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Die Krise der IV. Französischen Republik

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Paris, Ende Oktober

Die Krise, in der sich Frankreich befindet, ist im wesentlichen eine des Regimes, eine Krise der IV. Republik. In den vergangenen Jahren konnte man in Frankreich einer bedenkenerregenden Entwicklung beiwohnen. Der Zunahme der Macht der Gewerkschaften stand die Abnahme der Autorität der Nationalversammlung und somit des Staates gegenüber. Neben den durch allgemeines Wahlrecht Gewählten traten andere auf, die durch einen engumschrie- benen, aber wesentlichen Teil der Bevölkerung zu ihren Vertretern gewählt worden waren; sie nahmen zu den gleichen Problemen Stellung wie die ersteren. Es entstand ein wahrer Wettlauf zwischen Parlament und Gewerkschaft, wobei die Gewerkschaft immer mehr den Charakter einer politischen Bewegung annahm. Der Vorteil schien auf der Seite der Gewerkschaft zu sein, da sie die Mittel zur „direkten .Aktion" besaß. Das Streikrecht ist dem französischen Arbeiter in der Verfassung garantiert, und die Gerichte stimmen nicht überein, wieweit dieses Recht gehe und ob es die Besetzung von Betrieben und die Verhinderung der Arbeitswilligen umschließt.

„Man wird niemals das Unglück groß genug schildern können, das die Furcht als Reaktionär zu erscheinen, an uns Franzosen angerichtet hat", erklärte einmal Charles Peguy, den man schwerlich als Reaktionär bezeichnen könnte. Und sein Wort besitzt heute mehr Gültigkeit als je.

Nach der letzten großangelegten „direkten Aktion“, der gigantischen Streikwelle, durch die Frankreich im vergangenen November-Dezember hindurch mußte, entstand eine Spaltung in dem bis dahin einzig tonangebenden Gewerkschaftsbund CGT. Er wurde offen linksradikal und kommunistisch, während die ausscheidenden sozialistischen Gewerkschaftler mit Leon Jouhaux an der Spitze den Gewerkschaftsbund „Forces Ouvriercs“ gründeten. Nach der so erfolgten Absplitterung gewann auch der christliche Gewerkschaftsbund CFTC größeres Gewicht. Wirtschaft und Politik sind heute eng miteinander verwoben, so daß die einzelnen Verbände bald als gewerkschaftliche Sektionen der Kommunistischen Partei, der sozialistischen SFIO Section Francaise de Internationale Ouvriere und der katholischen MRP Mouvement Repu- blicain Populaire betrachtet wurden. Doch blieb die Entwicklung nicht darauf beschränkt. Während in Großbritannien die Labour Party die politische Verantwortung den Trade Unions gegenüber behaupten konnte, scheint die Lage in Frankreich zuweilen umgekehrt sein. Mindestens einmal hat die CGT der Kommunistischen Partei ihren Willen aufgezwungen, die CFTC spielt eine immer ausschlaggebendere Rolle in der Politik der MRP und Forces Ouvrieres ist der eigentliche Erreger der Kabinettskrisen, die seit August 1948 in Frankreich stattgefunden haben.

Die Vorzeichen deuten unerbittlich darauf hin, daß die Tage der gegenwärtigen Regierungskoalition, die im wesentlichen aus MRP, SFTO und Radikalen besteht, gezählt sind. Wer soll die schwere Nachfolge antreten? Drei Kandidaturen sind angemeldet, die einen offen und unter Aufwand eines bedeutenden Propagandaapparats, die dritte stillschweigend, weil sie der Propaganda nicht benötigt. Diese drei Kandidaten sind die Kommunistische Partei, die RPF de Gaulles und die Gewerkschaften.

Obwohl die Kommunistische Partei heute in Frankreich die größte Partei des Parlaments ist und zirka 30 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt, besteht keine allzu große Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie die Macht übernehmen könnte. Das Rennen beschränkt sich auf de Gaulle und die Gewerkschaften, die zweifellos die Unterstützung der Partei Thorez’ erhalten würden, die auf diese Art aus dem Hintergrund und ferngesteuert ihre Kontrolle ausüben könnte.

Die Sammlung des französischen Volkes,

Von Gedeon de Margitay „Rassemblement du Peuple Franjais“, des Generals de Gaulle, ist eines der meistbeschriebenen und doch noch nicht ausgeschöpften Geheimnisse des politischen Lebens in Frankreich. Es ist wohl kaum übertrieben, die Anhänger de Gaulles und die mit ihm Sympathisierenden auf 40 Prozent der Wähler zu schätzen.

Das Programm de Gaulles wirbt auch um die Arbeiterklasse. Viel weniger der Anbetung der „efficiency“ erlegen als ihre amerikanischen Brüder, würden diese in der Doktrin der Vergenossenschaftung der Arbeit und des Kapitals Entschädigung finden. Das größte Aktivum der Bewegung ist aber der mystische Glaube an die Eigenschaften de Gaulles, der Frankreich einmal bereits rettete.

Der RPF de Gaulles ist auf einer straffen Organisation aufgpbaut, die Frankreich in zehn Regionen aufteilt, die sich bis zur kleinsten Ortsgruppe und Zelle in die Tiefe gliedern. Außer dem Generalsekretär Jacques Soustelle und den vier nationalen Sekretären umfaßt der Exekutivausschuß acht weitere, von de Gaulle ernannte Mitglieder. Diese Körperschaft ist das oberste Lenkungsorgan der Bewegung. Es gehören ihr unter anderem Persönlichkeiten an, wie der Professor Pasteur, Vallery-Radot, der Schriftsteller Andre Malraux oder der Autor und ehemalige Chef einer Untergrundorganisation Colonel Remy. Dieser gab vor kurzem eine Erklärung ab, die- nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Er ließ vorausahnen, daß man im kommunistischen Lager überraschende Wandlungen erwarten dürfte.

Kommunisten und Gaullisten scheinen beide entschlossen, die Macht mit konstitutionellen Mitteln zu erlangen. Wahrscheinlich ist dieser Entschluß auf die Erkenntnis zurückzuführen, daß ansonst ein Bürgerkrieg unvermeidlich würde. Dieser Entschluß ist es jedoch, der dem dritten Kandidaten seine Chjncen gibt. Die Gewerkschaften können eine gemeinsame Plattform finden, auf der sie sich einigen. Eben in letzter Zeit ist eine solche Tendenz bemerkbar geworden. Wurde diese Arbeitsund Kampfgemeinschaft verschiedenartiger, auch weltanschaulich getrennter Kräfte einmal ins Leben gerufen, so könnte es geschehen, daß der Präsident der Republik gegenüber einer solchen geschlossenen Macht schließlich in die Bildung einer Regierung einwilligt, welche Namen wie die eines Jouhaux, eines Benoit Frachon und eines Gaston Tessiet vereinigen und sich den Parlamentariern dadurch annehmbarer machen würde, daß diese Gewerkschaftsführer als Vertreter der einzelnen politischen Parteien auftreten würden. Diese Entwicklung würde eigenartigerweise an die blutlose Prager Revolution erinnern, in der die kommunistische Führung, vom Gewerkschaftsflügel angespornt, zum Angriff schritt und den Gewerkschaftsführer Zapotocky in den Sammetsessel des Ministerpräsidenten setzte.

Es wäre manches für und nichts gegen eine solche Entwicklung zu sagen. Demokratie und Parlamentarismus beruhen auf der Wahl der Allgemeinheit und kennen keine Klassenexklusive. Dennoch scheint eine solche Lösung der gegenwärtigen Krise weiten Schichten der Bevölkerung sym-pathisch, für die einen als Beseitigung der Gefahr eines kommunistischen Umsturzes, für die anderen als Ausschaltung der Möglichkeit eines gaullistischen „Marsches auf Paris"; für die dritten als jene Heranziehung „neuer Männer“, die so oft schon verlangt wurde und — wie vorauszusehen — auch einem Vertreter der Agrarföderation CGA in das Kabinett Aufnahme verschaffen würde.

Alles ist noch in Schwebe. Der Urlaub der Nationalversammlung gewährt der französischen Regierung eine Atempause, In der gegenwärtigen Zusammensetzung der Koalition sind keine neuen Garnituren mehr zu finden. Wohl oder übel ist das Kabinett Henri Queuille das letzte der „Dritten Macht“. Bei einer Erweiterung kann theoretisch zur Einschließung der Rechts- oder aber der Linksopposition geschritten werden. Sollte die parlamentarische Rechte eingeladen werden, Vertreter in die Regierung zu senden, würde dies den Übergang der Sozialisten in die Opposition bedeuten, und manche Abgeordneten der MRP dürften ihnen folgen. Der parlamentarischen Arithmetik zufolge bedeutet die Anwesenheit gaullistischer Abgeordneter im Kabinett bei der heutigen Zusammensetzung der Nationalversammlung einen Verlust der Parlamentsmehrheit! Die Lage wäre um so fataler, weil der Präsident der Republik, Vincent Auriol, selber Sozialist ist.

Präsident Auriol hat aus seiner Gegnerschaft de Gaulle gegenüber nie ein Geheimnis gemacht. Er hat erklärt, daß er bereit sei, gegebenenfalls selber in die Reihe der Parlamentarier einzutreten, um, was er als das größte Übel für Frankreich erachte — de Gaulles Machtübernahme — zu vereiteln.

Auf diese Erklärung und auf die geheime Sympathie der Sozialisten für ihre kommunistischen Stiefbrüder gründen sich die Folgerungen der Beobachter der Pariser politischen Szene. Sie nehmen an, daß als letztes Experiment ein Kabinett mit kommunistischer Beteiligung versucht werden könnte, eine Lösung, die ein Eintreten der Gewerkschaften in das Spiel begünstigen würde.

Der Ernst der Krise, auch in ihrer außenpolitischen Bedeutung, kann nicht verheimlicht werden. Der Volkscharakter der Franzosen hat zum Glück viele Züge, welche auf einen guten Ausgang der Krise hoffen lassen.

Das französische Volk ist eine Nation der Erwachsenen, trotz dem kleinen Schauspiel, das seine Politiker bieten. Es ist ein Volk der heiteren Skeptiker und Meister der Improvisation — mit all den Vor- und Nachteilen dieser Eigenschaften. Und es ist auch ein Volk der Paradoxe, das es unter anderem verstanden hatte, die Produktionskurven in die Höhe schnellen zu lassen — und gleichzeitig einen Streik nach dem anderen zu entfesseln. Schließlich wird die heutige Politik Frankreichs in erster Linie von seinen internationalen Verpflichtungen und von seiner geograpischen Lage beeinflußt. Ohne es auszusprechen, stellt heute jeder Franzose — ob einfacher Bürger, ob Staatsmann — wie auch jeder Europäer die Frage an die Großen der Welt: Wollt ihr den Krieg oder nicht? Der eigentliche Ausgang der französischen Krise wird voraussichtlich von der Antwort abhängen, welche auf diese Frage gegeben wird.

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