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Die neue Demokratie der Türkei

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Eine gewaltige, aber gewaltlose Umwandlung hat sich eben in der Türkei vollzogen. Mit dem Zusammentritt der „GAN“, der ersten türkischen Nationalversammlung, am 5. August in Ankara, die auf Grund des allgemeinen und direkten Wahlrechtes am 21. Juli gewählt wurde, begann die türkische Republik eine neue Aera.

Schon äußerlich fällt der Unterschied ins Auge. Bei den letzten Wahlen im Jahre 1943 war es deutlich, daß das Einparteien-System, das Atatürk der jungen Republik zur Zeit des schwierigen und gefährlichen Anfanges gegeben hatte, das politische Leben ertötet hatte. Das Wahlergebnis konnte bei großen Wahlenthaltungen damals nur einen vollen Sieg der Liste der Republikanischen Volkspartei bringen, der einzigen zugelassenen politischen Partei.

Anders am 21. Juli 1946: In Istanbul allein waren 900 Wahllokale geöffnet, meist in Moscheen oder auf den alten türkischen Friedhöfen inmitten der Stadt. Sieben Parteien und noch acht Sondergruppen haben in Versammlungen, mit Flaggen und Plakaten im ganzen Lande geworben. Für die 465 Mandate hatte die Volkspartei in allen 63 Wahlkreisen Kandidaten aufgestellt. Die Hauptoppositionspartei, die Demokraten, hatten 273 Kandidaten ins Treffen geschickt. Außerdem standen noch ungefähr 100 „Unabhängige“ im Wahlkampfe. Die Demokraten sind geführt von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Atatürks Dschelal B a y a r, Bankmann von Beruf, der 1938, nach dem Tode Atatürks, beim Regierungsantritte General Ismet I n ö n ü s, entlassen und durch Dr. Refik S a y d a m ersetzt worden ist, zur selben Zeit, als Außenminister Dr. Tewfik Rüschdü A r a s sein Amt an den Smyrnaer Advo-' katen Schükrü Saradschoglu abtrat, der 1942 die Ministerpräsidentschaft übernahm. Seither war Bayar der Führer der Opposition, unterstützt von dem nun 73jährigen Marschall Tschakmak, einem der letzten überlebenden Führer des Freiheitskampfes von 1921, der namentlich sein Wort gegen den Kriegseintritt der Türkei eingelegt hat.

Die Wahlbeteiligung der Frauen aller Klassen in diesen Wahlen war bemerkenswert. Vor 20 Jahren hat ihnen Atatürk den Schleierzwang genommen, heute hat das allgemeine Wahlrecht sie auch in die Politik eingeschaltet. Die damals fast unfaßbare Revolutionierung der Frauensitte hat damit einen Schritt weiter gemacht, wenn auch die Gleidiberechtigung der Frau in den primitiven Gebieten von Anatolien vorläufig nur auf dem Papier bleiben dürfte.

Der Abschied vom Einpartei-System

Die große Umstellung der türkischen Innenpolitik wurde chon im Dezember 1945 durch die Zulassung von Oppositionsparteien durch einen Beschluß der Republikanischen Volkpartei eingeleitet, “deren Chef Staatspräsident Inönü ist. Dem Zeitenwandel gemäß sprach dabei die Regierung den Wunsch aus, eine liberale Demokratie zu schaffen, doch lehnte eine Erklärung des Staatspräsidenten die Bildung jeder Partei ab, „die von außen inspiriert würde“. Demokraten und Sozialisten trafen sofort ihre Vorbereitungen zum Aufbau ihrer Partei. Die Chancen der Opposition wurden überaus optimistisch beurteilt, den Demokraten allein 80 Mandate gebucht.

Am 10. Mai beschloß dann ein außerordentlicher Parteikongreß der Volkspartei em tiefgreifendes Reformprogramm. Die erst für nächstes Jahr vorgesehenen Wahlen wurden „angesichts der allgemeinen innen-und außenpolitischen Lage“ sofort ausgeschrieben, und zwar zum ersten Male an Stelle des indirekten, auf Grund des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechtes. Natürlich wirkt diese Umwandlung nicht in allen Gebieten des Landes, bei allen 18 Millionen Türken, gleichmäßig in die Tiefe. Der wirtschaftliche, politische und ethnische Aspekt ist schon zwischen Istanbul und Ankara groß, außerordentlich aber sind die Unterschiede zum Beispiel zwischen dem Leben von Smvrna und Erzeruni, zwischen Ale-xandrette und Adrianopel oder dem Gebirgs-lande von Kars, zwischen irgendeiner Industriestadt am Meere und den Dörfern der anatolischen Steppe in denen noch alte seldschukische Sitte herrscht.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Ruhe die Türkei diese politische Erschütterung überstanden hat, ebenso wie seinerzeit die einschneidenden Reformen Atatürks. Die Volkpartei hat von den 465 Mandaten der GAN 395 besetzt, die Demokraten haben 64 Sitze erhalten, könnten also zufrieden sein, da ihr Führer Bayar vor den Wahlen erklärt hatte, die Gewinnung von 50 Mandaten würde einen Triumph des demokratischen Gedankens in der Türkei bedeuten. Die Sozialisten aber, die mit der „Partei der nationalen Erneuerung“ hart um die Stimmen der Arbeiterklasse zu ringen hatten, haben zusammen mit den „Unabhängigen“ sich nur sechs Mandate sichern können. Die Stütze der Regierungspartei war auch in diesen Wahlen der konservative anatolische Bauer, die Hoffnung der Opposition die Gewinnung der Arbeiterschaft und Kaufleute.

Nun beschuldigen die Demokraten die Volkspartei, daß sie mit Wissen der Regierung alle möglichen Unregelmäßigkeiten sowohl bei Vorbereitung der Wählerlisten wie bei der Stimmzählung begangen habe. Angeblich wollen sie sogar ihre Mandate deshalb zurücklegen. Die erfolgte Demission des Ministerpräsidenten Saradschoglu und die Betrauung des Abgeordneten R e d-schep Peper, eines früheren Innenministers, mit der Regierung, die nun vor die GAN tritt, ist nur ein Ausdruck der neuen demokratischen Linie innerhalb der Volkspartei.

Es hat sich erwiesen, daß die nation a I e n Gegensätze in der Türkei überschätzt wurden. Am auffallendsten ist, daß die starke Anziehungskraft, die in letzter Zeit auf die armenische Bevölkerung, besonders im Osten und in den Städten, aus der armenischen Sowjetrepublik ausgeübt wurde, scheint in den Wahlergebnissen, soweit sie bisher vorliegen, keinen maßgeblichen Ausdruck zu finden. Dies könnte in einer künftigen Diskussion über das Schicksal von Kars und Ardahan ein wirksames Argument liefern.

Damit ist auch die außenpolitische Wirkung der Wahlen angedeutet. Die berühmte türkische Diplomatie, die Erbin der alten Diplomatie des Goldenen Hornes, schickt sich an, im Sommer Verhandlungen über die Revision des Montreux-Vertrages betreffs der Meerengen zu führen und vielleicht noch Vorher mit Moskau über einen Bündnisvertrag zu eröffnen.

Österreich, das vor dem Kriege durch rege wirtschaftliche und kulturelle Bande mit der neuen Türkei verbunden war, hat eben erst von dort einen Sympathiebeweis erfahren. Die Ankara-Regierung hat vor kurzem der UNRRA Lieferungen im Werte von 10 Millionen Türkpfunden für Österreich, Italien und Griechenland zur Verfügung gestellt und durch außerordentliche Preisermäßigung deren Umfang noch vermehrt. Erneuerung und Erweiterung der Beziehungen zwischen Wien und Ankara wäre ein erstrebenswertes und erfolgverheißendes ZieL Augur

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