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Die Machbarkeit der Utopie

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in ihrer Radikalität ist Gewaltfreiheit noch gar nicht ausprobiert worden, daher hat sie auch nicht versagt, meint der Autor des folgenden Beitrags.

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in ihrer Radikalität ist Gewaltfreiheit noch gar nicht ausprobiert worden, daher hat sie auch nicht versagt, meint der Autor des folgenden Beitrags.

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Es ist eine eindrucksvolle Liste: Einhundertacht-undneunzig Methoden der gewaltfreien Aktion in systematischer Reihenfolge. Der US-amerikanische Wissenschaftler Gene Sharp hat einen solchen enzyklopädiehaften Katalog in seinem dreibändigen Hauptwerk „Die Politik der gewaltfreien Aktion” nach jahrelanger Forschungsarbeit erstellt. Es ist eine inspirierende Liste: Jede einzelne der beinahe zweihundert gewaltfreien Methoden wurde in den vergangenen Jahrzehnten bereits angewandt. Die Liste beflügelt die Phantasien für die schier unerschöpfliche Mannigfaltigkeit gewaltfreier Praxis. Schließlich ist es eine ermutigende Liste: Kaum eine der bewußt gewählten gewaltfreien Aktionsformen verfehlte zumindest teilweise die erhoffte Wirkung. Gewaltfreie Aktion bleibt nicht erfolglos, so die Botschaft.

Zwei Schüler von Gene Sharp arbeiteten in dieser Bichtung weiter. „Was muß sein, um den Erfolg einer gewaltfreien Aktion möglichst sicherstellen zu können?”, fragten sie sich. Antwort darauf wollten Christopher Kruegler und Peter Acker-man aus der Analyse von gewaltfreien Kämpfen in diesem Jahrhundert finden. Ihr Ergebnis: Wenn sich ein Staat oder eine soziale Gruppierung an bestimmte strategische Prinzipien hält, dann kajin allein mit gewaltfreien Methoden ein Ziel erreicht oder eine Sache verteidigt werden.

„Strategisch gewaltfreier Konflikt” nennen sie die Vorgangsweise, wie sich Völker ohne Gewalt erfolgreich gegen Aggressoren durchsetzen, wie Bürgerinnen ihre Diktatoren ohne gewaltsamen Aufstand los werden oder wie schon in Vorbereitungsphasen gigantische militärische Apparate zugunsten von demo-kratie- und umweltverträglichen „Verteidigungsmaßnahmen” abgebaut werden können. Mit Begriffen wie „Soziale Verteidigung” oder dem populärwissenschaftlichen Ausdruck „People's Power” könnte der Ansatz der Sharp-Schüler in Verbindung gebracht werden.

Die Utopie einer gewaltfreien Verteidigung ist machbar, wenn „strategisch” - das heißt ganz bewußt, nach genauer Planung, mit penibel durchdachter Vorgangsweise und mit der Festlegung von stets überprüfbaren Aktionszielen vorgegangen wird. Staaten und Völker können Sicherheit ohne militärische Vorbereitung auf den Krieg realisieren. Mit den Friedensverheißungen des Jesaja und des Micha muß nicht erst auf das „Ende der Zeiten” gewartet werden.

Aus den wichtigsten historischen Modellen des gewaltfreien Widerstands filtern Kruegler und Acker -man zwölf Prinzipien. Wenn diese bei der Konfliktaustragung berücksichtigt werden, dann könne mit Erfolg gerechnet werden. Welches Bild ergibt sich, wenn wir einige der Prinzipien beispielhaft mit aktuellen Ereignissen in Tschetschenien konfrontieren?

„Formuliere zweckmäßige und praktikable Ziele!”, lautet das „erste Gebot” im strategisch gewaltfreien Konflikt. Welche wirklich zweckmäßigen Ziele wurden von den Tschetschenen formuliert? Ihr unkontrollierbarer Widerstand gegen die russische Übermacht bleibt diffus. Staatliche Unabhängigkeit für ein Land - klein wie die Steiermark - ist widersinnig. Verletzter Nationalstolz und jahrhundertelange Unterdrückung entladen sich in gewaltsamem Widerstand, ziellos und mit dem Besultat eines zerstörten Grosny und Tausender getöteter Menschen.

„Entwickle organisatorische Stärke!”, so der zweite Aufruf. Gemeint ist damit freilich nicht eine militärische Organisationsstärke. Letztere treffen wir bei den tschetschenischen Kämpfern wahrlich an. Wir sind wieder Zeitzeugen für eine so oft feststellbare Relation: Je größer die Bereitschaft zu militärischer Aktion, desto kleiner die Bereitschaft zur gewaltfreien Aktion. Je größer das Vertrauen in gewaltfreie Aktion, desto geringer die Wahrscheinlichkeit zu gewaltsamer Aktion. So gut organisiert der militärische Widerstand der Tschetschenen erscheint, so sehr gingen gewaltfreie Widerstandsmethoden unter. Vergleiche mit den Volksaufständen 1989 und 1990 in ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten täten gut.

„Pflege externe Unterstützung!”, heißt ein weiteres Prinzip. Obwohl die Unterdrückung nicht neu ist und der Wille der Tschetschenen zum Widerstand schon lange brodelt, wurde eine internationale Solidarisierung zu wenig entwickelt. Das Vertrauen in eigene militärische Kraft war stärker als das Vertrauen in die Stärke der Weltöffentlichkeit, die einen tollwütig agierenden russischen Präsidenten an die Kandare hätte nehmen können.

In diesem Zusammenhang kann das Versagen der westlichen Welt nicht unbemerkt bleiben. Von der US-amerikanischen Großmacht bis zur westeuropäischen Supermacht Europäische Union, vom Kleinstaat Österreich bis zur Atommacht Frankreich - zaghaft nur und kaum hörbar war die Kritik gegenüber dem russischen Bombenhagel auf Grosny. Nur hinter vorgehaltener Hand wurde die Drohung nach einem Aussetzen der Wirtschaftshilfe hörbar. Gerade die Dependenz Rußlands von den ökonomisch reichen Ländern des Westens hätte aber eine überaus wirksame gewaltfreie Sanktionsmöglichkeit geboten, um dem Volk der Tschetschenen und den russischen Jelzin-Kritikern Solidarität zu zeigen.

Das fünfte Prinzip auf der Ebene der Planung lautet: „Erweitere das Repertoire an Sanktionen!” Angewiesen auf Bilder im Fernsehen und mediale Berichte und Analysen bleibt der Eindruck von heldenhaften und todesmutigen Milizionären ä la Che Guevara oder Andreas Hofer einerseits und passiv-leidenden Zivilistinnen andererseits. Es fehlen die Bilder und Berichte von Tschetschenen, die sich mit den unfreiwilligen russischen Soldaten zu verbrüdern versuchen, von Politikern, die trotz allem Gesprächs- und Verhandlungsmöglichkeiten nicht ausschlagen, oder von Szenen von Aktionen aus dem Sharp'schen Repertoire von weiteren einhundertsechsundneun-zig gewaltfreien Methoden.

Ein anderes Bündel von Prinzipien des strategisch gewaltfreien Konflikts richtet sich gegen die Aushöhlung der Macht des Aggressors von innen her. „Entfremde Gegner von ihrer Basis!”, so beispielsweise ein Prinzip. Dazu finden wir in der Tschetschenien-Krise bewundernswerte Beispiele. Nicht genügend oft können die russischen Soldatenmütter genannt werden, die mutig ihre Söhne aus dem Krieg herausholen wollten; oder die Generäle und Soldaten, die desertierten und Befehle verweigerten; oder die Menschenrechtsaktivisten und Journalisten in Moskau und anderen russischen Städten, die offen gegen die menschenfeindliche Politik Jelzins auftraten. Gäbe es von diesen gewaltfreien Gruppen und Aktionen viel viel mehr, würde dem Krieg die Basis entzogen, könnte die russische Armee ohne verkohlte laichen gestoppt werden und eine Basis für dauerhaften Frieden geschaffen werden.

Nicht die Gewaltfreiheit versagt heute in Bosnien, in Tschetschenien oder an einem der gut dreißig weiteren kriegerischen Schauplätze. Es versagt die militärische Logik, wenn sie unter dem Anspruch auftritt, Frieden erreichen zu wollen. Gewaltfreiheit unter obenskizzierter Zielsetzung, das heißt als massenhafte Aktionsform von friedenshungrigen Zivilistinnen, als „Macht der Stärkeren und Mutigen”, als wohlvorbereitete Strategie, wurde und wird in jeder der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen nur in winzigen Ansätzen verwirklicht. Ergo: Gewaltfreiheit hat nicht versagt, weil sie in ihrer Radikalität gar nicht ausprobiert wurde. Würde doch damit begonnen werden, den Beweis für diese These zu wagen!

Dr.Klaus Heidegger ist derzeit AHS-Religionslehrer in Innsbruck Er konnte im vergangenen Studienjahr an der Harvard University in Boston, USA, an einem „Program in Nonviolent Sanctions” teilnehmen und dabei den hier kurz skizzierten Ansatz studieren. Er bezieht sieh vor allem auf das Buch- Ackermann, Peter and Kruegler, Christopher, Strategie Nonviolent ConßicL The Dynamics ofPeople Power in the Twentieth Century. Westport, Connecticut, 1994.

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