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Die österreichische Wirtschaft und die Atomzivilisation

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Seit dem Tage der österreichischen Neutralität hat sich das politische Klima der Welt verändert. Nachdem zuerst durch die Genfer Viererkonferenz die Möglichkeit der Koexistenz zwischen West und Ost demonstriert, worden ist, sobald nur erst einmal keine Seite mehr auf ihre Atombombenüberlegenheit pocht — hat die darauffolgende Genfer Atomkrafttagung, an der 1260 Delegierte aus 72 Nationen partizipierten (eine biblische Zahl!), in einer Atmosphäre des Enthusiasmus die Möglichkeit einer amerikanisch-russischen Atomkraftzivilisation angedeutet. Sowohl die diplomatischen als auch die technischen Ergebnisse von Genf betreffen kurz-und langfristig auch Oesterreich.

Die Genfer Diplomatie des „out-smiling“, des wechselseitigen Bemühens, durch „photogenes“ Lächeln den Gegner in den Augen der Weltöffentlichkeit aus dem Felde zu schlagen („Wer am besten lacht, lacht zuletzt“), von Eisenhower längst inauguriert, von Bulganin und Genossen aber nunmehr überboten, hat eine auf beiden Seiten ersehnte Periode der politischen Entspannung eingeleitet, von der schwer anzunehmen ist, daß sie einfach wieder rückgängig gemacht werden kann. Es ist viel wahrscheinlicher, daß die beiden Weltmächte selbst ohne eigentliches Nachgeben in den entscheidenden Fragen in einem labilen Gleichgewicht verharren werden, das zu dem Zustand vor Genf mit seiner übertrumpfenden Reihenfolge von A-, H-, K- und U-Bomben nicht mehr zurückkehren wird.

Eine Atomkraftzivilisation aber, in der Amerika und Rußland gemeinsame Glieder wären, stünde, namentlich wenn sie sich sehr rasch entwickelt, was in der gegebenen wissenschaftlichen Situation und politischen Atmosphäre durchaus denkbar ist, alsbald wieder an derselben Stelle, die durch Genf überwunden scheint, jedoch in noch schärferer Zuspitzung der Gegensätze, der Eifersucht, der Habsucht, des Weltherrschaftsstrebens auf beiden Seiten, die darin jedenfalls die apokalyptischen Tiere symbolisieren. Dieser Tatbestand rechtfertigt es, Wenn auch nach Genf noch immer kleine Nationen existieren, die an der Idee ihrer ökonomischen Unabhängigkeit festhalten. Gerade darin liegt vielleicht das stärkste Mittel, die Unzulänglichkeiten einer sich überrasch entwickelnden Atomkraftzivilisation zu paralleli-sieren. Denn gerade ein kleines Volk, das auch wirtschaftlich selbständig sein will, könnte am ehesten Verstand genug haben, sich dem Automatismus der Atomkraftentwicklung nicht in gleicher Uferlosigkeit hinzugeben wie die Weltvölker, so daß in seinem Rahmen eine Lösung der Probleme des Atomzeitalters eher möglich sein könnte. Auch wenn kein Volk gegen den Strom der neuen Zivilisation zu schwimmen vermag, so darf man doch einem tapferen Volk, das viele mutige Schwimmer hat, sofern diese ein geistiges Ziel jenseits alles materiellen Wohlstandes sehen und festhalten, anraten, daß es seinen eigenen Kurs quer durch den Strom der Zeit verfolgt, um, statt bloß ins Unbekannte abgetrieben zu werden, wirklich ein anderes Wer zu erreichen. Darin liegt auch für die österreichische Wirtschaft, die mehr anerkennt als bloß die Herrschaft quasi-physikalischer Wirtschaftsgesetze, eine Aufgabe, die aus der Idee der Neutralität abgeleitet werden kann. Unter der Voraussetzung eines nationalen Willens, der sich dem Strom nicht willenlos hingibt, sondern ihn durchqueren will (freilich unter ihr allein), bleibt es auch am dämmernden Morgen der Atomkraftzivilisation nach wie vor bei den wirtschaftlichen Begriffen der stärkeren oder schwächeren Lebensfähigkeit einer nationalen Wirtschaft sowie ihrer größeren oder kleineren Angelegtheit auf Ergänzung durch andere, nachbarliche Wirtschaften.

Wenn man verstehen will, um wieviel sich die geistige Lage der Zweiten Republik Oesterreichs gegenüber der Ersten' verbessert hat, muß man sich nur daran erinnern, daß vor dreißig Jahren ganz wenige harte Köpfe an die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des österreichischen Staates geglaubt haben, während heute nur noch ganz wenige unbelehrbare Geister nicht daran glauben. Gewiß hat sich dieser Begriff bisher schon verändert und wird es noch weiter tun. Die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Oesterreichs ist heute ein Axiom der internationalen Politik, das man nicht erst zu beweisen braucht. Oester-reicher und NichtÖsterreicher sind der Meinung, daß Oesterreich im Grunde ein reiches Land ist. Gewiß gewinnt dieser Begriff jeweils eine andere Färbung, ob man von Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang darnach ausschaut. Darüber aber kann kein Zweifel bestehen, daß Oesterreich heute über eine Substanz verfügt, die es, wenn es daraus die rechten Konsequenzen zieht, zu einem bevorzugten Eiland machen kann.

1 Die Erkenntnis von der Lebensfähigkeit Oesterreichs hat dazu beigetragen, daß die österreichische Staatsführung die internationale Rechtsverpflichtung der Neutralität zu übernehmen gewagt hat. Darüber hinaus liegen in der geistigen Linie der österreichischen Neutralität gewisse wirtschaftliche Konsequenzen. Die Idee der Neutralität schreibt zwar Oesterreich rechtlich keine bestimmte Wirtschaftspolitik vor, legt jedoch sinngemäß eine solche nahe, auch wenn das volle Ausreifen seine Zeit brauchen wird. Wenn der Rechtsboden der Neutralität ein Jahrzehnt lang vorbereitet werden mußte, wird man sich nicht wundern dürfen, daß auch die dazugehörige Wirtschaftspolitik nicht über Nacht verwirklicht werden kann. Nur wenn ein auf die Dauer einiger österreichischer politischer Körper, dessen geistige und politische Führung weiß, was sie will, in zäher, unermüdlicher und unerschrockener Selbstverwirklichung sich ein Ziel setzt und daran festhält, wird ihm der kongeniale wirtschaftliche Erfolg zuletzt dreingegeben werden.

Das neutrale Oesterreich hat die seltene historische Chance, im geistigen Bereiche, der auch die Wirtschaft gestaltet, antikapitalistisch zu sein, ohne kommunistisch werden zu müssen, und antikommunistisch bleiben zu können, ohne kapitalistisch zu sein. Das ist gewiß ein langfristiges Programm, keine Zauberformel von heute auf morgen. Denn einerseits wird das vergangene Jahrzehnt vor dem Staatsvertrag, das im Zeichen der wirtschaftlichen Beziehungen zu Amerika dahin tendierte, für Oesterreich ein gesichertes Plätzchen im kapitalistischen Räume zu finden, noch lange nachwirken, anderseits aber wird auch das kommende Jahrzehnt nach dem Staatsvertrag, das im Zeichen der wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland unserem Lande keine geringen Lasten auferlegen wird, eine noch lange existierende und noch nicht so bald in sein natürliches Ende auslaufende Realität sein. Hier muß vor der Meinung gewarnt werden, als könnte das Ausspielen beider Mächtegruppen gegeneinander, das manchmal auch den Kleinen in günstiger Lage möglich ist, oder auch die „Synthese“ ihrer beiderseitigen Formeln, die in ihrer Art beide „erfolgreich“ sind, in einem von beiden zwar unabhängigen Staatswesen der Mitte, das ihnen aber doch nicht gänzlich entrinnen kann, auf die Dauer das österreichische Ideal sein. Eine österreichische Wirtschaftspolitik, die über die drängende Befriedigung der augenblicklichen Lebensinteressen hinausgreift, tut gut daran, sich darüber klar zu sein, daß weder der Weltkapitalismus, für den, trotz aller immanenten Entwicklung in der entscheidenden Struktur unverändert, Amerika steht, noch der W eltkommunismus, den, trotz pragmatischer Bereitschaft zur Koexistenz mit der kapitalistischen Außenwelt, Rußland nicht preisgegeben hat, andere Tendenzen haben, noch haben können, als die neutralen Nationen wirtschaftlich oder politisch in das eigene Machtsystem einzubeziehen. Darin sind beide Mächtegruppen einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen, nur daß ihre Mittel verschiedene sind: vorzüglich wirtschaftlich-politische im Falle Amerikas und politisch-wirtschaftliche im Falle Rußlands.

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