer Stelle getan hätte. Die Angehörigen des Widerstandes haben aber' weit mehr verloren als ihr Eigentum. Sie verloren ihre seelische Ruhe. Sie sind bis ins Innerste in Unruhe versetzt und die geistige Angst und Verzweiflung, durch die weite Kreise der Mittelklasse in Frankreich und in allen übrigen Teilen Westeuropas jetzt schreiten, ist unzweifelhaft ein soziales Phänomen von größter Bedeutung. Während des Krieges bildsten sich neue Parteien des fortschrittlichen Mittelstandes, die MRP, die - christlichen Demokraten in Italien und ähnliche. Sie sahen ein, daß sie nicht zur alten Klassenautarkie zurückkehren können. Sie sahen den Wert der zentralen Kontrolle ein, den sie für den Augenblick Nationalisierung zu nennen bereit waren. In der Hitze des Kampfes konnte die Widerstand leistende Mittelklasse diese Widersprüche außer acht lassen. Aber mit Beendigung des Krieges war sie gezwungen, sich über sich selbst klar zu werden.“

„Die Symptome ihrer Angst“, so schreibt der Engländer in seinem Bericht, „sind in Frankreich leicht zu sehen, liegen sie doch offen zutage. Wenige Monatsschriften vergessen Artikel zu bringen, die sie beschreiben und analysieren. Die Verzweiflung der Mittelklasse über diä Zukunft, ihre poli-

tische Indifferenz und Unfähigkeit mit den Tagesfragen sich auseinanderzusetzen, werden mit dem robusten Selbstvertrauen der Kommunisten und deren aufrüttelndem Ruf nach höherer Produktion und für ein glücklicheres und hoffnungsvolleres Frankreich verglichen. Nur zu sehr wird die Jugend ohne Führung gelassen. Ein Drittel von ihr will, nach einer Statistik des meist verläßlichen Instituts für öffentliche Meinung, Frankreich verlassen. Wie ,Les Temps modernes' schreiben, haben nüchterne Untersuchungen ergeben, daß Frankreich ein Land mit einer weitverbreiteten Neurasthenie ist, die sich in Angst, Uninteres-siertheit und Verzweiflung ausdrückt.“

Und „zuviele sind darauf gekommen, daß der katholische Sozialismus die Massen nicht für sich begeistert oder die Kreise schließt, sondern daß er zu individueller Stagnation führt.

Neue politische Forme n“, o schließt der englische Betrachter, „sind u b-vermeidlich. In Frankreich ist es die PRL, in Italien der ,Uomo qualunque'; andere werden anderswo aufscheinen. Die Kommunisten nennen es eine faschistische Reaktion. Aber der Ausdruck ist irreführend. Es ist eine Reaktion der Mittelklasse, ein Barrikade der Wähler, und es ist wahrscheinlich, daß sie stark sein wird.“

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