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Die Republik „Fünfeinhalb“

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Ist das Schicksal der traditionellen Parteien in Frankreich besiegelt, oder brauchen sie de Gaulle bloß zu überleben, um den vorübergehend außer Kraft gesetzten Axiomen ihres Systems neue Geltung verschaffen zu können?

Die Antwort auf diese Fragen müßte lieh eigentlich aus der sorgfältigen Analyse der Wahlergebnisse ableiten lassen; einer Analyse, die allerdings nach einem halben Jahr noch nicht sehr weit fortgeschritten scheint. Welcher Sinn dem gaullistischen Sieg beigelegt werden muß, bleibt noch immer höchst unklar. Es hat sich dies auf recht komische Art bei der Erstellung der Sitzordnung im Palais Bourbon gezeigt, der sich die jungen Elemente des Gaullismus mit einer glühenden politischen Metaphysik gewidmet

haben, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.

Die UNR-Fraktion, die sich als Repräsentantin der breiten französischen Mitte verstehen möchte, belegte nach bitteren Diskussionen das Zentrum und die vordersten Bänke vom linken bis zum rechten Flügel des Halbrunds, während die oppositionellen Gruppen auf die hinteren Bänke des linken und rechten Flügels verteilt wurden. Links des gaullistischen „Kamins“ befinden sich nebeneinander die Kommunisten und die Sozialisten; rechts davon, von unten nach oben angeordnet, die Unabhängigen Republikaner (unter Finanzminister Gis-card d'Estaing), das Demokratische Zentrum (zusammengesetzt aus den Volksrepubikanern und den Trümmern des Unabhängigen Zentrums) und die demokratische Sammlung (zusammengesetzt aus den früheren Radikalsozialisten und der Demokratischen Linken).

Debres weise Aufgabe

Diese Sitzverteilung kann jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der gaullistische Sieg allein auf Kosten des Zentrums und der Rechten gegangen ist. Zum erstenmal

Kein Weg zurück

Immerhin könnte es dem Gaullismus gelungen sein, den diffusen politischen Reformbedürfnissen in Frankreich durch die Verfassungsrevision und die Einführung der Volkswahl des Staatspräsidenten eine Form gegeben zu haben, die den gegenwärtigen Staatschef überdauern mag. Eine Rückkehr zum parlamentarischen System der IV. Republik scheint heute tatsächlich bereits ausgeschlossen. Aber anderseits ist in politischen Kreisen sehr häufig die Auffassung zu hören, die geltende Verfassung sei nicht mehr als eine neue, an einen bestimmten Staatschef und eine bestimmte Situation gebundene Übergangslösung. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Republik Nummer fünfeinhalb und entwirft im Geist die sechste. Die außerordentliche Ballung von Macht in den Händen des Staatspräsidenten hat Be-

seit der Liberation hat sich die Masse bürgerlich-konservativer Wähler, die bisher zwischen Volksrepublikanern, der früheren gaullistischen Sammlungsbewegung des französischen Volkes und der unabhängigen Rechtspartei umherirrten, in einer politischen Bewegung gesammelt; präziser gesagt: um eine politische Persönlichkeit. Das Verschwinden der Unterschiede zwischen radikalen und konservativen Impulsen verschafft nun der UNR die Chance, die große Rechtspartei Frankreichs nach angelsächsischem Vorbild zu werden. Aber dazu müßte sie sich eine Struktur geben, die diesen losen Clan von Jasagern in eine echte politische Organisation umwandelt, deren Existenz nicht vom Leben eines einzigen Mannes abhängig ist. Mit dieser

Aufgabe scheint sich der frühere Premierminister Debre nach dem etwas peinlichen Umweg über die Insel Re-union beschäftigen müssen.

Das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität war gewiß das ausschlaggebende Motiv für die gaullistischen Wähler. Ferner hat das unabsehbare Debakel der Politiker diese Kaste in Frankreich derart in Verruf gebracht, daß der Mann von der Straße aufatmend die Gelegenheit ergriff, endlich einmal einen Mann wählen zu können, „der keine Politik macht“. Das sind die Gründe, die zur Definition des Gaullismus als „eine innere Entpolitisierung plus eine Außenpolitik“ geführt haben. Aber anderseits ist nicht zu übersehen, daß manche Wähler den Staatschef aui einem echten Bestreben nach politischer Erneuerung unterstützt haben. Es bleibt jedoch dunkel, welche konkreten Vorstellungen sich hinter diesem vagen Impuls verbergen, denn de Gaulle hat zu keiner Frage irgendein präzises Programm vorgelegt. Selbst das Verfassungsreferendum brachte keinen Sachentscheid, weil ja die Wähler hauptsächlich unter der Rücktrittsdrohung de Gaulies handelten.

denken gerufen, die sich weniger auf de Gaulle als auf seine unbekannten Nachfolger beziehen.

Aufwertung der Gewerkschaften

Gerade die soeben abgeschlossene Finanz- und Wirtschaftsdebatte hat gezeigt, daß die Nationalversammlung in völlige Bedeutungslosigkeit abzusinken droht. Eine höchst interessante Meinungssondierung hat kürzlich zum Resultat geführt, daß bloß sieben Prozent, beziehungsweise zwölf Prozent der Befragten bei der Wahrnehmung ihrer Interessen auf die Deputierten und politischen Parteien zählen, währen sich 42 Prozent auf die Gewerkschaften verlassen. Die französische Demokratie ist zweifellos in Bewegung geraten.

Der Schock der Wahlniederlage hatte bei den alten französischen Par-

teien eine Welle bitterer Selbstkritik und einige etwas hysterische Fusionsbestrebungen ausgelöst. Die Zukunft der politischen Parteien ist schon seit langem ein beliebtes Diskussionsthema. Das Schwinden ihrer Mitgliedsbestände — man schätzt die Zahl der Parteimitglieder in Frankreich auf rund 500.000 — wird als Gradmesser für das abflauende Interesse des Publikums genommen. Aber weit davon entfernt, diese Erscheinung kurzerhand als Zeichen der „Entpolitiserung“ in Frankreich zu werten, sehen manche Beobachter darin lediglich einen Wandel der politischen Sitten, der die Parteien ignoriert. Denn im gleichen Zeitpunkt steigt nur das Prestige der Gewerkschaften; auch die politischen Klubs, Zirkel und Forums, wo leidenschaftlich debattiert wird, schießen serienweise aus dem Boden. Diese mehr als hundert Gruppierungen sammeln keine Freunde des gegenwärtigen Regimes, sie sind aber auch keine Anhängerinnen der IV. Republik. Ihr Verhältnis zu den „Parteibonzen“ ist distanziert, und ihre Absichten zielen

weniger auf die Rekrutierung von Mitgliedern und die Entwicklung politischer Programme als auf die Erarbeitung neuer und zeitgemäßer Zugänge zur Politik ab. Es sind verschiedene Annäherungsbestrebungen unter ihnen im Gang.

Das „Verbindungskomitee der Demokraten“

Vielleicht die wichtigste Gründung in diesem Zusammenhang ist das „Verbindungskomitee der Demokraten“, das sich aus unabhängigen Persönlichkeiten und Vertretern aller Parteien — mit Ausnahme der Gaullisten und Kommunisten — zusammensetzt; darunter der frühere Finanzminister Baumgartner, Raymond Aron und ander. Kein Geringerer als der Volksrepublikaner Pierre Pflimlin, der Radikale Maurice Faure, der Unabhängige Antoine Pinay und Jean Monnet haben dabei Gevatter gestanden. Das Komitee hat sich vorgenommen, „die als unentbehrlich betrachteten Kontakte zwischen den Angehörigen der Parteien des Zentrums und der Linken, sowie der Gewerkschaften und Berufsorganisationen herzustellen; diese Männer werden die Probleme von nationalem Interesse studieren und bestrebt sein, eine Doktrin der erneuerten Demokratie zu entwickeln“.

Die „erneuerte Demokratie“

Derartige Kontakte tun gewiß not, denn die Vorstellungen über die „erneuerte Demokratie“ gehen erheblich auseinander; im Hinblick auf die Neuwahl des Staatspräsidenten 1965 scheint sich sogar Ratlosigkeit breitzumachen. Die dem Gaullismus be-

nachbarten Parteien der Rechten und des Zentrums neigen offenbar zu der These, daß die UNR den General nicht werde überleben können. Nach dieser Auffassung käme es darauf an, ihre Erbschaft anzutreten, indem man dem Wähler eine Art „Aftergaullismus“

proponiert, der den Geist seines Schöpfers zu wahren verspricht. Diese Taktik verbietet jedoch eine strikte Opposition gegen de Gaulle und erschwert damit jede Allianz mit den sozialistischen Gruppen, von denen sich die Volksrepublikaner noch immer angesprochen fühlen. Daran dürfte die Schaffung eines „dritten Blocks“ zwischen den Gaullisten und Kommunisten scheitern.

Sozialisten: zwischen den Stühlen?

Nicht weniger heikel und unbestimmt ist die Position der Sozialisten; dies ergibt sich schon aus dem Modus für die Wahl des Staatspräsidenten. Wenn man aber dem zu wählenden Staatschef eine absolute Mehrheit sichern will, wird sich die Konkurrenz im zweiten Wahlgang auf zwei Kandidaten beschränken müssen — von denen der eine mit Sicherheit Kommunist ist. In dieser Situation werden die Sozialisten bis auf absehbare Zeit stets zwischen zwei Stühlen zu sitzen kommen. Einmal mehr sehen sich daher die französischen Sozialisten vor der delikaten Frage, ob sie die Kommunisten aus ihrem verbohrten Winkel herausholen und sich mit ihnen verbünden, oder ob sie sich mit den Parteien des Zentrums zusammentun sollen. Dabei bliebe noch abzuwarten, welche Beweglichkeit die Kommunistische Partei in dieser Operation entwickeln könnte. Eine Reihe von Parteitagen wird vielleicht in naher Zukunft auf einen Teil dieser Fragen Antwort geben. Bis dahin besteht unter den französischen Parteien allein in der Gewißheit Übereinstimmung, daß verschiedene unter ihnen verschwinden müssen: nämlich die anderen.

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