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Die Pakistani

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Karachi, im Februar

Schon 1930 tauchte der Gedanke an einen selbständigen Mohammedanerstaat in Indien auf. 1940 setzte Mohammed Ali Yinnah die Idee als Forderung auf das Programm der indischen Moslemliga, und als dann 1947 der indische Subkontinent von Großbritannien geräumt wurde, war es für die Führer des Islams nicht mehr allzu schwer, die Teilung Indiens in die Indische Union der Hindus, und Pakistan, das „Land der Reinen“, durchzusetzen. Von der einstigen, 4,675.000 Quadratkilometer umfassenden Kronkolonie wurden im Osten und Nordwesten zwei Gebiete abgetrennt, um den neuen Staat der indischen Moslems zu begründen. Heute leben unter der grünweißen Flagge des Propheten, auf 612.000 Quadratkilometer Fläche, nach der Umsiedlung von etwa 10 Millionen Moslems, etwa 80 Millionen Anhänger Mohammeds.

Die Loslösung von 80 Millionen Menschen aus dem indischen Volkskörper, um sie zu einer neuen Nation zu formen, ist ein Musterbeispiel dafür, wie wenig in Asien der geographische Begriff Heimat bedeutet. In Ost- und Westpakistan leben ebenso viele Menschen mohammedanischer Religion, deren Wiege irgendwo in der heutigen Republik Indien, in Delhi, Kalkutta oder Bombay stand, als anderseits hindustanische Inder in der Union, die ihrer Herkunft nach aus den Gebieten des neuen Pakistan stammen.

Dagegen kommt dem geistig-religiösen Bekenntnis und dem sozialen Zugehörigkeitsgefühl in diesem Teil der Erde eine überragende Bedeutung zu. Die Gegensätze sind zu groß, und insbesonders ist ein Zusammenleben mit den Hindus und Menschen anderer Religionsbekenntnisse für den Mohammedaner rundweg unmöglich. West- und Ostpakistan, die beiden Glieder des neuen Staates, liegen nicht weniger als 1600 Kilometer, und durch Unionsgebiet getrennt, auseinander. So mag uns auf den ersten Blick ein derartiges Staatsgebilde untragbar erscheinen, um so mehr, als sich die Volksgruppen in Indisch-Westbengalen und Pakistanisch-Ost-bengalen kulturell näherstehen als die Menschen in Karachi und Dacca. Im indischen und im ostpakistanischen Bengalen finden wir, über alle religiösen Gegensätze hinweg, dieselbe Muttersprache, die gleichen Lieder, Trachten und Temperamente. Die Götter aber sind verschieden, und so finden sich die mohammedanischen Ostpaki-stani mit ihren Brüdern im westlichen Pandsch-ab, in Belutschistan und im Sindh trotz aller kulturellen Gegensätze leichter zu einer Einheit zusammen als mit ihren gleichsprachigen, hindu-stanischen Volksgenossen. Der Glaube an Allah genügt dem Moslem, um ihn auch mit Menschen verschiedener Sprachen und recht widersprechenden kulturellen Bräuchen zu einer festen Einheit zusammenzubinden.

Diese unüberbrückbaren, allein aus dem religiösen Bekenntnis resultierenden Gegensätze haben die Briten schon früh erkannt und berücksichtigt. Die aus Hindus und Moslems gebildeten Eingeborenenregimenter der früheren britisch-indischen Armee führten z. B. getrennte Küchen und Mannschaftsräume für die Angehörigen der verschiedenen Bekenntnisse, und nie hätte man einem Moslem vom Koran verbotenes Schweinefleisch vorgesetzt oder dem Hindu zugemutet, Fleisch von der für ihn heiligen Kuh Zu essen. Und niemals hätte sich ein britischer Offizier erlaubt, etwa eine Brahmanenküche zu inspizieren oder den Schlafraum der Moslems zur Nachtzeit zu betreten. Solange die Briten das Vereinigte Britisch-Indien regierten, haben sie die verschiedenen religiösen und kulturellen Eigenheiten aller Volksgruppen respektiert. Das war eines der Geheimnisse, die es Großbritannien ermöglichten, ein gigantisches Kolonialreich zu schaffen und mit einem Mindestaufwand an Macht zu halten. In Indien verstanden sie es zudem meisterhaft, die unauslöschbare Feindschaft der beiden großen Religionsgruppen der Hindus und Moslems für die Festigung der eigenen Macht auszuspielen, getreu dem Wort, „wo zwei sich streiten ...“.

Die Pakistani sind eine noch junge Nation und der neue Staat steckt nach erst acht Jahren seit der Gründung noch in den Kinderschuhen. Er ist in einer schnellwüchsigen Entwicklung begriffen und naturgemäß auch gegen gelegentliche Erschütterungen noch nicht gefeit. Aber bei dem unbefangenen Beobachter erweckt diese junge Nation doch den Eindruck einer bemerkenswerten Einheit und einer unerwarteten Festigkeit.

Dennoch fällt es einem — von Indien nach Karachi kommend — nicht leicht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir hier die Metropole einer anderen Nation vor Augen haben. Die Menschen — Beamte, Gepäckträger, Taxifahrer, Hotelangestellte — und das ganze äußere Gesicht dieser neuen Hauptstadt erinnern an Bombay, Kalkutta, an Delhi oder irgendeine andere indische Stadt. Vielleicht fällt uns auf, daß die Männer hier eine Mütze aus Ziegenfell tragen an Stelle der weißen Gandhi-Kappe in Indien. Aber der Frühstückstee wird uns mit demselben Morgengruß vorgesetzt wie in irgendeinem indischen Hotel; der Ventilator an der Decke singt das gleiche Lied wie sein Bruder in Bombay und in der Luft hängt derselbe Geruch von Meertang und feucht-schwüler Hitze. Wie in Bombay oder Kalkutta begegnen wir in den Straßen der pakistanischen Metropole den hochrädrigen Karren, neben den modernsten, chromglitzernden Autos amerikanischer Provenienz und den lautlos dahingleitenden Velo-Rikschas.

Trotz diesem äußerlich vertrauten Bild aber vermerkt der Reisende schon nach wenigen Stunden eine ganz andere Welt; hier herrschen nicht mehr die unzähligen Götter Indiens, und wir vermissen die vielfältigen Auswirkungen der in den 300.000 indischen Kasten geschlossenen sozialen Gruppen. Wir stehen staunend vor einer völlig andersartigen Einstellung zu den geistigen Werten des Lebens. In geistigen Belangen stehen wir in Karachi plötzlich einer uniformierten Einheit gegenüber, die bereits auch auf die sich mehr und mehr ausgleichenden kulturellen Verschiedenheiten der pakistanischen Nation abfärbt und durch die starre Dogmatik mohammedanischen Lebens bestimmt wird.

Diese unter der Oberfläche völlig andere Geistes- und Gefühlswelt findet ihre Bestätigung in einem vom Indischen völlig abweichenden Sprachbild. Pakistan hat Urdu zur Nationalsprache erklärt und über die mannigfaltigen Dialekte sozusagen zur Schriftsprache erhoben. Im gesprochenen Wort zwar weicht Urdu kaum vom Hindustani ab, das die Umgangssprache des nördlichen Indiens bildet. Wortschatz, Satzbildungen und Aussprache beider Sprachen weisen nur selten Abweichungen auf. Der grundsätzliche Unterschied dieser beiden Welten zeigt sich erst bei der Betrachtung des geschriebenen Wortes; schon die einzelnen Schriftzeichen der pakistanischen Staatssprache sind von denjenigen des Hindustani so grundverschieden, wie etwa das cyrillische von der lateinischen Schrift. Fast symbolisch aber wirkt die Schreibweise: während Hindustani, wie die germanischen und lateinischen Sprachen, von links nach rechts geschrieben wird, schreibt sich Urdu von rechts nach links!

Karachi — „Land der Sanddünen“ tauften zu Anfang des 18. Jahrhunderts eine Handvoll Kaufleüte ihre Siedlung, als sie sich am Nordwestrand des Indusdeltas erstmals niederließen. Heute ist Karachi nicht nur Hauptstadt einer neuen Nation, sondern auch der drittgrößte Scehandelshafen Vorderindiens und mit seinem modernen Flughafen Angelpunkt des internationalen Flugverkehrs zwischen Europa und dem südlichen Asien, Etappenort auf dem Luftwege nach Australien.

Die pakistanische Hauptstadt befindet sich in einer Periode rapiden Wachstums und einer immer zunehmenden Bedeutung. Mit nur 370.000 Einwohnern war Karachi zur Zeit der Staatsgründung — 1947 — noch eine verhältnismäßig kleine Hafenstadt, wenn auch dem Hafen, als Umschlagplatz für die indischen Nordprovinzen, bereits damals schon eine große Bedeutung zukam. Seither aber hat es sich in amerikanischem Tempo zu einer der größten Städte des indischen Subkontinents entwickelt und ist heute mit 1,4 Millionen Bewohnern im Begriffe, die Größe Kalkuttas zu überflügeln und die Einwohnerziffer Bombays bald zu erreichen.

Schon um die Jahrhundertwende galt das ..Land der Sanddünen“ als eine ausnehmend schöne Stadt. Heute bemüht es sich, diesen Ruf zu bewahren. Moderne Geschäftshäuser, elegante Hotels und Lichtspieltheater umsäumen in der „City“ breite, mit dem Lineal gezogene Straßen und ein ganz neues, imponierendes Viertel mit dem prunkvollen Parlamentsgebäude und den nach neuesten Prinzipien errichteten Bauten der Ministerien und staatlichen Verwaltungen ist der Stolz der Pakistani. Die immer wachsenden neuen Wohnsiedlungen in den Außenquartieren und der näheren Umgebung dürfen sich ohne weiteres neben der modernen Wohnkultur des Westens sehen lassen. Eisschränke, Klimaanlagen, Staubsauger, Mixer und sonstige Errungenschaften unseres Zeitalters sind auch in Karachi keine Weltwunder mehr.

Nach der Konstitution des neuen Staates fiel Karachi als Umschlaghafen für die Versorgung Nordindiens aus und stellte damit Neu-Delhi vor schwierige und einschneidende Probleme, die auch durch die Umleitung über Bombay nicht gelöst wurden. Trotz diesem Ausfall der nordindischen Umschlaggüter ging das Ladevolumen im Hafen Karachis nur vorübergehend leicht zurück; schon nach wenigen Monaten war der Stand von 1946 wieder erreicht und seither sogar überholt. Der weitere Ausbau der Hafenanlagen und Docks zeigt die zunehmende Bedeutung und mag auch als Beweis für die wirtschaftliche Entwicklung dienen.

Wenn — im ganzen gesehen — der Start dieser jungen Nation ein erfreuliches Bild zeigt, so bleiben ihr dennoch Sorgen verschiedener Art nicht erspart. Es ist ganz natürlich, daß die Organisation und Festigung des Verwaltungsapparate*, der wirtschaftliche Aufbau, Innenund außenpolitische Forderungen die Staatsmänner in Karachi vor schwierige Probleme stellen. Wie sich die im Oktober vollzogene Neuregelung der Verwaltung durch Zusammenzug der bisherigen Provinzen zu nur einer West- und einer Ostprovinz bewähren wird, läßt sich kaum beurteilen. Die Person des im August neuernannten Ministerpräsidenten bietet eine gewisse Gewähr für ein tatkräftiges Durchgreifen, und die seit Oktober amtierende erste Regierung Westpakistans unter Dr. Khan Sahib erscheint als starke Stütze der Zentralregierung. Mit dieser verwaltungstechnischen Neuregelung im Sinne einer Stärkung der Zentralmacht Karachis fiel die große Flutkatastrophe im Palidsch-ab zusammen. Die Ueberflutung eines Gebietes von über 15.000 Quadratkilometer, durch die Tausende von Todesopfern zu beklagen und Zehntausende von Flüchtlingen zu retten und zu versorgen waren, bedeutete für die neuen Männer an der Spitze des Staates eine Bewährungsprobe, die sie mit Initiative und viel Geschick bestanden haben. Die sofort einsetzenden Rettungsaktionen und minutiös organisierte Versorgung des Ueberschwemmungsgebietes durch die pakistanische Luftwaffe haben der neuen Regierung große Sympathien erworben und die Stimmung für organisatorische Neuerungen aufnahmefähiger gemacht.

Durch die kürzlich mit Nachdruck wiederholte Forderung Pakistans auf Abtretung Kaschmirs und durch offiziöse Sympathiebezeugungen gegenüber den Portugiesen -in Goa erfahren die von Anfang an sozusagen erblich belasteten Beziehungen zur indischen Republik keine Verbesserung. Es hat jedoch den Anschein, daß diese aggressiven Verlautbarungen nicht auf einen ernsthaften Konflikt hinzielen, sondern eher als diplomatische Trumpfkarte zu werten sind, um einige Vorteile in den Wirtschaftsverhandlungen mit Neu-Delhi einzuhandeln. Tatsächlich ist Pakistan an einer Zunahme des Außenhandels mit dem großen Nachbarn stark interessiert, und die im vergangenen August durchgeführte Abwertung der pakistanischen Rupie bietet hierfür weitaus bessere Aussichten.

Ein Umschwung in der bisher stark antiindischen Stimmung Karachis ist in den letzten Wochen in der Hauptstadt am Indusdelta spür-

WIR BITTEN, Artikelsendungen für die „Furche“ nicht an bestimmte Mitglieder der Redaktion, sondern ausnahmslos „an die Redaktion“ zu richten. Unaufgefordert einlangende Manuskripte können nur rückgesandt werden, wenn ihnen das volle Retour-poito beiliegt. Sprechstunden der Redaktion: täglich, ausgenommen Dienstag, von 10.30 bis 12.30 Uhr.bar geworden, und in Gesprächen mit höheren und hohen Beamten, mit Politikern und mit dem einfachen Mann lassen sich seit einiger Zeit freundlichere Töne und eine mäßigere Einstellung gegenüber den indischen Problemen heraushören.

Mit einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Karachi und Neu-Delhi und in einer Aera freundnachbarlicher Zusammenarbeit würde eine der schwersten und hemmendsten Belastungen für die junge Nation hinwegfallen und wertvolle Kräfte für den weiteren Aufbau des pakistanischen Staatswesens frei werden.

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