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Die Monsterdiözese Paris

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Den Ton wird für lange Zeit die Diözese von Paris angeben. Das Prestige der Hauptstadt ist ungebrochen, und die Millionen, die auf einem engen Raum zusammengeballt wurden, bestimmten in jeder Hinsicht die weitere Ausrichtung. Der zukünftige Chef dieser Monsterdiözese, Monsignore Veuillot, trägt eine sehr große Verantwortung, die bereits heute in der Übernahme zahlreicher Aufgaben zum Ausdruck kommt. Es ist bekannt, daß er, ein eifriger Verfechter gründlicher Reformen, ohne Zweifel eine Reihe von Mißständen in Paris beseitigt.

Es wird von kompetenter Seite darauf hingewiesen, daß kein endgültiges Onganisationsschema vorliegt. Die Praxis zeigt, wie weit diese oder jene Kommission beibehalten, neue Aufgaben erhält oder durch eine Fusion verschwindet. Es ist daher im jetzigen Stadium schwierig, ein Urteil über den Wert und die arbeitsmäßige Verteilung dieser Institution abzugeben. Dem Außenstehenden erscheinen sie dynamisch, weltaufgeschlossen und von jenem positiven Geist erfaßt, der auch moderne Methoden erprobt und die in der Theorie gewünschten Dialoge mit der Umwelt in einem sehr weiten Umfang regelt.

In großzügigen, in den letzten Jahren erbauten Häusern finden modernste Büromethoden Anwendung. Die elektrische Schreibmaschine, wie die IBM-Rechen- maschinen, wurde eine Selbstverständlichkeit. Ein Industriebetrieb könnte nicht viel besser organisiert sein, und die Kirche überrundet vielfach in diesem Fall die Verwaltung des Staates. Die Kritiker sehen natürlich die Bedeutung der Verwaltung in den Vordergrund gerückt und meinen, das Apostolat sinke zu einer Nebensächlichkeit herab. Die Technokraten der Kirche gewinnen an Gewicht, lautet ihr Urteil, der Apparat überwuchert, vergleichbar mit dem einer politischen Partei, und es droht die Gefahr, daß ein Vorbild, wie die Verwaltung des Pentagons, den Bischöfen Frankreichs vorschwebt. Folgt man solchen Überlegungen, so nimmt es kein Wunder, wenn Nicolas Boulte, einer der früheren Leiter der christlichen Studentenjugend, Gründer einer dissidenten Bewegung, den Erzbischof-Koadjutor von Paris, Monsignore Veuillot, mit einem McNamara vergleicht, -der, wirksam und autoritär von göttlichen Gesetzen ausgehend, eine Lösung aller Probleme findet.

Mit großem Mut wagte er es, selbstverständliche Gewohnheiten wie die verschiedenen Klassen bei Eheschließungen und Begräbnissen abzuschaffen, und seine Vorstellung über die Zukunft des katholischen Schulwesens entsprechen einer großen Originalität. Er stellt auch gewisse Tabus des französischen Katholizismus in Frage. Mit 53 Jahren gehört Monsignore Veuillot zu jener Garde jüngerer Priester, die bei .Aufrechterhaltung der Autorität den Willen verbinden, dem Laien eine größtmögliche Entfaltung zu gewähren. Daß bei diesen Vorstellungen

Mißverständnisse auftauchen, Krisen entstehen und sich in der schnellen Evolution die Charaktere aneinander reiben, ist verständlich und nur zu menschlich. Aber er weiß, daß dieses Konzil vielfache Erschütterungen auslöste, und sein Wille ist klar, diese Strömungen in richtige Kanäle zu lenken, eine Ansicht, die übrigens die meisten seiner Mitbrüder teilen.

Wandlungen der Pfarre

In den Jahrhunderten gewachsen, ist die Pfarre jene Zentrale, in der ein gläubiger Christ am nachhaltigsten seine Aussprache mit der Kirche und die Brücke zu Gott findet. Sind genügend Priester vorhanden, um den gesteigerten Bedürfnissen der demographischen Welle gerecht zu werden, die seit 1945 Frankreich überrollt? Die Begründung neuer Städte und Produktionszentren, die Rückwanderung von mehr als einer Million algerischer Franzosen verlagern die bisherige Tätigkeit der Pfarreien. Außerdem ist die Schaffung eines Pariser Distriktes geplant. Paris stößt vor, die traditionellen Geschäftsviertel wandern aus,

in einem gewaltigen Rhythmus entstehen städtebauliche Veränderungen.

Die Pfarre galt als ein statischer Punkt in der Entwicklung, der jetzt in Frage gestellt wird. Wie stattet der Pfarrer Familienbesuche ab? Er findet höchstens eine Abwaschfrau oder Kleinkinder. Und immer weniger Priester stehen zur Verfügung, die Berufungen nehmen ab. Wurden 1900 auf 10.000 junge Männer noch 52 Priester gezählt, so fiel diese Zahl 1960 auf 21 und steht 1966 in der gleichen Größenordnung vor uns. Noch immer ist der Zufluß aus den bäuerlichen Gebieten der stärkste. 39 Prozent der Seminaristen stammen aus dem Bauernstand (bei 24,5 Prozent der Bauernschaft für die Gesamtbevölkerung), 30,7 Prozent aus den Großstädten und zwei Berufungen kommen von 10.000 Arbeitern.

Für 18 Millionen Gläubige auf dem Lande stehen 21.000 Priester zur Verfügung, 24 Millionen in dien Städten rechnen mit 7200 Seelsorgern. Im Zuge der Reorganisation wird eine Verpflanzung von Priestern ernsthaft erwogen. Einzelne Bischöfe erkennen darin große Schwierigkeiten, und der Vorschlag, aus einzelnen Pfarrern eine Art Teamwork zu bilden, die besondere Aufgaben übernehmen, ist über das Stadium der Experimente kaum hinausgekommen. Seit dem Konzil wurden zahlreiche Überlegungen angestellt, um die Krise der Pfarrge- meinden zu lösen. So wurden für 5000 Gläubige eigene Pfarreien geplant, aber die lokalen Studien sind bisher ln kein konkretes Stadium getreten.

Die Jugend voran

Ohne Zweifel suchen besonders Seminaristen oder Priester eine geänderte Form der Gemeinschaft in der Pfarre. Eine Art Diakonat würde, so meinen sie, zahlreiche Berufungen aus der Einsamkeit und Abgeschlossenheit befreien. Es ist zu bemerken, daß die Seelsorge in den katholischen Organisationen vielfach dem Dienst in der Pfarre vorgezogen wird. Dagegen wird der Zölibat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, akzeptiert, und die jungen Geistlichen erkennen in dieser Einrichtung die Grundlage jedes priester- lichen Wirkens. Jedenfalls ist es diese Jugend, die dem pastoralen Wirken eine eminente Stoßkraft verleiht. Der junge Klerus zeigt fest- umrissene Vorstellungen von der Kirche in einer erneuten Gesellschaft. Mit großer Zivilcourage wurden Exzesse des Algerienkrieges gebrandmarkt. Das Verlangen, über die Konsumzivilisation hinausgehend sichere Werte der gleichaltrigen Generation zu vermitteln, die, in geistiger Not versunken, den Genüssen der Gegenwart nachgeht, ist besonders festzuhalten. Diese Geistlichen verurteilen eine Propaganda, die Seelen fängt, sondern sie wollen „Vorleben“, und dies abseits jeder bürgerlichen Ruhe. Sie richten manchmal unbequeme Fragen, die in den Überlegungen der Bischöfe ihren Niederschlag fanden.

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